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George Santayana
Ein skeptischer Realist

Der vor 150 Jahren geborene Philosoph George Santayana wurde mit seiner poetischen Denkhaltung weit über die USA hinaus berühmt. In funkelnden Aperçus streute er Weisheiten in die Welt, die heute viele nachsprechen, ohne den Urheber zu kennen.

Von Christian Linder |
    Als der amerikanische Lyriker Robert Lowell sein Gedicht "For George Santayana" vortrug, war dies ein markantes Zeichen dafür, wie sehr der aus dem alten Europa stammende, am 16. Dezember 1863 in Madrid als Jorge Augustin Nicolás Ruiz de Santayana geborene Philosoph und Schriftsteller in der intellektuellen Szene der neuen Welt nicht nur verehrt, sondern auch geliebt wurde. Nach der Scheidung der Eltern zusammen mit seiner Mutter 1872 nach Amerika ausgewandert, erhielt der Neunjährige den amerikanisierten Vornamen George. Amerikanischer Staatsbürger ist George Santayana allerdings nie geworden, auch nicht, als er einer der angesehensten Gelehrten Amerikas geworden war, Professor in Harvard, Autor so epochemachender Bücher wie "The Sense of Beauty", seine 1896 erschienenen Studien über Ästhetik, und "The Life of Reasons", fünf zwischen 1905 und 1906 erschienene Bände, die als sein Hauptwerk gelten.
    Aber nicht so sehr dem Erbauer einer metaphysischen Systematik galt Robert Lowells Gedicht "For George Santayana", sondern dem Schriftsteller als Kollegen, der in funkelnden Aperçus seine Weisheiten verstreute, die heute viele nachsprechen, ohne den Urheber zu kennen:
    "Wenn man sich nicht an die Vergangenheit erinnern kann, ist man verurteilt, sie zu wiederholen. Die Theorie hilft uns, unsere Unkenntnis der Fakten zu ertragen. Die Gewohnheit ist stärker als die Vernunft."
    Hinter der Eleganz von Santayanas Stil war zugleich eine Magie spürbar, die nach einer Beobachtung Somerset Maughams bewirkte, dass die Hörer von Santayanas Vorlesungen manchmal "über dem Auskosten der Sprachdetails nicht zum Vollzug des Gedankens" kamen. Dieses Gedankengebäude gründete auf der antiken Philosophie, die Santayana während seiner Studienzeit in Berlin erforscht hatte. Neben Plato und Aristoteles las er auch Goethe, Hegel, Schopenhauer und Nietzsche, wobei ihm allerdings, wie der deutsche Schriftsteller Ludwig Marcuse in einer Analyse herausgearbeitet hat, griechische Klarheit, Kühle und Heiterkeit "näher waren als das deutsche Pathos für eine zweite Schöpfung der Welt durch das souveräne Ich". So sei selbst Goethe ihm noch als "ein Ich-besessener Romantiker" erschienen. Diese Glorifizierung des Ichs, zitierte Marcuse aus Santayanas während des Ersten Weltkriegs erschienenem Buch "Egotism in Germany", mache "die Welt zum Gespenst" und merke gar nicht, wie sehr solche Gesetze eines ethischen Ichs zufällige, zeitgebundene Maxime seien, "mit deren Hilfe wild gewordene Generäle sich die Autorität des kategorischen Imperativs" anmaßten.
    Durch seine eigene Denkhaltung eines skeptischen Realismus weit über Amerika hinaus berühmt geworden, nutzte George Santayana auf dem Höhepunkt dieses Ruhms 1912 eine Erbschaft, um als Privatgelehrter und Schriftsteller zu leben, wieder im alten Europa, hauptsächlich in Paris, London und Rom. Froh, seine spanische Staatsbürgerschaft nie aufgegeben zu haben, reiste er auch immer wieder nach Spanien, nach Ávila, wo er seine Kindheitsjahre verbracht hatte:
    "Ávila in seinem weiten Stromtal, mit den Straßen, die von flüsternden Pappeln gesäumt sind und mit den Hirtenfeldern, die bei Nacht von den nahen Bergen flimmern wie niedergehende Sterne."
    Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wohnte Santayana bis zu seinem Tod im September 1952 in Rom, im "Kloster der blauen Nonnen". Er gab sich in der Tradition seiner spanischen Heimat nach außen hin sehr auffällig als Katholik, obwohl er nach einem Bonmot nicht an die Existenz Gottes glaubte, wohl aber hinsichtlich seiner eigenen Herkunft an die Heilige Jungfrau. Die Grundidee aller Philosophie, erklärte er nun Besuchern, bestehe darin, "sterben zu lernen". Vorher hatte er nicht in einem philosophischen Buch, sondern in einem Roman, "Der letzte Puritaner", eine poetische Bilanz gezogen:
    "Das gewohnte Licht unseres Alltags macht uns vielleicht blind für das, was im Dunkel vor sich geht. Die Wurzeln aller Dinge liegen unter dem Erdboden. Möglicherweise lassen wir uns von dem blauen Himmel betrügen."