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Gesang vom großen Feuer

Titel sind Glückssache. Erklärbar, wie der Verlag auf den Titel "Gesang vom großen Feuer" kam. Die Assoziationen liegen nahe: das "große Feuer", das umschreibt die Schrecken der Materialschlachten, des Ersten Weltkriegs; die Redewendung, daß jemand "im Feuer" gewesen sei, bezeichnete nach 1918 in England und Frankreich die Zugehörigkeit zur Frontsoldatengeneration; auf dem Umschlag ist Otto Dix' "Gewitter am Abend" mit dem erdrückenden Feuerhimmel abgebildet, Dix hat eindrucksvolle Bilder vom dreckigen Soldatensterben in Flandern, vom Inferno aus Schlamm und Verwesung, von der Zerstücklung, der Materialisierung und Verpulverung des Menschen im Fegefeuer der Granaten hinterlassen - und es gelingt dem jungen Schriftsteller Sebastian Faulks, den Leser in diese menschengemachte Höllenwelt von damals zurückzuversetzen, so daß jeder Lesespass aufhört und die Geschichte anfängt, ungemütlich zu werden, ohne an Spannung zu verlieren, im Gegenteil: die geschichtliche Realität, daß das Schlachtfeld eine stinkende Müllhalde ist, eine blutige Klärgrube, ohne Sinngebung des Sinnlosen, schließt nicht die Hoffnung aus, daß dem Romanhelden das Überleben im Massentod gelingt; Sinn im Inferno, nicht Sinn des Infernos.

German Werth |
    Der englische Originaltitel heisst "Birdsong". Die englischen Soldaten, von deren Schicksal hier zuerst an der Somme 1916, dann in Flandern 1917 die Rede ist, stürmen nicht siegreich vorwärts, sie gehören Einheiten von Bergleuten an, die tief unter der Erde Stollen beziehungsweise Tunnel vertreiben, um bei Angriffen durch Minensprengungen Breschen in die Front des Feindes zu schlagen . Noch heute können an der Somme in Frankreich, bei Messines oder bei St. Loi in Flandern, die Riesenlöcher dieses Maulwurfkrieges besichtigt werden wie Kratereinschläge von außerirdischen Meteoriten. Diese Wühlerei im Dunkeln scheint noch die Schrecken "oberhalb"' des Stellungskrieges zu übertreffen.

    In den nicht einmal mannshohen Röhren, in denen sich die Soldaten, nach Luft ringend, nach Schweiß und Urin stinkend, kriechend aneinander vorbeipressen, die Säcke mit dem Abraum hinter sich im Schlepp, ist die Angst vor dem Erstickungstod, die Angst, lebendig begraben zu werden, ständiger Begleiter, denn auch der Gegner versucht, die Tunnelbauer von der anderen Seite aufzuspüren, durch Konter-Sprengungen abzuquetschen. Hinter alledem steht nicht die Liebe zum Vaterland oder der Feindhaß, sondern das eiserne Gesetz von Befehl und Gehorsam, das Kriegsgericht. Vielen erschöpften Soldaten ist es bald egal, ob sie vom Gegner oder von den eigenen Leuten erschossen werden. Wer etwa den Käfig mit dem Kanarienvogel zurückläßt, der am Kopfende des Tunnels mitgeführt wird, um an seinem Verhalten Gefahren durch "Wetter", Gas, Sauerstoffknappheit "abzulesen", muß mit dem Kriegsgericht rechnen. In dieser Unterwelt, in der die Soldaten nur ihr eigenes Grab zu schaufeln meinen, wird die Hölle oben zum Paradies. In einem Tuchfetzen, den er mit den Zähnen festhält um die Hände freizuhaben, bringt Leutnant Stephen - der Held des Romans - nach einem Tunneleinsturz diesen Vogel, selbst halbtot, ans Tageslicht zurück, "der kleine Kanarienvogel vollführte matte Bewegungen und die Federn streichelten sein Gesicht, er (Stephen) sehnte sich nach dem Matsch und Gestank, nach dem Heulen der Geschosse!" "Birdsong" - solange der Kanarienvogel zwitschert, ist noch Leben.

    Erster Weltkrieg - über das alles ist schon einmal geschrieben worden, so gut wie über alles, mehr als einmal - man muß offensichtlich versuchen, noch einmal darüber zu schreiben, als wär's das erste Mal. Die literarische Nahrungskette allerdings ist lang, die Vorläufer, Vorbilder sind erdrückend. Faulks hat ganz naiv versucht, noch einmal vom "Großen Krieg", wie die Engländer und Franzosen sagen, zu erzählen, als gäbe es sie nicht, die großen Vorgänger, Überväter, deren Romane in diese Tradition gehören, in der einer vom anderen profitiert, die Unbedeutenden, die Zweitrangigen verschlungen, vergessen werden: Faulkner mit dem Roman "Soldatenlohn", Dos Passos mit "Three Soldiers", Trumbo mit "Johnny Gets His Gun" ("Süß und ehrenvoll"), oder Cummings, Aldington, Ranke-Graves, Finley und wie sie alle heißen; Humphrey Cobbs Roman "Wege zum Ruhm" blieb als Vorlage zu Kubricks erstem Film mit Kirk Douglas in Erinnerung, die Ondaatje- und Hemingway-Verfilmungen profitiere von dieser Tradition, an die zuletzt Pat Barker mit ihrer Weltkriegstrilogie anknüpfte, von der 1997 "Niemandsland" auf deutsch erschien. Und nur bei ihr schien noch der Weltkrieg erzählbar als Trauma, als Seelenschäden bei Soldaten, die in einer Klinik wieder für die Front fit gemacht werden, anhand von Behandlungsmethoden der Mediziner, der furchtbaren Helfershelfer der Generäle, dieser Massenschlächter; indirekt gebrochen dargestellt, nicht mehr als realisitischer Bericht des "Als ob" anschaulicher Selbsterfahrung, nämlich "als ob" es so gewesen sei. Für deutsche Leser ein befremdliches Phänomen, wie Thomas Medicus schrieb,: "Schließlich leben wir in einem Land, das im Gefolge ritualisierter Erinnerung immer geschichtsvergessener wird, Spaßkultur grassiert". Gut - aber hat nicht hier bei uns der Zweite, der totale Weltkrieg, mit seinen Massenverbrechen auf deutscher Seite, sich wie ein Riegel quer zu Darstellungen dieser Art gelegt, ist nicht die Romanliteratur über den Ersten Weltkrieg belastet durch das penetrant charismatische Sendungsbewußtsein deutscher Autoren, die der Apokalypse einen höheren Sinn unterschoben, anstatt - wie Faulks schlichtweg eine "viehische Perversion des Lebens" zu konstatieren?

    Sebastian Faulks Stärke ist sein Realismus, seine Schwäche die formale Konzeption. Sein Roman beginnt 1910 in Amiens, wo der Romanheld Stephen Wraysford, ein junger Engländer, in einer Fabrik eine Art Volontariat absolviert, um die französische Textilbranche zu studieren. Statt dessen verführt er die Frau des Fabrikanten, reißt sie aus ihrer bürgerlich-unbefriedigten Existenz - das liest sich fast wie ein Konsalik und ist auch nicht weiter von Belang. Mal schaut Faulks aus dem Helden heraus, um psychologisch zu erklären, mal schaut er auf ihn herunter wie der Iiebe Gott, die Indifferenz dieses Stephen soll wohl irgendwie ein Gestaltungsprinzip sein, bleibt jedoch uninteressant, kann vielleicht besagen, daß der Krieg weder "Männer" macht noch ein biographisches "Urerlebnis" bedeutet. Am Schluß des Romans sind wir durch einen kräftigen Schnitt in der Gegenwart gelandet, im Jahr 1978, bei der unverheirateten 38jährigen Elisabeth, die die verschlüsselten Aufzeichnungen ihres Großvaters findet , eben jenes Stephen, und nun auf den ehemaligen Kriegsfeldern an der Somme, bei Bapaume, Albert und Thiepvall den Spuren jener "Generation von 1914" nachgeht, wie es die englischen Touristen ja noch immer Jahr für Jahr tun, ohne zu begreifen, was jene Soldaten damals bewegte, wie Stephen prophezeite während doch der Leser gerade nach 300 Seiten Schlachtbeschreibung sehr genau weiß, was sich damals abspielte. Faulks hat dem Roman Botschaften auf den Weg gegeben: Versöhnung der Gegner über den Gräbern (Stephen wird von einem Deutschen, der Levi heisst, vor dem Erstickungstod gerettet und begräbt buchstäblich seinen Deutschenhaß); Elisabeth bekommt ein Kind, was mancherlei bedeuten kann: "Neuer Mensch, neues Leben". Oder "Das Leben geht weiter! Oder "Laßt die Toten die Toten begraben". Auf jeden Fall Platitüden. Man kann sich auch vorstellen, jene Elisabeth wäre gleich auf den ersten Seiten, "heute" gewissermaßen, auf das "Tagebuch aus dem Krieg" gestoßen, und ihr Scheitern, die Unmölichkeit, die Vergangenheit zu rekonstruieren, das Erstarren in der vorsortierten Erinnerungskultur wäre Schritt für Schritt von Faulks zum Thema gemacht worden. Aber das wäre auch ein anderes Buch.