Gerhard Dengler sitzt in seinem Sessel aus DDR-Produktion in seinem Reihenhaus in Berlin-Pankow. 87 Jahre ist er gerade geworden. Er weiß genau, was er alles erlebt hat. Gefragt nach trocknen Daten, entfalten die sich sofort zu Geschichten. Wie zum Vorabend des Überfalls auf die Sowjetunion. Dengler ist gerade nach Ostpreußen verlegt worden:
Am 21. abends, ziemlich späte Abendstunde, hat uns der Regimentskommandeur, alle Abteilungsleiter und Batteriechefs - ich war ja Chef der Regimentsstabsbatterie damals - zusammengerufen, so im Kreis um ihn gestanden, und hat uns als erstes den Angriffsbefehl auf die Sowjetunion vorgelesen. Hat ne Pause gemacht und hat zu uns gesagt: Meine Herren, jetzt fängt der Krieg erst richtig an.
Gerhard Dengler ist 27 Jahre alt. Der Offizier hat schon die Kriegsschauplätze in Polen und Frankreich gesehen.
Und dann hat er ne Pause gemacht und hat, was unerhört kühn für ihn damals war, hat er uns den Kommissarserlass vorgelesen.
Darin hat das Oberkommando der Wehrmacht die Tötung der politischen Kommissare der Roten Armee angeordnet. Für Dengler ein Unding. Er stammt aus einem humanistischen und traditionsbewussten Elternhaus - sein Vater ist Professor für Forstwissenschaft. Er selbst hat kurz vor Kriegsbeginn in Philosophie promoviert. Er erinnert sich, dass auch dem Regimentskommandeur der Kommissarerlass zuwider war:
Und dann hat er gesagt: Meine Herren, unser Regiment ist bisher mit sauberer Weste durch diesen Krieg gekommen, und ich erwarte von ihnen, dass das so bleibt. Das heißt also, er hat uns befehlsgemäß diesen grauenhaften Befehl vorgelesen, der ja schon ein Kriegsverbrechen der Wehrmachtsführung war, das war ja ein Befehl, der nicht von Hitler oder Himmler kam, sondern der war ja von Keitel unterschrieben.
Denglers Stationen als Chef einer Artilleriebatterie: Die Ostflanke beim Angriff auf Leningrad. Einige Monate später sieht er im Fernglas die ersten Vororte von Moskau. Dann mit der Heeresgruppe Süd an den Don. Schließlich Stalingrad. Ein viertel Jahr lang sichert er für die 6. Armee das Steilufer der Wolga. Inzwischen ist Stalingrad von den Deutschen genommen und dabei zerstört worden. Ende November 1942 kommt der sowjetische Gegenangriff.
Mit dem Scherenfernrohr hab ich gesehen, wie die zusammengekommen sind. Kein Mensch hatte von uns eine Ahnung, dass im Süden auch eine Offensive losgegangen war. Und ich habe praktisch als einer der ersten der Armee gemeldet diesen Zusammenschluss, praktisch, dass wir jetzt im Kessel sitzen. Die haben sich umarmt, aufeinander zugestürmt, Freudenfeuer geschossen. Und uns blieb doch das Herz im Leibe stecken.
Sofort kommt der Befehl, Munition und Treibstoff zu sparen. In den Ruinen der Stadt fehlt es den über 200.000 Soldaten der 6. Armee auch an Winteruniformen, Wasser und Nahrung. Aus Berlin kommt die Weisung, sich auf keinen Fall zu ergeben. Dengler sagt, der Wendepunkt sei für ihn gewesen, dass er im Kessel unter deutschen Soldaten Kannibalismus beobachtet habe. Als er am 27. Januar 1943 der Armeeführung die hilflose Lage der Soldaten seiner Batterie schildert, trifft er einen hilflosen Generaloberst Paulus. So präzise, wie er sich an den Vorabend des Überfalls auf die Sowjetunion erinnert, so genau hat er auch noch im Kopf, was Paulus ihm gesagt hat:
Ja, jetzt ist eben die Stunde gekommen, wo die Initiative auf die unteren Truppenführer übergeht. Puuh. Da hab ich ja zuerst einmal überhaupt nicht durchgeschaltet, was das bedeutet. Da hab ich kapiert: also die Generale unterwerfen sich Hitlers Befehl, nicht zu kapitulieren, aber wenn wir kapitulieren und das auf unsere Kappe nehmen und nachher der Hitler uns an die Wand stellt, dann ist das unsere Sache, ja? Aber dann war ich fest entschlossen, das machst du.
In der nächsten Nacht sondiert Dengler mit den Sowjets die Kapitulation seiner Einheit. Mehr als 400 Mann folgen ihm in die Gefangenschaft. Er wird als Offizier sofort von den Sowjets festgenommen und verhört.
Ich musste ja sozusagen mich da nackt ausziehen vor denen. Aber da sie mich im Gegensatz zu meiner Befürchtung nicht als Offizier erschossen hatten, sondern in diesem Quartier, wo wir als Offiziere vernommen wurden, das erste Mal heißen Tee und Sucharie und - leider, was Durst gibt - Trockenfisch zu essen bekommen haben - nachdem die uns also sehr menschlich behandelt haben dort, sah ich auch keinen Grund, da irgendwas zu verschweigen.
Dengler gibt Auskunft über seine bürgerliche Herkunft, sein Studium, seine Militärlaufbahn, gibt auch seine frühere Mitgliedschaft in der SA an. Das Vernehmungsprotokoll wird die Seite 1 seiner Personalakte. Es begleitet ihn auch nach seinem Übertritt zum Kommunismus einige Monate später. Im Lager Oranki bei Gorki schließt er sich Ende 1943 dem Nationalkomitee Freies Deutschland an, einem Agitations-Bündnis deutscher Exilkommunisten und kriegsgefangener Soldaten der Wehrmacht.
In Stalingrad ist mein bürgerliches Bewusstsein gestorben. Alles, was bürgerlich-honorig gewesen war für mich bis dahin, hat in Stalingrad die Probe des Lebens nicht bestanden. Und deswegen habe ich gesagt: Mit denen möchte ich nichts mehr zu tun haben. Deswegen ist nachher auf der Zentralen Antifa-Schule - ich möchte sagen - der Marxismus von mir aufgesogen worden wie der trockne Schwamm das Wasser. Ich war ja leer.
Wie hoch sein persönlicher Preis ist, erfährt er erst viel später. Sein Vater wird nicht mit der Mitteilung fertig, dass der Sohn zu den Kommunisten übergelaufen ist und nimmt sich das Leben. Denglers neuer Mentor wird der deutsche KP-Funktionär Hermann Matern. Er sieht in ihm einen vielversprechenden Multiplikator - als Offizier ist er für die Propaganda interessant. Matern lotst Dengeler zur Schulung nach Lunowo. Von dort spricht er ab 1944 über den Rundfunk zu deutschen Soldaten; er unterschreibt Flugblätter, auf denen sie zum Überlaufen aufgefordert werden. Mehrfach wird seine Zuverlässigkeit überprüft.
Wir mussten nachher am Ende der Schule eine Selbsteinschätzung machen, das war ja damals in der Stalinzeit so üblich in der Partei. Und da hab ich im Grunde praktisch auch wieder genau das erzählt wie vorher auch. Ich hab ja nie geschwindelt über meine Geschichte. Und diese Tatsachen, dass meine Selbsteinschätzung an der Schule mit meiner ersten Einvernahme wörtlich übereinstimmte, hat also dazu geführt, dass der General Melnikow gesagt hat, dir trauen wir. Du bist ein ehrlicher Mensch.
Als deutscher Kommunist mit konservativer Herkunft und journalistischer Ausbildung ist er für die Sowjets auch nach Kriegsende wertvoll. Im August 1945 geht es mit dem Flugzeug nach Deutschland zurück. Die erste Station: die Sächsische Volkszeitung in Dresden. Danach Chefredakteur der Leipziger Volkszeitung. In den fünfziger Jahren ist Dengler der erste Korrespondent des SED-Zentralorgans Neues Deutschland in Bonn. Später wird er Chefkommentator des DDR Rundfunks und damit Nachfolger Karl Eduard von Schnitzlers. Sein Dienst am Sozialismus, so wie Gerhard Dengler ihn verstanden hat, ist für ihn bis heute die einzig richtige Konsequenz aus dem, was er im Krieg erlebt hat.
Meine bürgerliche überkommene Anschauung und Gesinnung von dieser bürgerlichen Gesellschaft, in der ich groß geworden bin, die war in Stalingrad verbrannt.
Am 21. abends, ziemlich späte Abendstunde, hat uns der Regimentskommandeur, alle Abteilungsleiter und Batteriechefs - ich war ja Chef der Regimentsstabsbatterie damals - zusammengerufen, so im Kreis um ihn gestanden, und hat uns als erstes den Angriffsbefehl auf die Sowjetunion vorgelesen. Hat ne Pause gemacht und hat zu uns gesagt: Meine Herren, jetzt fängt der Krieg erst richtig an.
Gerhard Dengler ist 27 Jahre alt. Der Offizier hat schon die Kriegsschauplätze in Polen und Frankreich gesehen.
Und dann hat er ne Pause gemacht und hat, was unerhört kühn für ihn damals war, hat er uns den Kommissarserlass vorgelesen.
Darin hat das Oberkommando der Wehrmacht die Tötung der politischen Kommissare der Roten Armee angeordnet. Für Dengler ein Unding. Er stammt aus einem humanistischen und traditionsbewussten Elternhaus - sein Vater ist Professor für Forstwissenschaft. Er selbst hat kurz vor Kriegsbeginn in Philosophie promoviert. Er erinnert sich, dass auch dem Regimentskommandeur der Kommissarerlass zuwider war:
Und dann hat er gesagt: Meine Herren, unser Regiment ist bisher mit sauberer Weste durch diesen Krieg gekommen, und ich erwarte von ihnen, dass das so bleibt. Das heißt also, er hat uns befehlsgemäß diesen grauenhaften Befehl vorgelesen, der ja schon ein Kriegsverbrechen der Wehrmachtsführung war, das war ja ein Befehl, der nicht von Hitler oder Himmler kam, sondern der war ja von Keitel unterschrieben.
Denglers Stationen als Chef einer Artilleriebatterie: Die Ostflanke beim Angriff auf Leningrad. Einige Monate später sieht er im Fernglas die ersten Vororte von Moskau. Dann mit der Heeresgruppe Süd an den Don. Schließlich Stalingrad. Ein viertel Jahr lang sichert er für die 6. Armee das Steilufer der Wolga. Inzwischen ist Stalingrad von den Deutschen genommen und dabei zerstört worden. Ende November 1942 kommt der sowjetische Gegenangriff.
Mit dem Scherenfernrohr hab ich gesehen, wie die zusammengekommen sind. Kein Mensch hatte von uns eine Ahnung, dass im Süden auch eine Offensive losgegangen war. Und ich habe praktisch als einer der ersten der Armee gemeldet diesen Zusammenschluss, praktisch, dass wir jetzt im Kessel sitzen. Die haben sich umarmt, aufeinander zugestürmt, Freudenfeuer geschossen. Und uns blieb doch das Herz im Leibe stecken.
Sofort kommt der Befehl, Munition und Treibstoff zu sparen. In den Ruinen der Stadt fehlt es den über 200.000 Soldaten der 6. Armee auch an Winteruniformen, Wasser und Nahrung. Aus Berlin kommt die Weisung, sich auf keinen Fall zu ergeben. Dengler sagt, der Wendepunkt sei für ihn gewesen, dass er im Kessel unter deutschen Soldaten Kannibalismus beobachtet habe. Als er am 27. Januar 1943 der Armeeführung die hilflose Lage der Soldaten seiner Batterie schildert, trifft er einen hilflosen Generaloberst Paulus. So präzise, wie er sich an den Vorabend des Überfalls auf die Sowjetunion erinnert, so genau hat er auch noch im Kopf, was Paulus ihm gesagt hat:
Ja, jetzt ist eben die Stunde gekommen, wo die Initiative auf die unteren Truppenführer übergeht. Puuh. Da hab ich ja zuerst einmal überhaupt nicht durchgeschaltet, was das bedeutet. Da hab ich kapiert: also die Generale unterwerfen sich Hitlers Befehl, nicht zu kapitulieren, aber wenn wir kapitulieren und das auf unsere Kappe nehmen und nachher der Hitler uns an die Wand stellt, dann ist das unsere Sache, ja? Aber dann war ich fest entschlossen, das machst du.
In der nächsten Nacht sondiert Dengler mit den Sowjets die Kapitulation seiner Einheit. Mehr als 400 Mann folgen ihm in die Gefangenschaft. Er wird als Offizier sofort von den Sowjets festgenommen und verhört.
Ich musste ja sozusagen mich da nackt ausziehen vor denen. Aber da sie mich im Gegensatz zu meiner Befürchtung nicht als Offizier erschossen hatten, sondern in diesem Quartier, wo wir als Offiziere vernommen wurden, das erste Mal heißen Tee und Sucharie und - leider, was Durst gibt - Trockenfisch zu essen bekommen haben - nachdem die uns also sehr menschlich behandelt haben dort, sah ich auch keinen Grund, da irgendwas zu verschweigen.
Dengler gibt Auskunft über seine bürgerliche Herkunft, sein Studium, seine Militärlaufbahn, gibt auch seine frühere Mitgliedschaft in der SA an. Das Vernehmungsprotokoll wird die Seite 1 seiner Personalakte. Es begleitet ihn auch nach seinem Übertritt zum Kommunismus einige Monate später. Im Lager Oranki bei Gorki schließt er sich Ende 1943 dem Nationalkomitee Freies Deutschland an, einem Agitations-Bündnis deutscher Exilkommunisten und kriegsgefangener Soldaten der Wehrmacht.
In Stalingrad ist mein bürgerliches Bewusstsein gestorben. Alles, was bürgerlich-honorig gewesen war für mich bis dahin, hat in Stalingrad die Probe des Lebens nicht bestanden. Und deswegen habe ich gesagt: Mit denen möchte ich nichts mehr zu tun haben. Deswegen ist nachher auf der Zentralen Antifa-Schule - ich möchte sagen - der Marxismus von mir aufgesogen worden wie der trockne Schwamm das Wasser. Ich war ja leer.
Wie hoch sein persönlicher Preis ist, erfährt er erst viel später. Sein Vater wird nicht mit der Mitteilung fertig, dass der Sohn zu den Kommunisten übergelaufen ist und nimmt sich das Leben. Denglers neuer Mentor wird der deutsche KP-Funktionär Hermann Matern. Er sieht in ihm einen vielversprechenden Multiplikator - als Offizier ist er für die Propaganda interessant. Matern lotst Dengeler zur Schulung nach Lunowo. Von dort spricht er ab 1944 über den Rundfunk zu deutschen Soldaten; er unterschreibt Flugblätter, auf denen sie zum Überlaufen aufgefordert werden. Mehrfach wird seine Zuverlässigkeit überprüft.
Wir mussten nachher am Ende der Schule eine Selbsteinschätzung machen, das war ja damals in der Stalinzeit so üblich in der Partei. Und da hab ich im Grunde praktisch auch wieder genau das erzählt wie vorher auch. Ich hab ja nie geschwindelt über meine Geschichte. Und diese Tatsachen, dass meine Selbsteinschätzung an der Schule mit meiner ersten Einvernahme wörtlich übereinstimmte, hat also dazu geführt, dass der General Melnikow gesagt hat, dir trauen wir. Du bist ein ehrlicher Mensch.
Als deutscher Kommunist mit konservativer Herkunft und journalistischer Ausbildung ist er für die Sowjets auch nach Kriegsende wertvoll. Im August 1945 geht es mit dem Flugzeug nach Deutschland zurück. Die erste Station: die Sächsische Volkszeitung in Dresden. Danach Chefredakteur der Leipziger Volkszeitung. In den fünfziger Jahren ist Dengler der erste Korrespondent des SED-Zentralorgans Neues Deutschland in Bonn. Später wird er Chefkommentator des DDR Rundfunks und damit Nachfolger Karl Eduard von Schnitzlers. Sein Dienst am Sozialismus, so wie Gerhard Dengler ihn verstanden hat, ist für ihn bis heute die einzig richtige Konsequenz aus dem, was er im Krieg erlebt hat.
Meine bürgerliche überkommene Anschauung und Gesinnung von dieser bürgerlichen Gesellschaft, in der ich groß geworden bin, die war in Stalingrad verbrannt.