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Georgien nach der Rosenrevolution

Viele von denen, die im November 2003 gegen die Regierung demonstrierten, sitzen jetzt an den Schaltstellen der Macht in Georgien. Die Erwartungen an die junge Generation sind groß. Doch die hat ein schwieriges Erbe angetreten.

Von Gesine Dornblüth | 02.04.2005
    Alte Lada fahren über den Rustaweli-Prospekt, die Prachtstraße im Zentrum von Tiflis. Die Autofahrer fluchen auf die Marschrutkas, die Kleinbusse, die auf den Wink eines Passanten jäh am Straßenrand halten und den Feierabendverkehr blockieren. Dazwischen rasen auf dem Mittelstreifen verdunkelte Limousinen und neue Geländewagen mit dem Autokennzeichen VIP entlang - sehr wichtige Menschen.

    Rati Amaglobeli kommt zu Fuß zur Verabredung am Parlament. Er fällt nicht auf in der Menge: Ein schmächtiger junger Mann in Jeans und Daunenjacke, die dunklen Haare kurz gescheitelt. Ein bettelnder Junge heftet sich an seine Fersen. Das Gesicht des Kleinen ist verschorft. Hartnäckig zerrt er an Amaglobelis Ärmel, bis der Dichter ihm etwas Kleingeld gibt.

    Revolutionen geschehen nur alle zwei, drei Generationen. Und ich habe eine Revolution miterlebt! Es begann am 2. November mit den Wahlen. Jeder wusste, dass die gefälscht werden würden. Ich habe damals gespürt, dass die Leute auf die Strasse gehen werden; dass sie sich nicht damit abfinden, was in Georgien geschieht. Alle waren gemeinsam gegen Schewardnadse: Die Künstler, die einfachen Leute und die Politiker der Opposition.

    Rati Amaglobeli vergräbt die Fäuste in den Hosentaschen. Tagelang harrte die Menge auf der Strasse aus. Der junge Dichter war immer vorn dabei. Er habe die ganze Zeit ein wenig Angst gehabt, sagt er. Denn schon einmal hatten sich die Georgier hier, vor dem Parlament, gegen das Regime aufgelehnt. Das war 1988/89. Amaglobeli war noch ein Kind und mit seinem Vater auf der Straße. Damals ging es um die Unabhängigkeit Georgiens von der Sowjetunion, und damals endete der Freiheitskampf in einem Blutbad. Beleuchtete Glasplatten im Bürgersteig und in den Stufen vor dem Parlament erinnern an die 17 Todesopfer.

    Das hier ist ein historischer Ort für mich und für ganz Georgien. Ich habe mit meiner Frau zusammen hier demonstriert. Sie war im 8. Monat schwanger. Und ich habe mir große Sorgen gemacht. Es wusste ja niemand, wie die Sache ausgehen würde.

    Doch dann geschah das Unerwartete: Der ehemalige Außenminister der UdSSR und langjährige Präsident Eduard Schewardnadse trat unter dem Druck der Menschenmenge zurück. Es blieb friedlich. Amaglobeli grinst.

    Georgien hat sich an diesem Tag von einem Komplex befreit, es hat zu sich selbst gefunden. Schewardnadzes Rücktritt war der Beginn einer neuen Zeitrechnung. Denn an diesem Tag sind in Georgien die Strukturen der UdSSR zerbrochen. Es ging uns wie Prometheus, der endlich seine Fesseln ablegen konnte.

    Nicht weit vom Parlamentsgebäude entfernt führt eine Treppe hoch zur Kanzlei des Präsidenten. Männer hocken auf den Stufen, einer verkauft Zitronen, ein anderer geröstete Sonnenblumenkerne. Eins von Rati Amaglobelis Gedichten heißt "Vor gar nicht langer Zeit". Es beschreibt das Tiflis der 70er Jahre. Schon damals bestimmte Eduard Schewardnadse die Geschicke der Georgier - als Generalsekretär der Kommunistischen Partei der georgischen Sowjetrepublik.

    ""Vor gar nicht langer Zeit"
    Tiflis. Der Prospekt. Die Rote Partei.
    Für ein Kind sind die Straßen breiter.
    Schuluniformen. Hochglanzhefte aus Moskau.
    Das Wehen glutroter Fahnen.
    Wandkalender. Der erste Mai.
    Feiert den 8. März mit Gebäck und Tee!
    Straßen und Brücken. Verkehr auf den Brücken.
    Vor dem Einsteigen in den Bus hebt bitte den Ausweis!
    Der Abend. Das Fußballstadion dürstet nach Jubelschreien:
    Dynamo Tiflis gegen Guria Lantschchuti."

    Der neue Präsident, Micheil Saakaschwili, hat sein Büro ganz oben, im 11. Stock der Staatskanzlei. Vor dem Gebäude spielen Jungs auf einem Bolzplatz Fußball. Langsam fährt ein Streifenwagen der Polizei vorbei. Glaubt man US-amerikanischen Meinungsforschern, hat Saakaschwili, der mit 96 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt wurde, auch heute noch mehr als die Hälfte der Bevölkerung hinter sich. Auch Amaglobeli steht nach wie vor hinter Saakaschwili. Aus einem einfachen Grund: Alles sei besser als der Stillstand unter Schewardnadse. Kritiklos ist der Dichter deshalb aber nicht.

    Die neue Regierung verzögert die Gerichtsreform. Das sollte sie nicht tun. Außerdem sollten alle Vertreter der Selbstverwaltung gewählt, und nicht vom Präsidenten ernannt werden. Es darf nicht darum gehen, was Saakaschwili allein will, sondern er muss sich nach den Idealen der liberalen Demokratie richten. Die Gesellschaft verfolgt jeden seiner Schritte mit dem Auge eines Zyklopen.

    Die Gesellschaft müsse sich dabei immer weiter entwickeln, sagt Amaglobeli. Das brauche Zeit. Denn die Sowjetunion habe tiefe Spuren hinterlassen - im Denken jedes einzelnen.

    Trägheit. Es ist diese mentale Trägheit. Ich habe ein alter ego in mir, das ist der Sowjetmensch, der will immer nur schlafen, in der Küche sitzen, Tee trinken und nichts tun. Unsere Gesellschaft hat zugelassen, dass ein Mensch wie Schewardnadse so lange regieren konnte. Sie hat ihn praktisch erschaffen. In Europa wäre das nicht möglich gewesen. Wir müssen unsere Gehirnwindungen schrittweise von dem sowjetischen Denken befreien.

    Es ist spät geworden. Amaglobeli muss noch einmal ins Büro. Wie viele Aktivisten der Rosenrevolution, hat er nach dem Machtwechsel einen Job im Staatsapparat bekommen, wurde auf Anhieb Abteilungsleiter im Bildungsministerium. Sein Büro ist spärlich eingerichtet: Linoleumboden, zwei kleine Schreibtische, ein Laptop. Zum Schreiben hat er keine Zeit mehr. Freunde werfen ihm vor, er habe sich von der neuen Regierung kaufen lassen. Amaglobeli sieht das anders.

    Das ist nur vorübergehend. Ich will nicht pathetisch sein, aber ich glaube, ich habe eine Aufgabe. Ich bin es mir selbst, der Gesellschaft und meinem Sohn schuldig, dafür zu sorgen, dass Georgien ein vernünftiges und konkurrenzfähiges Bildungssystem erhält. Das ist mein Opfer. Es fällt mir sehr schwer. Ehrlich. Aber es muß sein.