Die Räder rattern auf den Schienen, als die U6 durch den Tunnel fährt. Nächster Halt: "Europaplatz". Eine Hand voll Leute steigt aus.
Was wohl die wenigsten von ihnen wissen: Sie haben mit der Stuttgarter Stadtbahn gerade ein still gelegtes wissenschaftliches Experiment durchfahren. In den Wänden des U-Bahntunnels versteckt sich eine Geothermie-Anlage zur Gewinnung von Erdwärme. Anders Berg ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Gebäudeenergetik der Uni Stuttgart: "Wir möchten ja diese Klimaziele erreichen, also den Anteil der fossilen Energieträger mit 80 Prozent zu reduzieren. Die Frage ist, wie machen wir das? Und dann wäre oberflächennahe Geothermie eine Lösung."
Erdwärme ist eine unerschöpfliche Energiequelle. Sie anzuzapfen ist aber teuer. Um ein möglichst hohes Temperaturgefälle zu erreichen, muss man über 100 Meter tief in die Erde bohren. Billiger wäre es Geothermie dort einzusetzen, wo man sowieso in die Erde gräbt – wie beim Bau eines Stadtbahn- oder Autotunnels. Mit der Testanlage, die 2010 in Stuttgart in Betrieb ging, wollten die Ingenieure der Universität Stuttgart das Potential von solchen städtischen Geothermie-Tunneln ausloten.
Herausforderung geringe Tiefe
"Die Frage, die wir uns stellen ist, wie ändern sich jetzt die Bedingungen, wenn wir einen längeren Tunnel haben oder einen anderen Typ von Tunnel, oder einen anderen Abnehmer? Also wir wollten schauen welche verschiedenen Parameter beeinflussen unsere Anlage und wie stark?"
Beispiele wie die Geothermie-Anlage im Schweizer Gotthard-Tunnel zeigen, dass der Ansatz funktioniert, wenn die Anlage viele hundert Meter unter dem Berg liegt. Die meisten Tunnel sind allerdings nur wenige Meter unter der Erde. Die Versuchsdaten, die Anders Berg und seine Kollegen zwischen 2010 und 2015 im Stadtbahntunnel erhoben haben, belegen: eine Geothermie-Anlage kann trotzdem Sinn machen. Im Vergleich zu Tiefenbohrungen wird zwar weniger Energie gewonnen, die ungleich geringeren Kosten machen den Betrieb aber in vielen Fällen lohnenswert. Vorausgesetzt, die Rahmenbedingungen stimmen.
Am anderen Ende von Stuttgart liegt die Stadtbahn-Haltestelle "Wilhelma". Auch hier wird ein Tunnel gebaut. "Ja also wir sind hier am Neckarknie beim Zoologisch-Botanischen Garten, der Wilhelma. Und hier entsteht der neue B10 Rosensteintunnel unter dem Rosensteinpark." Christian Buch, der Leiter des Bauprojektes, steht in Warnweste und Gummistiefeln zwischen Baggern und guckt zufrieden.
"Sieht nach Baustelle aus... recht chaotisch. Wassertanks, Krananlagen und Staub..." Gebaut wird, um chronisch vom Verkehrsinfarkt geplagte Stadteile vom Durchgangsverkehr zu entlasten. Nebenbei fällt aber auch eine Klimaanlage für das neue Elefantenhaus des Stuttgarter Zoos ab: Nach dem Vorbild des Stadtbahntunnels am Europaplatz, ist in den Wänden des neuen Autotunnels eine Geothermie-Anlage eingebaut. Ein Gemeinschaftsprojekt von Stadt, Land, Universität und dem Amt für Umweltschutz.
Temperatursensoren unter dem Beton
Treppen steigen, Schritte, Maschinengeräusche, Hall beim Betreten des Tunnels, dann Tunnelgeräusche. Über eine eher improvisierte Treppe steigt Christian Buch hinunter in die Baugrube und steuert dann auf eine der Tunnelröhren zu. Im Gefolge Patrick Buhmann, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geotechnik der Uni Stuttgart. "Ja, wir sind jetzt eine gute Viertelstunde in den Tunnel reingelaufen und stehen jetzt am ersten thermisch aktivierten Block des Rosensteintunnels in der Nordröhre."
Patrick Buhmann zeigt auf eine Art Fenster, das in die Betonwand der Tunnelröhre eingelassen ist. Daraus hervor ragen Schlauchenden verschiedener Dicke. "Die kleinen Schläuche, die da rauskommen, das sind die Rohrleitungen die innerhalb des Betons verbaut sind…. wie Fußbodenheizung muss man sich das vorstellen."
Ebenfalls unterm Beton versteckt liegt eine Vielzahl von Temperatursensoren. Sie sollen langfristig Daten liefern, um Prognosemodelle für die Wirtschaftlichkeit von Tunnelgeothermie-Anlagen zu verbessern. Anders als die inzwischen stillgelegte Pilotanlage im Stadtbahntunnel am Europaplatz, soll der Rosensteintunnel aber nicht primär wissenschaftliche Erkenntnis liefern, sondern vor allem nutzbare Energie: "In Summe sind es ungefähr 3.330 Quadratmeter thermisch aktivierter Fläche und die Prognosen, die damals gemacht wurden vor dem Bau der Anlage, beliefen sich so auf ca. 56 Kilowatt für die gesamte Tunnelgeothermie-Anlage."
Das wäre genug um mehrere Einfamilienhäuser zu beheizen. Für das große Elefantenhaus in der Wilhelma reicht es allerdings nicht. Eine parallel zur Geothermie installierte Abwärme-Anlage, die sich aus der Betriebszentrale des Tunnels speisen wird, könnte weitere 70 Kilowatt liefern. Beide Energiequellen zusammen sollten den Großteil des Wärmebedarfs der Dickhäuter decken und – so die Schätzungen- rund 200 Tonnen CO2 jährlich sparen. Noch ist es nicht so weit. Aber Bauleiter Christian Buch kann das Licht am Ende des Tunnels schon sehen.
"Okay - jetzt sind wir lange durch den Tunnel gelaufen. Es ist schönes Wetter. Ja, wir sehen strahlend blauen Himmel. Wenn wir jetzt nach links schauen, sehen wir einen Bauzaun, direkt dahinter ist das Restaurant der Wilhelma, der Schaubauernhof. Ja, und wir werden jetzt im nächsten Jahr die Oberfläche wiederherstellen und der Wilhelma ihre Flächen zurückgeben, dass es dort weitergehen kann mit der Asienanlage und dem Elefantenhaus."
2021 soll der Rosensteintunnel und damit auch die Geothermieanlage in Betrieb gehen.