Dina Netz: Die Journalistin Géraldine Schwarz, 1974 in Straßburg geboren, ist Tochter eines deutschen Vaters und einer französischen Mutter. Eine zutiefst in Europa verwurzelte Autorin also, könnte man meinen. Und tatsächlich: Diesen Wurzeln geht sie in ihrem Buch nach: "Die Gedächtnislosen. Erinnerungen einer Europäerin" heißt es und erzählt entlang dreier Generationen europäische Geschichte. Frau Schwarz, im Vorwort zu dem Buch schreiben Sie: "Ich muss meinen Weg im Dickicht der Vergangenheit finden". Wieso war das wichtig?
Géraldine Schwarz: Also im Buch war mir wichtig, zwei Spuren zu vermischen, und zwar die große Geschichte und die Familiengeschichte, die persönliche Geschichte des 20. Jahrhunderts. Ich glaube, es ist wichtig, auf beides Rücksicht zu nehmen, wenn man an das 20. Jahrhundert in Deutschland erinnert. Ich glaube, jeder Mensch, wenn er an die Vergangenheit denkt, vermischt beides, die große Geschichte und die kleine Geschichte. Und man kann sich viel besser damit identifizieren, wenn man im Buch auch die Geschichte seiner Großeltern nachzeichnet. Ein Großvater, der Mitläufer war unter dem Nationalsozialismus, der 1938 eine jüdische Firma arisiert hat und der nach dem Krieg sich weigern wird, Reparationszahlungen zu bezahlen. Und ich hatte das Glück, kann man vielleicht so sagen, diese Briefe der Nachkriegszeit zu finden, wo mein Großvater mit dem ehemaligen jüdischen Eigentümer der Firma korrespondiert. Und mein Großvater hat auch seine eigenen Briefe behalten, eine Kopie. Und ich war entsetzt, festzustellen, wie in den fünfziger Jahren mein Großvater geleugnet hat, mit der Arisierung eigentlich Teil der Verbrechen des Dritten Reiches gewesen zu sein.
Suche nach der Wahrheit
Netz: Man kann ihn jetzt eigentlich nicht mehr nur Mitläufer nennen, nach dem, was Sie herausgefunden haben über Ihren Großvater, denn er hat ja auch in Teilen vom NS-Regime profitiert. Sehen Sie nach Ihren Recherchen Ihren Großvater in einem anderen Licht als früher?
Schwarz: Er ist schon so ein kleiner Fisch im Regime gewesen. Was ich wichtig fand in dieser Recherche, war, die Wahrheit zu suchen. Wenn man Recherche macht in seiner eigenen Familie, dann ist man natürlich emotional ein bisschen verhindert, die Sachen manchmal gerade zu sehen. Es gibt immer diesen Filter der Emotionen und auch der Loyalität in einer Familie, und das war mir am wichtigsten. Mein Großvater – ich wusste ein bisschen von dieser Geschichte, aber mir war es wichtig jetzt, über die große Geschichte zu erfahren, inwiefern und wie schuldig mein Großvater war. Und die Arisierung, da haben Sie recht, die Arisierung war eigentlich ein sehr wichtiges Verbrechen, denn es betraf große Teile der deutschen Gesellschaft, die geplündert hat und von dem jüdischen Eigentum profitiert hat und damit irgendwie ein Zeichen gesetzt hat dem Regime gegenüber, dass er dessen unmenschliches Unternehmen eigentlich unterstützt. Und das hat mein Großvater eigentlich gemacht. Er hat dieses unmenschliche Unternehmen des Dritten Reiches unterstützt.
Netz: Und er hat nach dem Krieg sein Unrecht auch nur sehr bedingt eingesehen. Vielleicht kommen wir kurz auf den anderen Strang der Familie. Die Geschichte Ihrer Großeltern mütterlicherseits handeln Sie im Buch nämlich weit kürzer ab. Erschien Ihnen die Frage einer Verstrickung ins Vichy-Regime nicht interessant genug, oder haben Sie einfach weniger darüber herausgefunden? Warum kommen die so relativ knapp im Buch vor?
Schwarz: Es war natürlich wichtig für mich, auch die französische Geschichte nachzuzeichnen, weil meine Mutter ja Französin ist. Meine Mutter weiß sehr wenig über ihren Vater, obwohl ihr Vater unter dem Vichy-Regime Gendarm war. Und interessanterweise war er Gendarm genau an der Grenze zwischen der besetzten Zone Frankreichs und der sogenannten freien Zone im Süden. Seine Aufgabe war eigentlich, zu beobachten, überwachen, ob Illegale die Grenze überquerten, das heißt, Juden und Widerstandskämpfer. Und die Frage ist natürlich, hat er da einige verhaftet?
Vichy-Kollaboration erst spät akzeptiert
Ich kannte meinen Großvater ein bisschen, er war ein überzeugter Kommunist, und ich gehe davon aus, dass er eher ein Auge geschlossen hat. Aber trotzdem ist er Gendarm unter Vichy geblieben. Was ich vielleicht interessanter fand, ist, dass meine Mutter in den 60er-Jahren in der Nähe von Drancy wohnte. Drancy war das wichtigste Übergangslager, von wo aus Juden nach Auschwitz transportiert wurden. Und sie wusste überhaupt nichts von Vichy Anfang der 60er-Jahre. Und da habe ich auch überlegt, genauso wie bei den Briefen von meinem deutschen Großvater, ob das symptomatisch war für die französische Gesellschaft. Und tatsächlich hat es in Frankreich sehr lange gedauert, bis man eigentlich die Verantwortung für die Kollaboration mit dem Vichy-Regime akzeptiert hat.
Netz: Aufarbeitung ist ein großes Thema in Ihrem Buch. Vielleicht kommen wir mal auf die allgemeine Ebene. Ihnen war es ja wichtig, die Geschichten Ihrer Großeltern zu erzählen und sie in einen größeren historischen Kontext zu setzen, wie Sie schon gesagt haben. Worum ging es Ihnen mit dem Buch, welches Anliegen steckte dahinter?
Antwort auf den Gedächtnisschwund
Schwarz: Der Anstoß für das Buch war nicht die Familiengeschichte, sondern die Lage in Europa, die Skepsis angesichts der Demokratie, der zunehmende Erfolg von Rechtspopulismus. Ich wollte dringend reagieren, was machen. Ich bin ein Kind der deutsch-französischen Versöhnung, ein Kind Europas, und ich stelle mir natürlich die Frage: Hat man das alles vergessen? Hat man die Spirale des Hasses, die Kapitulation der Vernunft, hat man die Gefahr der Benennung von Sündenböcken, hat man das alles vergessen? Und, was noch wichtiger ist in meinem Buch: Hat man die Nachkriegszeit vergessen, unter welcher Mühe unsere Eltern, unsere Großeltern die Demokratie aufgebaut haben? Mein Buch ist irgendwie so eine Antwort zu diesem Gedächtnisschwund, wo ich versuche, zu erinnern, an die Zeit während des Krieges, aber auch die Zeit nach dem Krieg in Deutschland und in Frankreich.
Netz: Sie kommen in Ihrem Buch zu dem Schluss, dass die mangelnde Aufarbeitung historischer Verbrechen oder Traumata den Weg bereitet für den sich in Europa ausbreitenden Rechtspopulismus. Wie hängt jetzt diese mangelnde Aufarbeitung Ihrer Meinung nach zusammen mit dem, was wir im Moment beobachten?
Schwarz: Ich glaube, dass diese Errungenschaften, die wir erzielt haben seit '45, davon abhängen, ob wir uns erinnern können. Und diese Vergangenheitsbewältigung, wie sie geführt worden ist, zumindest in Deutschland, hat eigentlich die Demokratie fundiert. Und heutzutage beobachtet man in Ländern, wo Rechtspopulismus besonders Erfolg hat, zum Beispiel Italien, Österreich, Osteuropa – das sind Länder, wo die Vergangenheitsbewältigung entweder gar nicht oder spät oder unvollständig geführt worden ist. Italien und Österreich, diese Länder haben eigentlich davon profitiert, die haben die Monstrosität der Verbrechen der Nazis ausgenutzt, um ihre eigenen Verbrechen vergessen zu lassen. Und sie haben ihre eigene Verantwortung vollkommen negiert. In Osteuropa wie auch in der DDR damals hat man auch die Verantwortung nicht übernommen, obwohl natürlich die Deutschen, die in der DDR wohnten damals, genauso Nazis waren wie die in Westdeutschland. Und ein Hinweis dafür, dass die Erinnerungsarbeit eine wichtige Waffe ist gegen Rechtspopulismus, ist meiner Meinung nach, dass Rechtspopulismus schon sehr aktiv mobilisiert gegen Erinnerungsarbeit. Ich denke jetzt insbesondere an die AfD. Die Forderung von jemandem wie Björn Höcke, die erinnerungspolitische Wende um 180 Grad zu drehen – was heißt das? Das heißt eigentlich, etwas auszulöschen, was vonseiten der Franzosen wirklich bewundert wird, und zwar die Fähigkeit, die die Deutschen gehabt haben, aus der Reflexion über die Vergangenheit dauerhafte Werte zu ziehen und auch einen kritischen Geist auszubilden, eine moralische Umsicht. Und dieser kritische Geist ist eben ein Feind von Rechtspopulisten.
Erinnerungsarbeit als Obsession
Netz: Sie schreiben in Ihrem Buch, Frau Schwarz: "Die Erinnerungsarbeit ist für mich zur Obsession geworden." Warum geht das so weit bei Ihnen?
Schwarz: Ich glaube, wenn man an einem solchen Buch schreibt, dann merkt man, wie viele Mythen es gibt, was die Geschichte angeht. Ich hab eigentlich auch noch weiter recherchiert, was Russland angeht. Jemand wie Wladimir Putin ändert die Vergangenheit von Russland, rehabilitiert jemanden wie Stalin. Und diese Vergangenheitsbewältigung, was man mit Geschichte macht, wie man Geschichte instrumentalisiert, entscheidet, welche Identität man heute fördert.
Netz: Am Ende Ihres Buches möchte man um Europa weinen, um dieses friedliche, demokratische, das es für viele wie Sie in den 70er-Jahren Geborene einmal war. Was denken Sie: Wie kann dieses Ideal heute noch gerettet werden?
Schwarz: Ich glaube, es ist sehr wichtig, dass man den Europäern wieder Stolz vermittelt, und zwar den Stolz, zu einem Kontinent zu gehören, der immerhin zwei Totalitarismen besiegt hat, den faschistischen und den kommunistischen. Und nur so, glaube ich, kann man auch Europa vereinen, Ost und West, indem man diesen gemeinsamen Stolz wieder insbesondere den jungen Generationen vermittelt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Géraldine Schwarz: "Die Gedächtnislosen. Erinnerungen einer Europäerin"
Aus dem Französischen von Christian Ruzicska
Secession Verlag, Zürich. 380 Seiten, 25 Euro.
Aus dem Französischen von Christian Ruzicska
Secession Verlag, Zürich. 380 Seiten, 25 Euro.