Schon der Mord an Grigorij Rasputin, einem angeblichen Wunderheiler und engstem Vertrauten des letzten Zaren und dessen Gemahlin, sei mit Hilfe des britischen Geheimdienstes organisiert worden, mokierte sich kürzlich Maria Sacharowa, die Sprecherin des russischen Außenministeriums. Sie wollte Londoner Beschuldigungen an die Adresse Moskaus kontern, wonach dort der Auftrag erteilt worden sei, den russischen Doppelagenten Sergej Skripal in dessen britischem Exil zu vergiften. Großbritanniens Außenpolitik habe sich nie gescheut, ihren Agenten eine "Lizenz zum Töten" auszustellen. James Bond lässt grüßen.
Ein Mord und seine Folgen
Den Mord am sibirischen Wandermönch Rasputin im Dezember 1916, in Sankt Petersburg, damals Petrograd, mitten im Ersten Weltkrieg, nenne sie hier nur als eines von vielen Beispielen traditionell skrupellosen britischen Handelns.
Doch ausgerechnet Sir George William Buchanan, zu jener Zeit, vor mehr als einhundert Jahren, Botschafter des britischen Empire in der Hauptstadt des Russischen Reichs, bewertete schon damals dieses Verbrechen ganz anders:
"Die Ermordung Rasputins war aus patriotischen Gründen geschehen, aber doch ein verhängnisvoller Fehler. Sie bestimmte die Zarin zu noch größerer Starrheit und gab ein verhängnisvolles Beispiel, denn sie lehrte das Volk, seine Gedanken in die Tat umzusetzen. Außerdem erschwerte sie es dem Zaren - selbst wenn er dazu geneigt gewesen wäre - Konzessionen zu machen. Er hätte sich dadurch leicht dem Verdacht ausgesetzt, aus Furcht vor Ermordung nachgegeben zu haben."
Buchanan dürfte wohl kaum bestätigen wollen, dass britische Dienste russischen Verschwörern buchstäblich Schützenhilfe gegen Rasputin geleistet hätten - selbst wenn er als Botschafter in derlei Pläne womöglich eingeweiht gewesen wäre. Immerhin aber macht diese Passage aus seinen 1926 erstmals in deutscher Sprache veröffentlichten und jetzt wieder aufgelegten Erinnerungen deutlich: Den Mord am angeblich deutschfreundlichen Rasputin hielt er aus der Perspektive Großbritanniens, dem Entente-Verbündeten Russlands im Krieg gegen Deutschland und Österreich-Ungarn, für eindeutig kontraproduktiv. Denn die ohnehin bereits erodierende Autorität und Macht des Zaren Nikolaj II. im Inneren seines Imperiums begann von nun an noch schneller zu verfallen. Und, erinnert sich Buchanan:
"Noch merkwürdiger ist, dass Rasputin der Zarin einstens sagte, sein Schicksal sei mit dem der kaiserlichen Familie unlöslich verbunden. - Er war noch nicht drei Monate tot, als das Zarenreich zusammenbrach..."
Ein gut vernetzter Diplomat
Buchanan erscheint als präzise registrierender, Anteil nehmender Beobachter aller politisch relevanten Vorgänge in seinem Gastland. Auch jene Erfahrungen und Eindrücke, die er als junger Diplomat zuvor auf Posten in Deutschland, in Österreich und dem bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts krisengeschüttelten Balkan gesammelt hat, lässt er in seinen Memoiren als stellenweise faszinierende Episoden nach-metternich'scher Geheimdiplomatie nacherleben. All diese Rankünen und Intrigen indes haben später den Ersten Weltkrieg nicht nur nicht verhindert, sondern ihn in ihrer Konsequenz sogar befördert.
Zu Buchanans professionellem Glück und Geschick trug sicher bei, dass er ab 1910 bis Anfang 1918 sowohl am Zarenhof als auch mit Diplomatenkollegen anderer Missionen gut vernetzt gewesen zu sein scheint. Er berichtet von intensiven Kontakten zu Monarchisten wie auch zu Oppositionellen jeder Couleur: Zu konservativen Demokraten, denen erkennbar seine Sympathie gehörte, aber auch zu Liberalen und später ebenso zu den Sozialisten. - Mehrfach betont er seine menschliche Wertschätzung für die Person des Zaren - ohne sich dadurch aber in seinem politischen Urteil über ihn beeinflussen zu lassen:
"Sein Unglück war es, als Autokrat geboren worden zu sein, obgleich er von Natur aus für diese Rolle ganz ungeeignet war. Er regierte Russland niemals selbst und verwirkte das Vertrauen seines Volkes, weil er der regierenden Beamtenschaft erlaubte, seine im Oktobermanifest des Jahres 1905 gemachten Versprechungen bezüglich der Rede- und Versammlungsfreiheit usw. zu übersehen. [...] Der ganze Bau war aus den Fugen geraten und er, der arme Zar, war gewiss nicht dazu geboren, ihn in Ordnung zu bringen."
Erschienen erstmals 1923, ein Jahr vor seinem Tod, und nun wieder aufgelegt, liefert Buchanans "Meine Mission in Russland" scharfsinnige Einsichten zur Vorgeschichte und zum Ablauf der so genannten "Oktober-Revolution". Zugleich entwickelt er erstaunlich präzise Prognosen für die Jahrzehnte nach diesem tiefgreifenden Epochenwechsel.
Ausgewogene Chronik der Kriegs- und Revolutionszeit
Den Eindruck authentischer, unmittelbarer Zeitzeugenschaft verstärkt die sprachlich unveränderte deutsche Fassung dieses Bandes: Selbst wenn heute manch blumige Formulierung zunächst überholt wirkt, sich sogar sperrig lesen mag, strahlt Buchanans Text in Wortwahl und Stil eine rundum anziehende Sprachästhetik aus, deren literarische Wurzeln im vorvergangenen Jahrhundert zu finden sind.
Auch im Verlauf der chaotisch turbulenten Geschehnisse rund um den kommunistischen Oktober-Umsturz erweist sich Buchanan als sachlicher Augen- und Ohrenzeuge, der persönliche politische Antipathien ohne Weiteres zurückzustellen vermag und sogar fähig ist dem ideologischen Gegner - wenn auch widerwillig - Respekt zu erweisen:
"Die Bolschewiken [...] waren eine kompakte Minorität entschlossener Männer, die wussten, was sie wollten und wie es zu erreichen sei. Sie hatten die besten Köpfe auf ihrer Seite und entwickelten mit Hilfe ihrer deutschen Beschützer ein Organisationstalent, das man ihnen anfänglich gar nicht zugetraut hätte. So sehr ich ihre terroristischen Methoden verabscheue und den Ruin und das Elend beklage, das sie über ihr Vaterland gebracht haben, muss ich doch zugeben, dass Lenin und Trotzky ungewöhnliche Männer sind."
Sowohl der Zar als auch die auf ihn nach der Februar-Revolution folgende Provisorische Regierung unter dem gemäßigten Sozialisten Alexander Kerensky sind für Buchanan die Hauptverantwortlichen für die Machtübernahme durch die Bolschewiki:
"Kerenskys Regierung war wie das Zarentum ohne Kampf gefallen. Beide, Kerensky und der Zar, verschlossen ihre Augen gegen die sie bedrohenden Gefahren und beide hatten sich die Situation über den Kopf wachsen lassen, ehe sie Maßnahmen zu ihrem eigenen Schutze ergriffen. [...] Wenn ich für das Zarentum und die provisorische Regierung eine Grabinschrift verfassen müsste, würde ich es mit zwei Worten tun: Versäumte Gelegenheiten."
Illusionslos, doch zugleich mit kritischer Empathie für Russland begleitet Buchanan in atmosphärisch dichten Schilderungen dessen Niedergang. Hier und da auch schonungslos und sarkastisch seziert er die Denk- und Handlungsweisen der damaligen russischen Akteure - kritisiert aber auch Teile der britischen Eliten in ihrem Verhalten gegenüber dem wankenden und fallenden Russland. - Buchanans Memoiren besitzen auch heute noch ihren Stellenwert als eine wichtige Quelle zum Verständnis des Epochenumbruchs vor einhundert Jahren samt dessen Folgen - nicht nur in Russland.
George William Buchanan: "Meine Mission in Russland"
Steidl Verlag, 448 Seiten, 24,00 Euro.
Steidl Verlag, 448 Seiten, 24,00 Euro.