Georg Friedrich Händel: 'Rinaldo'
Thema heute: die neue Einspielung einer berühmten, seinerzeit erfolgreichen, heute aber nur selten gespielten Barockoper. * Musikbeispiel: G.F. Händel - aus: "Rinaldo" Sandsturm, Blitz und Donner und feindlicher Abwehr zum Trotz – die instrumentale Heerschar schreitet voran. Il Mago, der geheime Agent, hat den Zauber der Feinde verraten, der Blick auf Jerusalem ist wieder frei und Goffredo, Eustazio und in Bälde auch Almirena und Kriegsheld Rinaldo ziehen, so scheint es, frohgemut in die unvermeidliche Schlacht um die heilige Stadt. Programm-musikalisches Abbild eines archaischen Kriegs. Der Ort: die arabische Wüste, das Jahr 1098. Uraufgeführt 1711 unter dem Titel "Rinaldo" – Georg Friedrich Händels erster großer Opernerfolg in London – eine Sternstunde für die italienische Oper in der damaligen Hauptstadt der westlichen Welt. Die dreiaktige opera seria hat als Sujet ein historisch belegtes Ereignis: den von Gottfried von Bouillon geführten Kreuzzug der Europäer gegen das arabisch regierte Jerusalem, die von drei Weltreligionen beanspruchte Stadt. Co-Librettist Aaron Hill, der sich in seinem Szenario auf das Epos Torquato Tassos bezieht, konzentriert sich auf die privaten Wirrnisse der sechs zentralen Figuren und setzt die Strategien der militärischen Führer zunächst außer Kraft. Armida, die arabische Zauberin, raubt Almirena, die Tochter des europäischen Führers Goffredo, die Rinaldo, der künftige Kriegsheld der Sieger, statt zu kämpfen, viel lieber heiraten will. * Musikbeispiel: G.F. Händel - aus: "Rinaldo" Miah Persson als Almirena, Inga Kalna als Armida und Vivica Genaux in der Titelpartie – begleitet vom Freiburger Barockorchester: die nunmehr vierte Gesamtaufnahme von Händels Oper "Rinaldo" in der Geschichte der Musikindustrie. Dirigent René Jacobs hat lange gewartet, ehe er sich an Händels heute selten gespieltes Frühwerk herangewagt hat. Für den Spezialisten Alter Musik gilt das Erfolgsstück von einst als ’Zauber-Oper’ – was sich in erster Linie auf technische wie musikdramatische Gestaltungs-Elemente einstiger Aufführungspraxis bezieht und den Dirigenten bewog, im Continuo-Bereich und mit Effektmaschinen farbreich und phantasievoll zu variieren. Booklet-Autor Reinhard Strohm dagegen verweist auf die politische Komponente des Werks. Dabei vertritt er eine auffällig einseitige Sicht. Wohl attestiert er den (wie er schreibt) "Muslimen" der Oper durchaus Heroismus, jedoch diene dieser ausschließlich zum Zwecke der Täuschung; den Arien Rinaldos und Almirenas dagegen entlauscht er Aufrichtigkeit und – Zitat: – den "lyrischen Schmelz der Unschuld". Solch Urteil ist musikologischer Undfung und klingt reichlich tagespolitisch gefärbt – aber fehlkalkuliert. Denn im weiteren Fortgang entpuppt sich Händels Opus als frappierend pazifistisch, als Antikriegsstück par excellence. Argante, der arabische Kriegsherr, verliebt sich nämlich in die entführte Tochter seines Todfeinds Goffredo. Armida, die Zauberin aus Damaskus, bietet dem gefangen genommenen Rinaldo sogar an, den Kampf zu beenden, die Panzer zu öffnen und den Herzen zu folgen: Politik, Ruhm und Ehre durch Liebe, Gefühl und allgemeine Friedfertigkeit zu ersetzen. René Jacobs allerdings deutet und dirigiert das Duett Armidas mit Rinaldo im 2. Akt als ein Duell. Der utopische Drehpunkt der Oper wird somit uminterpretiert: von der Vision einer moralischen Chance zum Vorgriff auf die im Rahmen der Oper nicht mehr zu stoppende Schlacht um die Stadt. * Musikbeispiel: G.F. Händel - aus: "Rinaldo" Armida (Inga Kalna) und Rinaldo (Vivica Genaux) vor der Alternative zwischen Partei- und Kulturgrenzen überschreitender Liebe oder einseitig gewinnbarem Krieg. Ob der ideologischen Positionierung, deren Einfluss auf die musikalische Deutung, Dramaturgie und Interpretation der Aufnahme am Detail unüberhörbar ist, ist diese brandneue Einspielung von Händels "Rinaldo" moralisch zwar fragwürdig, rein artifiziell aber nicht wertlos. Sie versammelt eine Reihe noch junger Opernstimmen mit Zukunft; ihr obliegt ein Maß an Dramatik, wie es CD-Produktionen lange Zeit fehlte; ihr musikalischer Reichtum an Farben – besonders deutlich beim Aufeinanderprall exotischer Kriegsmusik und abgründiger Klagegesänge – spricht an. Verschenkt dagegen wirkt die Geschlechterdramaturgie: der Held in Frauengestalt, das bleibt ohne Folgen. Auch die Wahl einer beinah klassischen Opernheroine für die Figur der Armida ist eine Entscheidung für sich. Am zweifellos heiteren Ende sind die dafür Vorgesehenen niedergerungen, die Richtigen haben in Schwarz-Weiß-Manier tapfer gesiegt. In geradezu Webernscher Punktualität klingt die Schluss-Szenerie. Rinaldo wird die Hochzeit mit Almirena erlaubt, Armida erbittet die Taufe und nimmt Argante mit auf ihren eigenen Thron – und wohin gehen Goffredo, Eustanzio und Il Mago. Das Rad der Geschichte rollt weiter, die Konfrontation der Kulturen wird fortgesetzt und weiter geschürt bis zum heutigen Tag. * Musikbeispiel: G.F. Händel - aus: "Rinaldo" Soweit Händels Oper "Rinaldo" – in einer Neueinspielung mit Vivica Genaux in der Titelpartie und dem Freiburger Barockorchester unter der Leitung von René Jacobs. Die Dreier-CD ist beim Label Harmonia Mundi erschienen und seit Anfang April im Handel.