Der Gott des Alten Testaments brauchte sechs Tage, um die Welt zu erschaffen und fürs Erste in Ordnung zu bringen. Der Mensch dagegen wird in eine bestehende Ordnung geboren und hat trotzdem zeitlebens seine liebe Not, immer wieder Struktur in das Chaos zu bringen oder umgekehrt, eine straffe, einengende Struktur aufzureißen. Um dann die nächste zu konstruieren. Gott zählte die Sterne am Himmel, damit keiner fehle. Der Mensch zählt seine Schafe und Kamele, seine Brillen, seine Kalorien. In seiner Ordnungs- und Aufräumwut legt er gern Listen an, die meist nur provisorisch sind.
Der Schriftsteller Georges Perec interessierte sich für alle Arten des Sammelns, des Sortierens - und für das lustvolle Durcheinanderwerfen von Systemen. Er hatte in seinem Arbeitszimmer eine Schublade mit dem Etikett, "Dringend 1", und diese Schublade war leer. In der Schublade "Dringend 2" befanden sich alte Fotos, und "Dringend 3" enthielt neue Hefte.
Perec, der 1936 als Sohn polnisch-jüdischer Eltern geboren wurde und 1982, mit gerade einmal 46 Jahren starb, gehört zu den wichtigsten Autoren der französischen Nachkriegsliteratur. Beeinflusst von Raymond Queneau, war auch Perec ein höchst eigenwilliger Sprach-Experimentator. Legendär ist sein Roman "La Disparation", der ganz ohne den Buchstaben "e" auskommen musste. Perec gelang es, diesen formalen Sprachzwang in ein kühnes Sprachkunststück zu verwandeln, sozusagen in Fesseln zu tanzen. Er schrieb aber auch Bücher mit autobiografischen Bezügen, etwa den Roman "Ein Mann, der schläft": In diesem Monolog eines Studenten geht es um die Erfahrung von Stillstand, Leere und Depression. Ein Text, verbrüdert mit Melvilles Erzählung von Bartleby, dem Mann, der von sich sagte: "Ich möchte lieber nicht". Perecs hellsichtig-halluzinierender Held hat seinen Sinn verloren, wenn er ihn je hatte, und bei seinen ziellosen Streifzügen durch die Stadt zählt er nur noch auf, wie viele Kirchen oder Restaurants er im Vorübergehen sieht.
In den soeben erschienenen Betrachtungen unter dem Titel "Denken/ Ordnen" bedauert Perec, die zeitgenössische Literatur habe bis auf wenige Ausnahmen die Kunst des Aufzählens vergessen: Grund genug für ihn, ein paar komische und dann wieder melancholisch stimmende Sammlungen anzulegen. Ein Kapitel nennt sich vielversprechend "81 Kochkarten für Anfänger." Bereits nach einigen Seiten reichen einem die drei fortgesetzten, variantenarmen Karnickel, - Seezungen- und Kalbsbriesrezepte; aber nur mit diesen drei Gerichten geht es banal-gewissenhaft weiter. Abweichungen? Mal wird ein Schmortopf, mal eine Pfanne benutzt. Mal mehr Pfeffer, mal weniger. Und das dann ganze 81 Mal?! Wer hier weiterliest, auch wenn ihm der höflich-dienernde, sachlich auftretende Irrsinn den Verstand zu rauben droht, wer also weiterliest, gerät in einen Sog. Irrsinn hat ja nicht keinen Sinn! Sondern: Perecs 81 Kochkarten sind eine Art von säkularem Rosenkranz, und nach der Lektüre kann man sich entsprechend geläutert fühlen.
Prosa irgendwo zwischen Essay und Autobiografie
Leser, die ein handlungsreiches, mitreißendes, sinnverheißendes Erzählen gewöhnt sind oder die von dem Titel "Denken/Ordnen" eine übersichtliche Anleitung zur Vernunft erwarten, werden sich die Augen reiben. Das Spezialgebiet von Perec scheint "Kraut und Rüben" zu sein - aber während man noch lacht, schwebt man unversehens über einem Abgrund. Man muss beim Lesen dieses Buchs schon beides sein, sehr gelassen und sehr beherzt. Die Lektüre fordert Mitarbeit über das Gesagte hinaus, aber dann kann sie einem minimale Stromstöße versetzen.
"Denken/ Ordnen": Das sind lauter kleine, abseitige Texte, die Kontroll-Lust und Kontroll-Verlust durchspielen. Lauter Aufzählungen und Abschweifungen, die mal erschöpfen, mal beflügeln. Es gibt nichts, was so einzigartig ist, dass man es nicht in eine Liste aufnehmen könne, sagt Perec, und in dieser Vorstellung liege etwas zugleich tief Erschreckendes und Mitreißendes. So erstellt er hochgemut eine Sammlung exzentrischer Rekorde; oder er erweitert das Feld der Moden: Warum sollte es nicht eine neue Mode werden, zur Abwechslung einmal eine Bankfiliale wie einen Saloon einzurichten? Dann wieder gerät Perec ins Grübeln über die Willkür von Klassifizierungen. Warum wird der Buchstabe A, nur weil er am Anfang steht, so hoch bewertet, warum sollen Zigaretten der Klasse A für bessere Qualität bürgen als die der Klasse B? Im Grunde eine schreiende Ungerechtigkeit.
"Denken/Ordnen": Prosa irgendwo zwischen Essay und Autobiografie, die zwischen 1976 und 1982 verstreut veröffentlicht wurde. Ein zerstreuter Autor; ein verzetteltes, zerflatterndes Schreiben. Das ist als Lob zu verstehen. Oberflächlich betrachtet, bleibt Perec vorsätzlich beim Konkreten, Kleinen, auch Beliebigen - aber es macht eben den Wert und das Wesen seines Schreibens aus, dass er keinen Vorsatz, kein Programm hat. Hier wird nicht am Reißbrett konstruiert. Hier wird nicht ein ein Thema "beherrscht" - bei entsprechenden Büchern bleibt dem Leser oft nicht viel Raum für seine eigensinnige Wahrnehmung. Perec "herrscht" nicht; auf die Frage nach dem "Grund" seines Schreibens sagte er, er könne darauf nur schreibend antworten. Bei dieser Arbeitsweise kommt einem Kleists Brief "Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden" in den Sinn: Häufig versuche man nur, so Kleist, beim Reden Zeit zu gewinnen; man wisse überhaupt nicht, wohin etwas wolle, wo etwas enden werde. Perecs Text-Stücke haben sich den Charakter des Verfertigens bewahrt. Sie wirken mal absurd-pedantisch, dann stotternd, staccatohaft, dann sprunghaft-assoziativ. Kleist teilte in seinem Brief auch die Beobachtung mit: Es kann das Zucken einer Oberlippe sein, das den Umsturz der Ordnung der Dinge bewirkt. Georges Perec hatte einen Schreib-Sinn für derlei Feinheiten. Und wer einen Lese-Sinn dafür entwickelt, wird im Verlauf der Lektüre elektrisiert.
Georges Perec: Denken/ Ordnen. Aus dem Französischen von Eugen Helmlé. Diaphanes-Verlag, 176 Seiten, 12,95 Euro.