Georgien droht nach der Parlamentswahl ein Machtkampf: Sowohl das Moskau-freundliche Regierungslager als auch die pro-europäische Opposition beanspruchen den Sieg bei der Parlamentswahl für sich. Die Wahlkommission erklärte die Regierungspartei „Georgischer Traum“ mit rund 54 Prozent der Stimmen zum Sieger, die vier pro-westlichen Oppositionsparteien kamen demnach auf 37,58 Prozent. Die Opposition bezeichnete die offiziellen Ergebnisse als "gefälscht" und will gegen das Wahlergebnis klagen.
Insgesamt waren rund 3,5 Millionen Georgierinnen und Georgier im In- und Ausland zur Stimmabgabe aufgerufen. Die Wahlbeteiligung lag nach vorläufigen Angaben bei rund 59 Prozent - drei Prozentpunkte höher als 2020.
Welche Kritik gibt es an der Wahl?
Internationale Wahlbeobachter sind der Ansicht, dass vor und während der Abstimmung Druck auf die Wahlberechtigten ausgeübt wurde. Der Urnengang sei durch "Ungleichheiten (zwischen den Kandidaten), Druck und Spannungen" gestört worden, urteilten die Wahlbeobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), des Europarats, des Europaparlaments und der NATO in einer gemeinsamen Erklärung.
Salome Surabischwili, die pro-westliche Präsidentin des Landes und Gegnerin des „Georgischen Traumes“, vermutet russischen Einfluss. Es sei nach dem gleichen Muster wie bei Wahlen in Russland gefälscht worden. Das angebliche Resultat bedeute „Georgiens Unterwerfung unter Russland“.
Surabischwili rief zu Massenprotesten auf. Tausende folgten diesem Ruf und versammelten sich am 28.10.2024 vor dem Parlamentsgebäude in der Hauptstadt Tiflis. Zwei Tage später nahm die Staatsanwaltschaft auf Bitten der Zentralen Wahlkommission Ermittlungen wegen angeblicher Wahlfälschung auf und berief Surabischwili zur Befragung ein.
Die Experten beklagten unter anderem Fälle von Einschüchterung der Wähler, Druck auf Behörden, Gewalt gegen Beobachter, Stimmenkauf, Mehrfachabstimmungen und das Stopfen von Wahlzetteln in Urnen. Auswirkungen auf das Ergebnis der Wahl haben diese Feststellungen keine. Die OSZE forderte aber eine Untersuchung.
Auch deutsche Außenpolitiker sprachen von massiven Wahlrechtsverstößen. Der SPD-Bundestagsabgeordnete Frank Schwabe, der als Wahlbeobachter in Georgien war, sagte dem ZDF, insbesondere auf dem Land seien Wählerinnen und Wähler massiv unter Druck gesetzt worden. Diese Umstände hätten „sicherlich zu vielen Stimmen für die Regierungspartei geführt“.
Der SPD-Außenpolitiker Michael Roth ordnete die Parlamentswahl als „weder frei noch fair“ ein. Die Bundesregierung müsse auf Neuwahlen drängen. Das Ergebnis sei ein schwerer Schlag für die Stabilität im Kaukasus, so Roth.
Warum gilt die Wahl als richtungsweisend?
Nicht nur Kritiker der georgischen Regierung sagten vor der Abstimmung: Der Ausgang der Wahl sei entscheidend für die Frage, ob Georgien ein demokratisches Land bleibe und sich weiter Europa annähere oder sich wieder vom Weste entferne. Denn während die pro-westliche Opposition einen europäischen Kurs einschlagen will, steht die Regierungspartei „Georgischer Traum“ für einen nationalkonservativen Kurs und eine politische wie wirtschaftliche Annäherung an Russland.
So wurden zuletzt Gesetze nach russischem Vorbild verabschiedet – etwa die Einschränkung der Rechte von Homosexuellen. Die Regierungspartei ließ "LGBTQ-Propaganda" verbieten, im Ausland geschlossene gleichgeschlechtliche Ehen annullieren und Geschlechtsangleichungen verbieten.
Das sogenannte Agentengesetz löste dann Massenproteste im Land aus. Dabei geht es vordergründig um eine verschärfte Kontrolle der Finanzierung von Nichtregierungsorganisationen aus dem Ausland. Das Gesetz kann aber auch zur Unterdrückung von Opposition und Zivilgesellschaft eingesetzt werden. Nach der Verabschiedung des "Agentengesetzes" im Mai setzte die Europäische Union die Beitrittsverhandlungen mit Georgien vorerst aus. Das Kaukasusland war erst Mitte Dezember 2023 offiziell Beitrittskandidat geworden.
Wofür steht die Partei „Georgischer Traum“?
Gegründet wurde die Partei im Dezember 2011 vom georgischen Milliardär Bidsina Iwanischwili. Der reichste Mann Georgiens steht mit einem vom "Forbes"-Magazin beziffertem Vermögen von rund 4,5 Milliarden Euro auf Platz 693 der reichsten Menschen der Welt. Iwanischwili hat sein Geld in Russland gemacht. Zunächst handelte er mit Computern, später ging er in den Bankensektor.
Jahrelang hielt er sich im Hintergrund, bezahlte den Wiederaufbau von Kulturgebäuden, finanzierte neue Uniformen für die Armee und Ministergehälter in Georgien, und all das, ohne öffentlich darüber zu reden. 2011 aber wechselte er unerwartet in die Politik – und setzte sich 2012 gegen Staatspräsident Micheil Saakaschwili durch. Große Teile der Bevölkerung sahen ihn damals als Retter. Das lag vor allem daran, dass Saakaschwili mit den Jahren immer autoritärer regierte. Die Opposition wurde unterdrückt und die Menschenrechte verletzt.
Längst gibt es auch an Iwanischwilis Partei „Georgischer Traum“ viel Kritik. Das liegt an antidemokratischen Gesetzen, die denen in Russland ähneln und an der Struktur der Regierungspartei. Obwohl sich Iwanischwili Ende 2013 offiziell aus der Politik zurückgezogen hat, steht die Partei weiter komplett unter seiner Kontrolle. Inzwischen ist er ihr Ehrenvorsitzender.
Im Wahlkampf hatte er sich als Garant für Frieden positioniert und eine Verschwörungstheorie über eine mysteriöse "globale Kriegspartei" verbreitet, die westliche Institutionen kontrolliere und Georgien in den russischen Krieg gegen die Ukraine hineinziehen wolle.
Offiziell kein Anti-EU-Kurs
Offiziell vertritt seine Partei keinen Anti-EU-Kurs. Sie behauptet vielmehr, Georgien in Richtung Westen führen zu wollen. Das Land solle möglichst bald der Europäischen Union und in der Zukunft auch der NATO beitreten. Doch immer weniger Georgier glauben das. Ein Grund dafür dürfte auch die Verabschiedung des sogenannten Agentengesetzes sein, mit dem die Regierung angebliche "ausländische Einflussnahme“ kontrollieren will.
Wie kann es nach der Wahl weitergehen?
Premierminister Iraklii Kobachides von der Partei „Georgischer Traum“ sagte im August 2024, die Regierung werde nach der Parlamentswahl versuchen, Teile der Opposition zu verbieten. Nach den Ergebnissen der Wahlkommission könnte seine Partei mit 91 der 150 Sitze im Parlament rechnen. Damit würde sie jedoch die angestrebte Mehrheit von 113 Sitzen verfehlen, mit der sie ein Verbot aller wichtigen Oppositionsparteien per Verfassung durchsetzen wollte.
Zugleich bekräftigte Kobachidse nach der Wahl seinen Willen zum EU-Beitritt. Nach den Spannungen der vergangenen Monate erwarte er einen "Neustart der Beziehungen" mit der EU, ergänzte er.
Opposition: Kampf um den Sieg
Die Opposition aus vier pro-westlichen Allianzen spricht trotz des offiziellen Ergebnisses der Wahlkommission von Betrug und kündigte an, um den Sieg kämpfen zu wollen. Die Blöcke sind zwar untereinander zerstritten, haben als gemeinsamen Nenner aber das Ziel, den 68 Jahre alten Milliardär Iwanischwili loszuwerden und das Land wieder auf einen EU-freundlichen Kurs zu bringen. Ein Aktionsplan der Regierungsgegner werde abgestimmt.
nsh