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Pflege-Skandal in Frankreich
Auch in Deutschland negative Folgen der Privatisierung

Angesichts gravierender Vorwürfe gegen eine Betreiberfirma von Altenheimen kündigt Frankreichs Regierung Untersuchungen an. Auch in Deutschland werde kritisch über Folgen der gewinnorientierten Pflegeheimbetreiber diskutiert, sagte der Sozialwissenschaftler Stefan Sell im Dlf.

Stefan Sell im Gespräch mit Katrin Michaelsen |
Stefan Sell, Sozialwissenschaftler, sitzt am 01.03.2015 in Berlin im Gasometer in der ARD-Talkreihe Günther Jauch. Das Thema der Sendung lautete: 8 Euro 50 - funktioniert der Mindestlohn? Foto: Paul Zinken/dpa | Verwendung weltweit
Der Forscher und Sozialexperte Stefan Sell (dpa)
Frankreichs Regierung will handeln. Bis Ende des Monats sollen Vorschläge auf dem Tisch liegen, um gegen Missstände in Pflegeeinrichtungen vorzugehen. Der Journalist Viktor Castanet hatte in seinem Buch „Die Totengräber“ über unhaltbare Zustände in den Einrichtungen alarmiert. So berichtete er über angebliche Pflegefehler und rationierte Hygieneartikel.
Brigitte Bourguignon, die für Senioren zuständige beigeordnete Ministerin, kündigte außerdem zwei groß angelegte Untersuchungen durch die Behörden beim Pflegekonzern Orpea an.

Berichte über erschreckende Zustände in Frankreich

Seit der Veröffentlichung sind weitere Vorwürfe von Pflegekräften und Angehörigen erhoben worden. Auch in Deutschland habe es in den Heimen des Anbieters Orpea "immer wieder Berichte über systematische Mängel" gegeben, sagte Stefan Sell, Professor für Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik und Sozialwissenschaften an der Hochschule in Koblenz, im Deutschlandfunk.
Frankreich - Profitgier in Pflegeheimen von Orpéa (02.02.2022)
Französische Pflegekonzerne seien aufgrund der frühzeitigen Privatisierung in Frankreich mit einem "Zeitvorteil" gestartet. Man dürfe sich nicht auf die Selbstkontrolle der Heimbetreiber verlassen. Sell berichtete von Staaten, die sich von der Privatisierung in der Pflege abgrenzen und rekommunalisieren.

Das vollständige Interview:

Katrin Michaelsen: Das Geschäft mit der Pflege und die fehlende staatliche Kontrolle auf Kosten der Bewohner und des Personals – was läuft da schief?

Stefan Sell: Leider müssen wir zur Kenntnis nehmen – und das schon durch eine Berichterstattung über viele Jahre hinweg –, dass dahinter tatsächlich leider ein System steht. Wir haben schon seit vielen Jahren eine zunehmende Privatisierung vor allem der Altenpflege in vielen europäischen Ländern. Frankreich war übrigens mit skandinavischen Ländern Vorreiter bei der Privatisierung der Altenpflege. Und auch in Deutschland haben wir seit vielen Jahren eine sehr kritische Diskussion über die Folgen der renditeorientierten, privaten, gewinnorientierten Pflegeheimbetreiber.

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Man kann deswegen von einem System sprechen, weil wir - vereinfacht gesagt - die Situation haben, dass Sie mit der Pflegebetreuung, mit der Versorgung der alten Menschen, die in den Heimen sind, müssen Sie jetzt nicht nur Ihre Kosten, die Sie haben vor allem für Personal, refinanzieren, sondern Sie müssen ja, wenn Sie gewinnorientiert sind, auch noch Gewinne aus dem Betrieb der Heime ziehen. Das ist auch grundsätzlich in Ordnung, wenn das normale Gewinne sind, zwei, drei Prozent oder vier wären normal, die braucht man auch betriebswirtschaftlich. Aber diese Konzerne, die jetzt im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen, die haben teilweise Renditen von zehn und mehr Prozent, die natürlich an anderer Stelle fehlen.

Die Folgen der Privatisierungswelle in der Pflege

Michaelsen: Sie haben den besonderen Standort Frankreich erwähnt, in diesem Fall ging es um den Konzern Orpea. Es gibt aber auch noch andere französische Konzerne, die in anderen europäischen Ländern Einrichtungen betreiben, Colisee ist ein Name oder auch Korian. Warum sind es eigentlich die französischen Konzerne, die den europäischen Pflegemarkt so dominieren?
Sell: Ja, wir haben tatsächlich die Situation, dass ausgehend von der sehr frühzeitigen Privatisierung und Ermöglichung, dass gewinnorientierte Anbieter auch auf dem Pflegemarkt tätig sein können, das war schon in Frankreich sehr frühzeitig, auch in Schweden ist man interessanterweise diesen Weg gegangen. Deswegen kommen auch die meisten internationalen Investoren auf dem deutschen Pflegemarkt auch vor allem aus französischen oder skandinavischen Ländern. Das hängt also quasi mit dem Zeitvorteil zusammen.

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Wir haben in Deutschland diese Entwicklung, dass sich die privaten, gewinnorientierten, vor allem die renditeorientierten Pflegeheimkonzerne ausbreiten, erst seit Mitte der 1990er-Jahre mit der Einführung der Pflegeversicherung. Früher war Altenpflege bei uns im Wesentlichen Geschäft der Kommunen und der Kirchen. Dann hat man 1995 die Pflegeversicherung eingeführt, da gab es eine erste Privatisierungswelle, das waren aber oftmals Pflegekräfte, die sich selbstständig gemacht haben und ein oder maximal zwei kleine Häuser betrieben haben. Seit den 90er-Jahren, vor allem seit den 2000er-Jahren sehen wir, dass immer mehr Finanzinvestoren in dieses für sie absolut krisensichere Geschäft einsteigen. Weil Sie Orpea als Ausgangspunkt genannt haben, darf ich daran erinnern, dass Orpea auch in Deutschland 143 Pflegeheime betreibt und damit der viertgrößte Anbieter ist. Auch in Deutschland in den Orpea-Heimen gab es immer wieder Berichte über systematische Mängel. Zu Frankreich, um Ihre Frage abzurunden: Es hängt auch immer an der anderen Seite, wir müssen, und darüber diskutieren die Franzosen derzeit auch, auch ein Staatsversagen konstatieren. Ich will nur darauf hinweisen, dass das natürlich immer auch eine Frage der Kontrolle ist, und in Frankreich haben wir die Situation, dass man in den vergangenen Jahren die Zahl der sowieso schon wenigen Prüfenden noch verringert hat, mittlerweile gibt es nur noch 200 Prüfärzte und Prüfexpertinnen, die in ganz Frankreich für Tausende von Pflegeeinrichtungen zuständig sind. Na ja, wir brauchen, glaube ich, nicht lange nachzudenken, was das bedeutet, das bedeutet Nicht-Kontrolle.

Sogar Brotaufstrich in Heimen wird rationiert

Michaelsen: Das heißt, der Staat hat in diesem Fall versagt, die Kontrolle zu organisieren?
Sell: Ja, man hat … Im Prinzip läuft dieses Ausdünnen der Kontrolle auf eine Logik hinaus, dass man auf die Selbstkontrolle der Heimbetreiber sich verlässt. Und ich muss an dieser Stelle sagen, selbstverständlich würde sich jeder von uns über externe Kontrolle nicht freuen und würde sie unangenehm finden, aber wir reden hier nicht über eine Schraubenfabrik oder eine Dosenfabrik, sondern wir reden hier über die verletzlichsten Glieder in der menschlichen Biographie: Alte, sehr Alte oft orientierungslose Menschen, die vollständig auf die Sorge angewiesen sind, mit der man ihnen begegnen sollte. Das kann man nicht auch noch renditeorientierten Konzernen überlassen, die in ihrem System gezwungen sind, durch Einsparungen Renditen, die über dem Durchschnitt liegen, zu erwirtschaften. Und wenn Sie wissen, dass normalerweise mindestens 70 Prozent der Kosten eines Pflegeheims Personalkosten sind und Sie sehen bei Orpea und den anderen großen Pflegekonzernen Personalkostenanteile von 50 Prozent, dann braucht man nicht lange nachzudenken, um zu verstehen, dass ein Teil dieser überbordenden Renditen aus der Verringerung des Personals oder einer schlechteren Bezahlung oder beidem zusammen realisiert wird - bis hin zu dem, was jetzt auch in Frankreich beschrieben wurde, dass selbst die Margarine oder der Brotaufstrich rationiert wird.

Positivbeispiele Norwegen und Österreich

Michaelsen: Gibt es Länder in Europa, wo diese globalen Großkonzerne wie Orpea nicht Fuß gefasst haben, wo sie keine Einrichtungen eröffnet haben – und womit hat das zu tun?
Sell: Die gibt es, nehmen wir zwei Beispiele: Norwegen ist hingegangen und hat nach einer solchen kritischen Diskussion über die Bedingungen in den gewinnorientierten Heimen gesagt, das machen wir nicht mehr mit, wir rekommunalisieren die Heime wieder, wir nehmen die wieder in öffentliche Verantwortung. Und große schwedische Heimketten haben daraufhin den norwegischen Markt verlassen. Und gehen Sie in unser Nachbarland Österreich, dort haben wir im Burgenland die Situation, dass man dort entschieden hat vor einiger Zeit, dass mit einer gewissen Übergangszeit in Zukunft der Betrieb von Pflegeheimen nur noch dann gestattet wird, wenn er eben auf gemeinnütziger Basis stattfindet, also auf nicht gewinnorientierter Grundlage. Das sind alles Folgen von bewussten politischen Entscheidungen. Wir haben in Deutschland die Situation, dass man noch nicht einmal von offizieller Seite aus irgendwelche Zahlen hat, wie viel Gewinne aus wohlgemerkt Steuer- und Beitragsmitteln und den Mitteln der Pflegebedürftigen für internationale Konzerne abgezweigt werden, weil es hier schlichtweg keine Regulierung gibt dieses Marktes und die wirklich vor sich hinwuchern können.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.