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Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich, Irina Renz (Hrsg): Enzyklopädie Erster Weltkrieg

Eine Enzyklopädie des Ersten Weltkriegs, eine Studie über die von der deutschen Generalität in die Welt gesetzte Dolchstoßlegende, ein Sammelband über die Konjunktur von Utopien in der Zwischenkriegszeit sowie ein Reader über Krieg und Militär im Film des 20. Jahrhunderts, das sind die Themen unserer heutigen Revue politischer Literatur, Tillmann Bendikowski, Matthias von Hellfeld, Wolf Oschlies und Klaus Kreimeier die Rezensenten. Am Mikrophon ist Hermann Theißen.

Eine Rezension von Tillmann Bendikowski |
    Die Geschichtsschreibung über den Ersten Weltkrieg füllt inzwischen ganze Bibliotheken, und für dieses Jahr, in dem sich der Kriegsausbruch zum 90. Mal jährt, haben die Verlage eine ganze Reihe von Neuerscheinungen angekündigt. Da ist ein Band hoch willkommen, der renommierte Autoren zum Thema versammelt und sich an einer Bestandsaufnahme dessen versucht, was über diesen Krieg, der dem vergangenen Jahrhundert die Signatur gab, erforscht wurde. "Enzyklopädie Erster Weltkrieg" ist das Werk überschrieben, und Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich und Irina Renz haben es im Paderborner Schöningh Verlag herausgebracht. Im Vorwort skizzieren die Herausgeber ihren Anspruch unter anderem so:

    Die Überwindung sowohl der thematischen als auch der nationalen Grenzen ist das Ziel dieser ersten modernen deutschsprachigen Enzyklopädie des Ersten Weltkriegs. Dabei folgt das Werk einem klar definierten Editionsprinzip. Die Enzyklopädie ist (....) weniger eine Versammlung des verfügbaren Wissens über den Krieg als der betonte Versuch, über die Grenzen der einzelnen Arbeitsfelder hinaus zu gelangen und vor allem den internationalen Vergleich zu ermöglichen.

    Ob das den Herausgebern und ihren 146 Autoren aus 15 Ländern gelungen ist, sagt Ihnen nun Tillmann Bendikowski:


    Der Krieg ist zurück – auch in der deutschen Geschichtswissenschaft. Und das ist in diesem Falle auch gut so. Denn zu dieser Renaissance der Militärgeschichte haben vor allem zahlreiche jüngere Historiker den Anstoß gegeben, indem sie den klassischen Gegenstand Krieg unter neuen Aspekten einer Mentalitäts- und Kulturgeschichte befragten. Der Paderborner Verlag Ferdinand Schöningh bietet dieser neuen Militärgeschichtsschreibung seit einiger Zeit den nötigen Raum. Und so entstand dort auch das ambitionierte Vorhaben einer "Enzyklopädie Erster Weltkrieg". Das Ergebnis ist ein monumentales Werk von 1.000 Seiten, wovon die ersten 300 Seiten Raum für essayistische Überblicksdarstellungen bieten, die übrigen 700 Seiten bilden den lexikalischen Teil. Zunächst erhält der Leser einen ersten Überblick über die wichtigsten beteiligten Staaten, deren gesellschaftliche Gruppen und über Ausbruch und Verlauf des Krieges. So skizziert etwa Wolfgang J. Mommsen in seinem Beitrag über Deutschland die Kriegsursachen:

    Der Weltkrieg brach aus, weil sich die Deutschen, oder doch ihre führenden Schichten, nicht damit abfinden wollten, dass der ambitiösen 'Weltpolitik’ des Deutschen Reiches von den anderen Großmächten nur in beschränktem Umfang Expansionsmöglichkeiten eröffnet wurden.

    So gewann angesichts des seit Jahren anhaltenden Wettrüstens in Deutschland zunehmend die Überzeugung an Boden, dieses Problem könne nur mit einem europäischen Krieg gelöst werden. An den sich dann auch noch andere Hoffnungen knüpften:

    In den konservativen Eliten und bei den Militärs kam zusätzlich die Erwartung ins Spiel, dass es im Kriegsfalle gelingen werde, die sozialdemokratische Arbeiterbewegung zu unterdrücken, wenn nicht sogar zu zersprengen. Infolgedessen bedurfte es nur eines an und für sich zweitrangigen Konfliktes, um den angehäuften Zündstoff innerhalb des europäischen Mächtesystems zu einer Entladung zu bringen.

    Dies war bekanntermaßen das Attentat auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand in Sarajevo am 28. Juni 1914. In den Tagen darauf stimmten vor allem die Funktionseliten in eine erstaunliche Begeisterung für einen Waffengang ein – dafür steht in Deutschland beispielsweise die umfassende Beteiligung der Intellektuellen an der "geistigen Mobilmachung". Und vielleicht lag es an dem zweifelhaften Vorbild vieler Professoren, dass die Studenten – die sich in Scharen als Freiwillige meldeten –, unter den Weltkriegsteilnehmern deutlich überrepräsentiert waren. Diese anfängliche Begeisterung ergriff nach Ansicht des französischen Historikers Stéphane Audoin-Rouzeau allerdings nicht nur die Studenten, sondern auch Kinder und Jugendliche:

    In allen kriegführenden Ländern scheint sich bei einigen Kindern mitunter ein 'Drang zum Heldentum’ manifestiert zu haben, wobei sie danach strebten, es dem Vater, dem Onkel oder dem älteren Bruder gleichzutun. Umgesetzt wurde dieser Prozeß wohl am häufigsten in Frankreich, auf dessen Territorium die Front verlief. Das 'heldenhafte Ausreißen’ von zu Hause setzte bereits 1914 ein. [...]. An mehreren Pariser Schulen wurde das Problem in den Jahren 1914-1916 derart akut, dass in den Schulen eine Untersuchung vorgenommen wurde, um das Phänomen überhaupt zu verstehen und zu interpretieren.

    Wenn auch nicht der Krieg selbst ein jugendliches Gesicht hatte (und angezettelt wurde er ja bekanntermaßen eher von den älteren Herren), so hatte es ohne Frage das Sterben. Für die französischen Rekruten der Jahre 1914 und 1915 – im Durchschnitt 20 Jahre alt – geht man davon aus, dass ein knappes Viertel von ihnen getötet und die übrigen drei Viertel verwundet wurden. Nicht nur über den Umfang des Tötens, auch über die Art des Sterbens geben die Beiträge des Buches Auskunft. Der Bochumer Historiker Benjamin Ziemann hat sorgsam herausgearbeitet, wer wen mit welchen Waffen tötete. Drei Viertel aller Verwundungen bei der deutschen Armee seien demnach Folgen von Artilleriebeschuss.

    Infanteriemunition verursachte dagegen nur rund 16 Prozent, Handgranaten 1-2 Prozent und Giftgasangriffe knapp 1,7 Prozent aller Verwundungen im deutschen Herr. Durch die blanke Waffe (Säbel, Dolch, Seitengewehr) wurden über den ganzen Krieg gesehen gerade einmal 0,1 Prozent aller Wunden beigefügt.

    Solche peniblen Auflistungen mögen auf den ersten Blick befremden, doch sie sind eine wichtige Hilfe, wenn es darum geht, den bis heute bestehenden Mythen über den Kampf des Frontsoldaten zu begegnen.

    In Kriegsromanen und anderen Formen der populären Darstellung des Krieges kursieren unzählige Geschichten über Soldaten, die ihre Aggressionen gegen den Feind beim Sturmangriff auf grauenhafte Weise entluden, indem sie mit dem Bajonett in dessen Körper eindrangen. Töten als Handarbeit, ob aus entfesselter Gewaltbereitschaft oder aus Notwehr, war aber zumindest an den Hauptschauplätzen des Weltkrieges in der Realität eine sehr seltene Ausnahme. Dies gilt ebenso wie für das Giftgas, ein Kampfmittel, das allein wegen seiner Unberechenbarkeit und Unsichtbarkeit panikartige Reaktionen auslösen konnte und die Phantasie der Soldaten mit Furcht erfüllte.

    Die psychische Belastung der Kämpfenden mündete deshalb oft genug in der Bitte um göttlichen Beistand. Wie sehr sich allerdings diese Hoffnung auf jenseitige Hilfe oder Erlösung unter den Bedingungen des Krieges wandelte, zeigt die Pariser Historikerin Annette Becker in ihrem besonders gelungenen Beitrag über die Religion im Krieg. Sie zeigt, dass die These von einer wie auch immer gearteten Belebung des schon zuvor bestehenden christlichen Glaubens angesichts der Fronterlebnisse zu kurz greift:

    Die Konfrontation mit diesen Erfahrungen reaktivierte eine frühere Gläubigkeit ebenso wie den 'Aberglauben’ von Menschen, die noch nahe an ihren oftmals ländlichen Ursprüngen lebten. Zwischen traditionell praktiziertem Glauben und Spiritismus, zwischen Gebeten und Amuletten, zwischen dem Leiden Christi und der Fürsprache der Heiligen, zwischen gewöhnlicher Frömmigkeit und Zeichen des Außergewöhnlichen entfaltete sich der ganze Formenreichtum einer spezifischen Kriegsreligion.

    Wenn man so will, bot sich dem Weltkriegssoldaten eine breite Palette von mentalen Sicherheiten, aus denen er auswählen konnte.

    Es liegen zahlreiche Berichte von Soldaten vor, die von einem besonderen Schutz erzählen, unter dem sie in Notsituationen gestanden hätten: Einige waren überzeugt, eine mit der Korrespondenz ihrer Verlobten vollgestopfte Brieftasche habe ihnen das Leben gerettet, weil sie sie vor Granatsplittern geschützt habe; andere glaubten an den Beistand der Heiligen Jungfrau, die Heiligen, an ein Amulett oder an ein abgeschriebenes Gedicht.

    An solchen Dingen mussten viele Soldaten Halt suchen, denn ein Entkommen aus dem mörderischen Treiben durch Fahnenflucht war kaum möglich. Gerade im Stellungskrieg an der Westfront gab es kaum eine Gelegenheit, aus der Frontlinie zu desertieren. Demzufolge lag die Zahl der Desertionen – über deren Umfang keine gesicherten Erkenntnisse vorliegen – bei den so genannten Heimattruppenteilen wesentlich höher. Und wenngleich nach dem Krieg etwa in Deutschland von verschiedenster Seite der politische Aspekt der Fahnenflucht beschworen wurde (die KPD wertete sie als Zeichen revolutionäre Gesinnung in der deutschen Armee, die Rechte wiederum als Beleg für eine vermeintlich "zersetzende Wühlarbeit" der Linken), so sind die tatsächlichen Gründe der Deserteure bis heute schwer zu ermitteln. Aus gutem Grund:

    Das Vertuschen der wahren Motive gehörte zu den Überlebensstrategien eines Deserteurs, weil ein Verweis auf private Ursachen mehr Milde seitens der Militärrichter versprach als die Angabe politischer Motive. Allerdings scheinen die Motive tatsächlich überwiegend im privaten Bereich gelegen zu haben. Vorherrschend waren die Sehnsucht nach der eigenen Familie, aber auch die Unzufriedenheit mit dem Kriegsdienst, Ärger über Vorgesetzte und Kameraden oder nicht gewährten Urlaub.

    Solche Informationen – kurz und prägnant – finden sich im lexikalischen Teil dieser Enzyklopädie, der etwa zwei Drittel des Werkes ausmacht. Aufgenommen haben die Herausgeber über 650 Einträge zu Personen, Ländern, Begriffen und Ereignissen. Die Texte sind zuweilen nur wenige Zeilen lang, andere – wie etwa zum Stichwort "Streitkräfte", das alle kriegsführenden Nationen umfasst – nehmen mehrere Seiten in Anspruch. Diese lexikalischen Einträge bilden eine notwendige Ergänzung zu den essayistischen Überblicksdarstellungen, die eben nicht auf jene Details eingehen können, die doch für unser Wissen über den Ersten Weltkrieg nicht unerheblich sind. Etwa in jenem Beitrag, der sich unter dem Stichwort "Hochspannungszaun" findet. Diesen errichteten die deutschen Besatzer auf einer Länge von 180 Kilometern entlang der belgisch-niederländischen Grenze:

    Der mit rund 2.000 Volt geladene, zwei Meter hohe Stacheldrahtzaun, zwangsfinanziert durch die belgischen Kommunen und errichtet durch Zwangsarbeiter, schloß Belgien ab September 1915 bis Kriegsende vollständig von den neutralen Niederlanden ab. Bis Oktober 1918 starben am Hochspannungszaun mehrere hundert, zumeist belgische Flüchtlinge. Hinzu kamen Personen, die von den deutschen Posten beim Grenzübertritt gefasst und standrechtlich erschossen wurden.

    Der Einsatz von Zwangsarbeitern – nicht nur bei der Errichtung dieses "Todeszauns" – war schon im Ersten Weltkrieg ein durchaus verbreitetes Phänomen; hier spricht die Forschung zu Recht von einem Probelauf für den Zweiten Weltkrieg. So verstärkten vor allem die Vertreter der deutschen Industrie ihren Druck auf die Militärbehörden, Arbeitskräfte aus den besetzten Gebieten ins Land zu holen. So forderte etwa Carl Duisberg, Generaldirektor der Bayer Farbenfabriken, endlich das "große Menschenbassin Belgien" zu öffnen. Das geschah schließlich im Winter 1916.

    Unter den ca. 60.000, teilweise unter chaotischen Umständen nach Deutschland verschleppten Belgiern befanden sich keineswegs nur Arbeitslose; darunter waren zahlreiche Menschen, die zu den geforderten Arbeiten weder hinsichtlich ihrer beruflichen Qualifikation noch gesundheitlich in der Lage waren. Bis März 1917 war nur ein Bruchteil der Deportierten in Arbeitsstellen vermittelt worden, die Mehrheit befand sich unter desolaten Bedingungen in Sammellagern.

    Tatsächlich erwies sich die deutsche Deportationspolitik ökonomisch wie politisch als kontraproduktiv. In den anderen Ländern wuchs derweil die Wahrnehmung der von Deutschland begangenen Gräuel. Um diese für die Zeitgenossen zu dokumentieren, erschienen schon während des Krieges auf alliierter Seite erste Handreichungen für einen "Schlachtfeldtourismus":

    Bereits während des Krieges waren in Frankreich die ersten Michelin-Reiseführer zu einzelnen Frontabschnitten erschienen. Allerdings berichteten sie von Schauplätzen, an die nur wenige Menschen tatsächlich reisen konnten.

    Nach dem Krieg erschienen diese Bücher neu – nun aber unter Auslassung der Kriegspropaganda. Jetzt sollten sie den Angehörigen eine Hilfe sein, die Orte der Schlachten und das Grab eines Getöteten besuchen wollten. Und so trafen sich seit Mitte der 1920er Jahre Familien aus allen ehedem kriegführenden Nationen auf den Schlachtfeldern wieder, auf den Friedhöfen und an den Gedenkstätten, mit deren Bau bald nach Kriegsende begonnen wurde.

    Für die trauernden Angehörigen war die – für manche nur einmal im Leben mögliche – Reise zu den ehemaligen Schlachtfeldern häufig ein großer Schock: Das Ausmaß der Zerstörung und die Zahl der Opfer wurden vielen von ihnen erst vor Ort bewusst. Endlose Reihen von Grabkreuzen – bei einem größeren Friedhof bis zu 30.000 – und die Vielzahl der Friedhöfe veranschaulichten, was vormals nüchterne Gefallenenstatistik gewesen war.

    Neun Millionen Soldaten wurden in diesem Krieg getötet – und wohl etwa sechs Millionen Zivilisten. Über die politischen Prozesse, die dieses Töten provozierten, und über die tatsächlichen Bedingungen des Krieges für die Menschen auf allen Seiten berichtet diese "Enzyklopädie Erster Weltkrieg" gleichermaßen verlässlich wie lesenswert. Die Herausgeber haben die Beiträge von 146 innen und en aus 15 Nationen zu einem erstaunlich homogenen Band vereint, der dank einer großzügigen und klugen Auswahl von Bildern und Karten reich illustriert ist. Weniges fehlt in diesem monumentalen Werk – dazu zählt leider die angemessene Betrachtung der deutschen Annexionsphantasien für Osteuropa. Dafür zeichnen sich die allermeisten der Beiträge dadurch aus, dass sie ihr Thema nie aus einem verengten militärimmanenten Blickwinkel betrachten. Das Ergebnis ist ein überzeugendes Stück zeitgenössischer Militärgeschichtsschreibung, wenn man so will: ein gelungenes Beispiel für eine Zivilisierung der klassischen Kriegsgeschichtsschreibung.

    Tillmann Bendikowski über die "Enzyklopädie Erster Weltkrieg". Sie wird von Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich und Irina Renz herausgegeben und ist erschienen im Paderborner Verlag Ferdinand Schöningh. Das Nachschlagewerk umfasst 1002 Seiten und kostet 78 Euro.