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Georgi Gospodinov
Ein Jahrmarkt der Erinnerung

Ein Kind, das sich in Schnecken einfühlen kann, ein Mann, der sich einen Schutzraum gegen die Zeit erfindet - in Georgi Gospodinovs neuem Roman trifft das Nachdenkliche auf das Absurde und das Witzige auf das Traurige. "Physik der Schwermut" ist ein Buch der Anfänge und eines, das von Abschieden erzählt.

Von Insa Wilke | 10.07.2014
    In der deutschsprachigen Literatur bestimmen Autoren wie Sibylle Lewitscharoff und Ilija Trojanow unser Bild von Bulgarien. Beide schauen mit großer Distanz auf das Heimatland ihrer Eltern, Lewitscharoff sogar mit Hass. Auch Georgi Gospodinov, der in Bulgarien geboren wurde und heute in Sofia lebt, beschreibt Bulgarien als den "traurigsten Ort der Welt". Die bulgarische beziehungsweise sowjetische Geschichte bildet aber eher die natürliche Kulisse seines neuen Romans; Gospodinovs Alter Ego ist hier nun einmal wie sein Autor aufgewachsen. Davon erzählt er zum Beispiel so:
    "Eigentlich lässt sich meine ganze Pubertät kurz durch die komplizierte politische Situation der 80er-Jahre beschreiben.
    Ich küsse zum ersten Mal ein Mädchen.
    Breschnew stirbt.
    Der zweite Kuss (ein anderes Mädchen).
    Tschernenko stirbt.
    Der dritte Kuss ...
    Andropow.
    Bringe ich sie um?
    Erster ungeschickter Sex im Park.
    Tschernobyl.
    Es folgt eine lange Periode des Halbzerfalls."
    Wie ein deutscher Dichter einmal sagte: "Das Thema eines Schriftstellers ist nicht das Land, in dem er lebt, sondern das Problem, das er hat." Gospodinovs Problem gibt seinem Roman in der deutschen Übersetzung von Alexander Sitzmann den Titel: "Physik der Schwermut". Mit den vielfältigen Ursachen einer existenziellen und universellen Schwermut setzt sich Gospodinovs Erzähler nämlich auseinander. Eine frühe Ursache ist sein "obsessiv empathisch-somatische Syndrom". Mit anderen Worten: Der Erzähler hat als Kind die Gabe, sich in alles und jeden einfühlen zu können, selbst in die Nacktschnecken, die der Großvater - ein altes Hausmittel - gegen sein Magengeschwür lebendig zu verschlucken pflegte.
    "Mit allem mitzufühlen, gleichzeitig der zu sein, der die Schnecke schluckt, und die verschluckte Schnecke selbst, das Gegessene und der Esser selbst ... Wie sollte er jene kurzen Jahre vergessen, in denen er das konnte."
    Ruhepausen im wilden Strom
    Hier klingt schon an, dass Gospodinovs Erzähler ein Melancholiker ist, aber durchaus ein heiterer. Mit seinem Hang zum Fragment und zum selbstironischen literarischen Spiel mit Fiktion und Autobiografie und einem Erzähler, dem man nicht trauen sollte, mutet er dem Leser einiges zu. Aber das weiß Gospodinov und hat freundlicherweise für Ruhepausen im wild mäandernden Strom seiner eigenen Erinnerungen und den Geschichten ganz anderer Leute gesorgt:
    "Ein Ort zum Innehalten
    Wollen wir hier auf die Seelen der zerstreuten Leser warten. Jemand könnte sich verlaufen haben in den Gängen dieser verschiedenen Zeiten. Sind alle aus dem Krieg zurückgekehrt? Und vom Jahrmarkt im Jahr 1925? Wir haben doch niemanden an der Mühle gelassen? [...] Ich kann keine lineare Erzählung anbieten, weil kein Labyrinth und keine Geschichte linear ist. Sind alle da? Wir brechen auf."
    Es ist ein tiefgründiges Spiel, das Gospodinov treibt: Er versucht, die Zeit zu bannen, indem er eine Lebensgeschichte als die unvollständige Geschichte von vielen schreibt und sich in den "24-Stunden-Dienst" der Weltbeobachtung stellt. Ein Physiker aus Stanford habe nämlich einmal gesagt: "Die Welt hinter unserem Rücken ist eine unbestimmte Quantensuppe", erst, wenn man sich umdrehe und sie anschaue, werde sie zur Realität. - Wer will schon Quantensuppe sein? Selten wurde das Erzählen so plausibel als unbedingt notwendig begründet.
    Allerdings hat es hier auch seinen Haken: Alles wird für den Erzähler wichtig und einige essayistische Einschübe lassen auch die Aufmerksamkeit des Lesers abschweifen. Wer aber wollte das einem Erzähler vorwerfen, der mit seinem Buch eine Zeitkapsel schaffen will - wie jene, die als Voyager Golden Record außerirdische Lebensformen von der menschlichen Existenz berichten soll. In Gospodinovs Kapsel findet sich die betörend traurige Geschichte der verpassten Liebe seines Großvaters mit einer Ungarin in Zeiten des Krieges ebenso wie ein Manifest für Vegetarismus, satirische Auslassungen zum Horror vacui der allgegenwärtigen Begegnungsfloskelfrage "Wie geht's?" und Ansätze zu einer "Grammatik des Alterns". Gospodinovs Erzähler leidet an dem Wissen, dass unsere Existenz schon jetzt ein Nichts ist. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, dieses Nichts als "das Leben in seiner ganzen Fülle" zu würdigen.
    "Dinge, die nicht zum Sammeln taugen
    (Liste des Unbeständigen)
    Käse - beginnt zu miefen
    Äpfel - verschrumpeln, faulen
    Wolken - ändern den Aggregatzustand
    Quittenmarmelade - bekommt eine Schimmelhaut
    Geliebte - altern, verschrumpeln (siehe Äpfel)
    [...]
    Wenn wir einen Strich ziehen, wird sich herausstellen, dass nichts Organisches zum Sammeln taugt. Eine Welt mit ständig ablaufendem Haltbarkeitsdatum. Eine unbeständige, verschrumpelnde, verfaulende, verderbende (und deshalb) herrliche Welt."
    Eigentlich träumt Gospodinov mit seinem lebensvollen Roman über das verlassene Nichts, das wir sind, den uralten Traum der Literatur: Wenn schon das eigene Leben nicht zu ändern ist dann doch wenigstens der Lauf der Welt.
    Georgi Gospodinov: "Physik der Schwermut"
    Aus dem Bulgarischen von Alexander Sitzmann
    Literaturverlag Droschl, Graz - Wien 2014.
    336 Seiten, 23,00 Euro