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Gerontopsychiatrie
Auch ältere Menschen haben ein Recht auf Therapie

Ängste, Depressionen oder psychosomatische Erkrankungen können jeden treffen. Was kaum jemand weiß: Grundsätzlich stehen auch alten Menschen alle Therapieformen zur Verfügung, von Psychoanalyse über Verhaltenstherapie zur Systemischen Therapie. Doch nicht jede Behandlungsform ist für jeden geeignet.

Von Mirko Smiljanic | 21.05.2019
Eine alte Frau schiebt in Berlin einen Rollator.
Einsamkeit, das Gefühl nicht mehr gebraucht zu werden: Auch viele ältere Menschen leiden unter Depressionen (pa/dpa/Pedersen)
Natürlich scheuen sich die meisten, es offen zu sagen, gedacht haben es wahrscheinlich aber schon viele: Für den 73-Jährigen eine Verhaltenstherapie beantragen? Für die 81-Jährige eine Analytische Psychotherapie? Lohnt sich das?
"Wenn ein älterer Mensch zu mir kommt mit 70 oder 75 oder auch 80 und der sagt, die sagen mir alle, das lohnt sich nicht mehr, dann sage ich, wissen Sie, wenn Sie Pech haben, werden Sie 100, dann haben Sie mindestens noch 20, 25 Jahre Zeit! Es lohnt sich in jedem Lebensalter, wenn eine sinnvolle Indikation ist, eine Psychotherapie mit alten Menschen durchzuführen."
Es kann jeden treffen
Ängste, Depressionen und psychosomatische Leiden – so Professor Rolf Hirsch, Psychoanalytiker und Facharzt für Nervenheilkunde in Bonn – lassen sich gleichermaßen beim 35-Jährigen wie bei einer 75-Jährigen behandeln. Allerdings variieren die Ursachen der Erkrankungen.
"Alte Menschen leiden auf der einen Seite aus posttraumatischen Belastungsstörungen aus Kriegs- und Nachkriegszeit, aus schwierigen Familienkonstellationen, mit zunehmendem Lebensalter auch an Einsamkeit, Not, man braucht uns nicht mehr, ich habe keine Aufgabe mehr, ich bin in der Gesellschaft überflüssig. Und manche haben dann leichte kognitive Störungen und merken, dass sie zunehmend abhängiger von andern werden."
Grundsätzlich stehen alten Menschen alle Therapieformen zur Verfügung. Von der Psychoanalyse über die Verhaltenstherapie bis zur Systemischen Therapie – alles ist möglich. Einzige Voraussetzung: Die Patienten müssen dem Therapieverlauf folgen können.
"Wenn es in Richtung kognitive Einbußen schon geht, so in den Anfangs- und Übergangsstadien zu demenziellen Erkrankungen, ist es hilfreich, die verbale Ebene auch schon zu verlassen, auch mit non-verbalen Medien zu arbeiten. Musik ist sehr hilfreich, Bewegung ist sehr hilfreich. Niederschwellige Zugänge zur Psychotherapie kann auch Physiotherapie und dann Übergang in Tanz- und Bewegungstherapie sein", sagt Dr. Jacqueline Minder, Chefärztin der Klinik für die Psychiatrie älterer Menschen im Kantonsspital Winterthur, Schweiz.
Mehr als Problembewältigung
Auf der einen Seiten sollen psychotherapeutische Angebote alte Menschen fit für den Alltag machen, für das Leben in der eigenen Wohnung, für Kontakte zu Freunden, für den Umgang mit ihren Enkeln und so weiter. Auf der anderen Seite kann Psychotherapie aber auch helfen, schwere Entscheidungen zu treffen, so Jacqueline Minder.
"Es ist extrem schwer für einen Menschen, der sein Leben lang selbstständig und autonom gelebt hat, Hilfe zulassen zu müssen. Noch viel schlimmer ist es, sein Heim verlassen zu müssen und in ein Heim eintreten zu müssen. All diese Schritte haben Potenzial für Trauma-Reaktivierungen oder neue posttraumatische Belastungsstörungen. Das heißt, auch da haben wir psychotherapeutische Ziele, den Menschen ihren nächsten Schritt, helfen zu bewältigen."
Mit offenen Ohren zuhören
Die Erfahrung vieler Teilnehmer auf dem Jahreskongress zeigt: Die Psychotherapie mit alten Menschen funktioniert. Über eines müssen sich die Therapeuten aber im Klaren sein: Sie sitzen Menschen mit prall gefüllten Leben gegenüber, mit Erfahrung und Wissen, das sie selbst nicht haben.
"Dann darf man nicht als der Experte auftreten und sich über den Patienten stellen, weil er der Fachmann ist, nein, nein, nein, der Patient ist in dem Fall Fachmann für sich selber und für seine Geschichte, die er erlebt hat. Wo es gut tut, wenn der junge Therapeut mit offenem Ohr erst mal zuhört und versucht zu verstehen, aus welchem gelebten Leben heraus, der Patient die Psychopathologie entwickelt hat, die er heute hat."