Liminski: Herr Prof. Hüther, in Ihrem neuesten Buch mit dem Titel "Die Macht der inneren Bilder" beschreiben Sie, wie Visionen das Gehirn den Menschen und die Welt verändern - so lautet auch der Untertitel. Wie entstehen denn diese Visionen, diese inneren Bilder?
Hüther: Das sind Visionen und Vorstellungen davon, wie die Welt beschaffen ist und wie man sich in dieser Welt zurecht findet. Sie entstehen eigentlich dadurch, dass wir im Laufe unseres Lebens ja alle Erfahrungen machen, und diese Erfahrungen werden im Hirn verankert. Das wissen wir inzwischen eben aus den Erkenntnissen der Hirnforschung relativ gut. Da werden Verschaltungsmuster ausgebildet. Wir nennen das innere Repräsentanzen. Und solche inneren Repräsentanzen benutzen wir dann, um uns im Leben sozusagen zurechtzufinden. Also gibt es beispielsweise innere Repräsentanzen für das Fahrradfahren, oder wenn jemand Radschlagen gelernt hat, dann ist das im Hirn als Verschaltungsmuster sozusagen gespeichert und wird dann abgerufen, wenn man die Handlungen ausführt. Das gilt nun eben auch für die Gestaltung von Beziehungen zu anderen Menschen, für die Vorstellung, die man hat, wie man Probleme im Leben lösen kann, und letztlich werden daraus dann eben auch Orientierungen, innere Haltungen, Vorstellungen davon, wie man das Leben bewältigt. Die haben eben einen großen Einfluss darauf, wie wir uns im Leben bewegen und - wie wir nun inzwischen wissen - einen großen Einfluss auch darauf, wie man das Hirn benutzt. Und die
Art und Weise, wie wir unser Hirn benutzen, führt nun wieder dazu, dass die Verschaltungsmuster entsprechend gefestigt werden und sich das Hirn dann so organisiert, wie man es benutzt."
Liminski: Das sind also Bilder, die das Sein bestimmen, also das Denken, Fühlen und Handeln - so heißt es ja auch in Kapitel drei - und die das Zusammenleben prägen. Hat die Gesellschaft denn auch solche inneren Bilder?
Hüther: Ja, das ist vielleicht das Spannendste dabei. Natürlich macht auch eine ganze Gesellschaft im Laufe ihrer Entwicklung Erfahrungen, und auch die werden verankert. Das
ist relativ einfach: in Form von Büchern, Gesetzen, Regeln und was wir da alles so haben.
C.G. Jung hat das mal als kollektives Gedächtnis bezeichnet. Und heute gibt es eben auch solche inneren Bilder, mit denen unsere Gesellschaft hier ausgestattet ist, die unser Leben bestimmen, zum Beispiel die Vorstellung, dass es ständig wirtschaftliches Wachstum geben muss, dass Leistung nur über Konkurrenz erreichbar ist, dass jeder Fortschritt abhängig davon ist, dass es Wettbewerb gibt. Das sind Bilder, die unser Zusammenleben prägen.
Liminski: Man sagt landläufig, erhöhter Charakter, Verhalten und So-Sein des Menschen entscheide sich in den ersten Jahren. Wenn nun diese erste Prägung fehlschlägt, ist der Mensch dann irreparabel?
Hüther: Ja, sicher sind diese frühen Erfahrungen besonders nachhaltig und tief im Hirn verankert und bestimmen auch sehr häufig den weiteren Lebensweg, aber - und das ist vielleicht die frohe Botschaft aus der Hirnforschung - zeitlebens ist der Mensch in der Lage, noch mal neue Nutzungsmuster anzulegen, noch mal neue innere Bilder in sich aufzunehmen und
sich auf diese Weise eben dann auch zu verändern. Dafür gibt es schöne Beispiele: dass also Menschen durch eigentlich katastrophale Kindheiten hindurchgegangen sind und dann unterwegs irgendwann mal das Glück hatten, jemanden zu finden oder vor Probleme gestellt zu werden, die sie lösen konnten. Aus diesen erfolgreichen Lösungsversuchen sind dann innere Bilder erwachsen, ist das entstanden, was man Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zur Weltbewältigung nennt und dann kann das natürlich auch im fortgeschrittenen Alter noch dazu führen, dass Menschen sich grundsätzlich verändern. Aber das ist schwer.
Liminski: Welche Rolle spielen denn solche Begegnungen, von denen Sie sprechen - oder anders gefragt: Welche Rolle spielen Eltern, spielen Liebe und Vertrauen bei der Entstehung von Bildern?
Hüther: Die wichtigsten und entscheidenden Bilder werden eben in der frühen Kindheit übernommen. Da spielen eigene Erfahrungen eine große Rolle, aber vieles wird eben auch von anderen Menschen übernommen. Man greift gewissermaßen als Kind auf die Erfahrungen der Erwachsenen zurück. Die Erfahrungen werden von einer Generation zur nächsten weitergegeben, und das ist ein ganz empfindlicher Übertragungsprozess - transgenerationale Weitergabe nennen wir das. Der funktioniert nur dann, wenn diese Kinder eben Vertrauen
haben, wenn sie sich geborgen fühlen in dieser Welt, in die sie hineinwachsen. Das ist dann die große Verantwortung, die die Erwachsenen haben, nämlich dass sie das richtige Umfeld schaffen, damit sie es den Kindern ermöglichen, diese Bilder auch wirklich zu übernehmen.
Liminski: Vertrauen ist ein Schlüsselbegriff. Nun habe ich, wenn ich das so höre, kein Bild von Vertrauen. Was ist das eigentliche Bild von Vertrauen?
Hüther: Vertrauen ist einfach diese Fähigkeit, daran zu glauben, dass man selbst in der Lage ist, Probleme zu lösen und vor allen Dingen, dass - wenn es schwierig wird - man jemanden kennt und jemanden zur Seite weiß, der einem dann weiter hilft. Dann gibt es noch eine dritte Form von Vertrauen: Das ist das Vertrauen, dass es irgendwie wieder gut wird. Wir vermitteln diese Form des Vertrauens unseren Kindern beispielsweise über die Märchen. Fast alle Märchen sind so aufgebaut, dass sie am Anfang ein schreckliches Szenario entwickeln und es wird alles immer furchtbarer, und dann am Ende wird alles gut. Die Botschaft, die Kinder aus diesen Märchen mitnehmen, ist, dass es in der Welt wohl ab und zu große Probleme geben kann, aber dass es wieder gut wird. Das ist dann eine Art Urvertrauen.
Liminski: Das bestätigt sozusagen den riesigen Erfolg von Märchen wie Harry Potter?
Hüther: Ja, das ist genau das, was die Kinder aus diesem Buch mitnehmen, dass ein Kind, auch schon ein Kind, in der Lage ist, sich in den schwierigen Weltläufen zurechtzufinden und das man es machen kann. Es ist nur die Frage - wie das im Fall von Harry Potter dargestellt wird - ob es die Zauberei ist, auf die ein Kind sozusagen dann fokussiert werden muss. Es gibt auch eben andere Möglichkeiten.
Liminski: Wie kann man denn nun die inneren Bilder verändern, wenn man also zunächst negativ geprägt ist und dann positive Bilder empfängt? Wie funktioniert das? Wie kann man diese inneren Bilder verändern oder überlagern?
Hüther: Das ist relativ schwer, weil natürlich alle inneren Bilder, alle Vorstellungen, die man einmal als Überzeugung in sich angelegt hat, die haben ja eine Bedeutung, die sind ja wichtig für die eigene Lebensgestaltung. Und von denen lässt man dann nicht so leicht. Deshalb ist wohl die Voraussetzung dafür, dass man noch mal anfängt, anders zu denken - schon, dass man irgendwie ein erhebliches Problem hat. Auch ein Problem mit den bisherigen Bildern. Man muss vielleicht in einer gewissen Weise scheitern mit den Vorstellungen, die man bisher hatte, man muss eine tiefe, vielleicht auch seelische Krise durchlaufen. Und unter diesen Umständen werden im Hirn, in den so genannten emotionalen Zentren, Botenstoffe freigesetzt, die dazu beitragen, dass dann noch mal sehr grundsätzliche Veränderungsprozesse
möglich sind. Aber Voraussetzung dafür ist eben offenbar diese emotionale Aktivierung.
Liminski: Schon Augustinus wusste, auch der Körper hat ein Gedächtnis, aber er bezog sich auf eigene Erfahrungen, und dennoch gibt es auch so etwas wie ein kollektives Gedächtnis. Sie haben eben C.G. Jung erwähnt in diesem Zusammenhang. Liminski: Lassen sich kollektive Bilder aus der Vergangenheit vererben, so dass sie individuell verankert sind?
Hüther: Das geht ganz offensichtlich schon bei Tieren. Es gibt diese schönen Beispiele
von den Affen, wo einige gelernt haben, Kartoffeln zu waschen, bevor man sie so dreckig isst.
Das hat dann am Ende die ganze Gruppe gemacht, und jetzt machen es alle Affen in dieser Kolonie. Was ähnliches sehen wir beispielsweise bei den Singvögeln. Da reift das Gesangs-Zentrum im Hirn der frisch geschlüpften Singvögel - beispielsweise der Nachtigallen -, und da werden riesige Angebote an synaptischen Verschaltungen gemacht. Und während dieser Phase, wo dieses riesige Angebot gemacht wird, muss der Vater in der Nähe des Nestes singen - möglichst schön und möglichst oft und möglichst laut und möglichst ungestört. Und jedes Mal dann, wenn der junge Vogel dieses Muster vernimmt, entsteht in diesem Gesangszentrum ein bestimmtes Aktivierungsmuster, ein Erregungsmuster, und das führt dazu, dass bestimmte synaptische Verschaltungen stabilisiert werden. Am Ende hat dann der kleine Vogel gewissermaßen diesen Gesang verinnerlicht und im nächsten Jahr, wenn es Frühling wird und die Hormone in das Hirn schießen und das Gesangszentrum erregt wird, dann kommt dann dieser Gesang wieder heraus. Das ist eine Kulturleistung, die von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird und wo gewissermaßen die artspezifische Leistung erworben wird. Und nun können wir uns fragen, was mit unserem plastischem Hirn alles erworben wird, und dann stellt man sehr schnell fest, dass wir Menschen fast alles das, worauf wir stolz sind und was wir können, von anderen übernehmen, das heißt hier wird wirklich von einer Generation zur nächsten Erfahrung weitergegeben und benutzt, um das Hirn der nächsten Generation entsprechend zu strukturieren.
Liminski: Aber auch das, was in den Genen verankert ist, muss doch stimuliert werden?
Hüther: Das, was in den Genen verankert ist, ist eine Potenz. Wir haben die Fähigkeit, ein komplex verschaltetes Hirn aufzubauen. Das ist ein Angebot, was da gemacht wird und dann braucht es entsprechende Voraussetzungen, braucht es entsprechende Lernbedingungen, braucht es entsprechende Vorbilder, um diese Verschaltungsmuster dann auch wirklich aufbauen zu können. Die Potenz alleine reicht noch nicht.
Liminski: Stichwort Lernbedingungen. Wie prägend sind denn die inneren Bilder für die Bildung und für das Lernen-Können?
Hüther: Das sieht man schon bei jedem Kind. Jedes Mal dann, wenn ein Kind eine neue Wahrnehmung macht, dann versucht das Kind, diese neue Wahrnehmung an die bereits vorhandenen inneren Bilder, an das bereits vorhandene Wissen anzuknüpfen. Und wenn das wirklich gelingt, dann freut sich das Kind. Dann spielt sich ein so genanntes Erfolgserlebnis
ab und im Hirn werden dann entsprechende Botenstoffe ausgeschüttet. Das ist so ein richtiges Glückserlebnis. Wenn Kinder häufig diese Erfahrung machen, dass es ihnen gelingt, neue Erfahrung an alte und bereits vorhandene Muster anzuknüpfen und auf diese Weise diese inneren Bilder immer stärker zu erweitern und brauchbarer zu machen, dann gewinnt ein Kind einfach die Überzeugung, dass es etwas Schönes ist, dass man Neues hinzulernen darf. Und dann gibt es Kinder, denen diese Erfahrung allmählich abhanden kommt, weil sie mit dem, was ihnen da angeboten wird, entweder nichts anfangen können oder weil sie an nichts anknüpfen können. Das ist die individuelle Ebene. Und dann gibt es für Bildung natürlich noch eine kollektive Ebene. Das ist die Vorstellung, die wir haben, was Kinder beispielsweise in der Schule lernen sollen. Das sind ja tradierte Vorstellungen. Ich weiß nicht, ob das, was heute in den Schulen geschieht, tatsächlich noch dem entspricht, worauf es im Leben heutzutage tatsächlich ankommt.
Liminski: Die Stimulanzen, von denen Sie auch vorher gesprochen haben, lassen die sich auf Lernen auch durch Druck übertragen?
Hüther: Druck ist sicherlich das ungeeignetste Mittel, um da einen Prozess in Gang zu bringen, vor allen Dingen dann, wenn es darum geht, vorhandene Muster zu erweitern. Das ist ja das, was wir anstreben. Wir wollen ja, dass Kinder aufgehen, dass die offen bleiben für neue Erfahrungen, dass sie kreativ bleiben. Und kreativ kann man immer nur dann sein, wenn kein Druck herrscht, wenn Bedingungen herrschen, wo man gewissermaßen die verschiedenen im Hirn verfügbaren Wissensschätze oder inneren Bilder frei und ungezwungen miteinander verbinden kann. Immer dann, wenn Druck ausgeübt wird, fällt man als Kind genauso wie als Erwachsener in bereits etablierte Muster zurück, denn die bereits gebahnten und
gefestigten inneren Muster sind natürlich das Mittel, mit denen man normalerweise am schnellsten vorankommt.
Liminski: Letzte Frage, Herr Professor Hüther, Ihre Erkenntnisse und Thesen aus der Gehirnforschung legen die Vermutung nahe, dass die einseitige Festlegung der Politik auf Ganztagsbetreuung so früh wie möglich eine ideologische Sackgasse ist. Dieser Ideologie hängen ja alle Parteien an. Müssen wir aus dieser Sackgasse heraus, wenn wir Kindern helfen wollen, lebenstüchtige Erwachsene zu werden?
Hüther: Sie verwenden ja schon selbst diesen Begriff ‚Ganztagsbetreuung'. Diese frühe Phase, in der die Kinder noch so unendlich neugierig und lernbegierig und wissensdurstig sind, ist eine Phase, die man nicht mit Betreuung vertun kann. Hier muss man eigentlich un-glaublich viele Angebote machen, also Ganztagsförderung oder so etwas wie Entdeckungswerkstätten für Kinder. Das wäre etwas großartiges, aber Betreuungsangebote für alle, glaube ich, sind nicht das geeignete Mittel, zumal auch gezeigt worden ist in verschiedenen Studien - vor allen Dingen auch in den Vereinigten Staaten -, dass bei sehr kleinen Kindern es maximal vier oder fünf Kinder sind, die eine Betreuerin tatsächlich fördern kann. Alles andere ist dann zu viel und führt dann sehr leicht dazu, dass die individuellen Begabungen von Kindern verkümmern, weil sie in einem Gruppenbetrieb alle über einen Kamm geschoren werden.
Das war Gerald Hüther, Autor des Bandes "Die Macht der inneren Bilder", erschienen bei Vandenhoeck und Ruprecht in Göttingen, 139 Seiten zu 9 Euro achtzig. Weitere Bücher von Professor Hüther erschienen unter dem Titel "Biologie der Angst" und "Evolution der Liebe", ebenfalls im Verlag Vandenhoeck und Ruprecht, oder auch die Titel "Kinder brauchen Wurzeln" und "Kinder suchen Orientierung", beide zu bekommen im Walter-Verlag, Düsseldorf und Zürich.