Georgien ist das zweitälteste christliche Land der Erde, missioniert im Jahr 337 durch Nino, eine syrische Konvertitin. Ihr sind überall im Land Klöster und Kirchen geweiht. Doch als Papst Franziskus 2016 das Land besuchte, war der Empfang der sonst so gastfreundlichen Menschen ausgesprochen kühl. "Wer bin ich, über andere zu urteilen?", sagte Franziskus, als er nach seiner Einstellung gegenüber Homosexuellen gefragt wurde. Ein Oberhaupt, das ein moralisches Urteil verweigert, verunsicherte die georgische Kirchenhierarchie zutiefst.
Skandale und ein Mordversuch
Georgiens Kirche wettert gegen Homosexuelle, was für Distanz der jungen Generation zur Kirche sorgt. Und auch andere Teile der Bevölkerung vertrauen dem Patriarchen nicht mehr. Ilia II., einst in Moskau ausgebildet, ist inzwischen ein schwer kranker, 80-jähriger Mann.
Der Kaukasiologe und Kulturwissenschaftler Oliver Reisner lebt und lehrt seit über 15 Jahren im Land. Der Mittfünfziger von der staatlichen Ilia-Universität in Tbilissi spricht von einem Vertrauensverlust in der georgisch-orthodoxen Kirche:
"Aufgrund dieser Skandale, die in den letzten Monaten und im letzten Jahr ans Tageslicht gekommen sind, dass oft dann Priester oder Bischöfe dann mit solchen schwarzen Toyota-Landcruisers fahren, so wie die politische Elite, mit solchen schwarzen Jeeps mit verdunkelten Fenstern und so was, was so eine Art Statussymbol ist. Oder der sogenannte Zyanit-Fall, wo versucht worden ist, den Patriarchen zu vergiften. Und das ist vielleicht auch einer der Gründe, warum diese Intrigen jetzt, weil sozusagen der Kampf um die Nachfolge schon voll entbrannt ist in den Reihen der Kirche, aber davon dringt oft nur wenig nach draußen."
Skandale und Intrigen haben nach Reisners Meinung auch institutionelle Gründe. Es fehlt Transparenz:
"Es gibt keinen richtigen Kirchenrat oder so, wo dann eben auch die Gemeinde an Entscheidungen beteiligt ist oder so. Also wir haben in Georgien eine politische Kultur, die sehr personalisiert ist. Und das findet man auch in der Kirchenadministration, die auch extrem personalisiert ist. Teilweise machen dann verschiedene Bischöfe ganz verschiedene Dinge. Von daher ist die Kirche kein einheitlicher Körper."
"Totalitäre Modelle der Führung und des Denkens"
Das bestätigt auch Vazha Vardidze. Der schlanke, elegante Mann in hellblauem Hemd und dunkelblauer Hose ist Theologe und Rektor der privaten Theologischen Universität in Tbilissi. Wie viele georgische Intellektuelle spricht der Mittvierziger Deutsch, ringt aber mit den richtigen Worten, wenn er die georgisch-orthodoxe Kirche beschreiben soll:
"Die Kirche, heutige Kirche, in der Sowjetzeit existierte sie überhaupt nicht als eigene, selbständige Institution, sondern erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Stalin ließ gewisse Freiheit, ich würde nicht Freiheit sagen, so ein gewisses Recht zum Existieren - unter starker Kontrolle. Und was wir heute haben, auch strukturell, ist in gewissem Sinne Fortsetzung dieser nach-stalinistischen Kirche. Und die haben auch diese totalitären Modelle der Führung, des Denkens und diese Strukturen übernommen."
Trotzdem gelingt es ihr, sich als Hüterin nationaler Werte zu präsentieren. Viele der 3,1 Millionen Menschen im Land suchen nach den beiden georgisch-russischen Kriegen in den 1990er-Jahren und dem Fünftagekrieg gegen Russland im Jahr 2008 Halt und Trost im Glauben - obwohl die meisten von ihnen sozialistisch aufgewachsen sind und kaum eine Vorstellung davon haben, was Glaube eigentlich ist.
"Die Kirche ist ganz weltlich eingestellt"
Zugleich, und das ist Oliver Reisner besonders wichtig, beriefen sich in jenen Kriegsjahren auch die unterschiedlichsten politischen Eliten auf die Kirche: um ihre Legitimität sozusagen kirchlich absegnen zu lassen. Genau diese Allianz zwischen Kirche und jeweiliger Macht wollte der pro-westliche Präsident Micheil Saakaschwili damals in seiner Amtszeit aufheben:
"Aber natürlich kann er nicht gegen eine Bevölkerung regieren, die das anders sieht. Und die hat sich dann natürlich, je mehr da versucht worden ist, das zu trennen - also zwischen Staat und Kirche -, hat es dann auch zu Gegenreaktionen geführt, dass die Kirche dann Partei bezogen hat für einen Regierungswechsel."
Ein Grund dafür, dass Saakaschwili 2013 abgewählt wurde. Zwar schreibt Georgiens Verfassung die Teilung zwischen Staat und Kirche fest. Trotzdem fürchtet auch die Nachfolgeregierung unter Präsident Giorgi Margwelaschwili die kirchliche Macht, erklärt Vazha Vardidze:
"Wir beobachten in vielen orthodoxen Ländern, die orthodoxe Kirche versucht, Verbindungen mit der Regierung zu nutzen und immer die eigene Position zu stärken. Die Kirche ist ganz weltlich eingestellt in der Realität, sucht Einfluss, sucht Geld. Die Leute sind ohne theologische Bildung, ohne eine gewisse große christliche Erfahrung muss man sagen, weil sehr viele Menschen sind mit ganz fragwürdiger Vergangenheit. Ja, es ist Realität, leider! In der Schule gibt es keinen Religionsunterricht, keine Ethik oder kein ähnliches Fach."
Wenigstens das kann Vazha Vardidze an seiner Universität ändern, weil er dort künftige Religionslehrerinnen und -lehrer ausbildet.
"Glaube ist mehr als religiöser Instinkt"
Auf dem Rustaweli, dem Hauptboulevard von Tbilissi, aber auch unterwegs in Sammeltaxis Richtung Kaukasus fällt immer wieder auf, wie oft sich Menschen bekreuzigen, wenn sie eine Kirche sehen. Vazha Vardidze sagt:
"Diese Menschen glauben sehr stark an Symbolik, an Formen, und denken, dadurch werden sie geschätzt. Und das Problem ist gerade hier, wenn der Mensch nicht von religiösen Instinkt hinauskommt, das ist nicht bewusster und verantwortlicher Glauben. Weil Glaube ist mehr als religiöser Instinkt."
Trotzdem glauben sowohl Oliver Reisner als auch Vazha Vardidze an eine positive Entwicklung der georgisch-orthodoxen Kirche:
"Es ist eine intransparente Institution, aber eine, die sich auch wandeln kann, würde ich mal sagen."
"Wir dürfen nicht alles in Schwarz-Weiß-Farben sehen. In Georgien ist mehr Freiheit als in Russland und die Regierung ist nicht so totalitär. Georgien ist eine weit demokratischere Gesellschaft als Russland und andere post-sowjetische Republiken. Aber was es braucht: Zeit, Zeit!"