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Geschichte aktuell:

Am 7. September 1951 sind die Verfassungsorgane des Bundes komplett. Nach Bundespräsident, Bundestag, -rat und –regierung gibt es jetzt auch ein Bundesverfassungsgericht. Die ersten der damals noch 24 Richter bekommen ihre Ernennungsurkunde ausgehändigt und beginnen sofort damit, die drängendsten Verfahren zu bearbeiten – Hunderte sind schon eingegangen, bevor es das Gericht überhaupt gab.

Gudula Geuther | 07.09.2001
    Drei Wochen und einige Entscheidungen später, auf der Eröffnungsfeier am 28. September, erinnert Bundeskanzler Konrad Adenauer die Richter daran, dass es für das Bundesverfassungsgericht keine historischen Vorgänger gibt. Dass aber auch die jüngste Rechtsgeschichte mit Verquickungen von Justiz und Nationalsozialismus sich nicht zum Vorbild eignet. Die Richter werden sich ihre Aufgabe erst noch selbst formen müssen.

    Das Bundesverfassungsgericht hat nicht die Möglichkeit, aus früheren reichen Quellen der Erkenntnis und der Erfahrung, die eine gute Tradition jedem staatlichen Organismus - und besonders einem gerichtlichen Organ - gewährt, schöpfen zu können.

    Die Stunde Null kam spät für das Gericht. Zwei Jahre lang hatte das Parlament um ein Gesetz gerungen, dass die historisch unvergleichliche Machtfülle der Verfassungshüter in Bahnen lenken sollte. Und wäre nicht ein Schiedsrichter im Streit um die Schaffung eines Südweststaates aus Baden, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern nötig gewesen, wäre der Startschuss für das höchste Gericht wohl noch später gekommen. Der erste Gerichtspräsident, der frühere preußische Finanzminister Hermann Höpker-Aschhoff, versuchte, die Ängste zu zerstreuen, das Gericht würde von seiner Macht zu frei Gebrauch machen.

    Ein Staatsmann kann ein politisches Programm entwerfen und muss es tun, nicht aber ein Richter. Wir können nur versprechen, und das verspreche ich im Namen aller Richter des Bundesverfassungsgerichts, dass wir getreu dem geleisteten Eid unsere Pflicht tun wollen. Auf dass - um mit einem Worte der Schrift zu sprechen - Recht Quelle wie Wasser und Gerechtigkeit wie ein starker Strom.

    Eine schwierige Gratwanderung. Einerseits sollten die Interpreten des Grundgesetzes aus dem kargen Text ihrer rechtlichen Vorlage eine Verfassungsordnung schaffen. Und auf der anderen Seite durften sie nicht über die Stränge schlagen, wollten sie, dass ihre Entscheidungen Ernst genommen und befolgt würden. Ein Experiment, das aus heutiger Sicht alles in allem erstaunlich gut geglückt zu sein scheint.

    Ich glaube, dass spätestens nach diesem Urteil klar ist, dass es richtig ist, dass wir das Kindergeld anheben, und dass das nur der erste Schritt sein kann. Wir müssen mehr tun, und wir werden sicher eine Lösung suchen, die nicht zu teuer ist, aber richtig ist. Wir werden was tun, und das ist gut so. Daher begrüße ich dieses Urteil. Die Entscheidung ist zunächst einmal eine gute Entscheidung für die Familien. Wir wollten ja die Familien besser stellen, deshalb haben wir das Kindergeld erhöht. Die Entscheidung geht in die gleiche Richtung. Das zeigt ja jetzt, dass es in dieser Dimension, dass es auch finanziell eine große Dimension ist, dass eben über Jahre hinweg die Familien zu schlecht gestellt waren in diesem Land.

    Politikerreaktionen - die finanzpolitische Sprecherin der SPD Ingrid Matthäus-Maier, Finanzminister Oskar Lafontaine und das SPD-Fraktionsvorstandsmitglied Ulla Schmidt nach dem Beschluss von 1999, der eine steuerliche Besserstellung von Familien festschrieb. Eine fast schon typische Reaktion gemaßregelter Entscheidungsträger: Das Verfassungsgericht schafft das Recht, das die Politik nicht setzen wollte. Und erntet dafür noch Zustimmung und Vereinnahmung des Spruchs.

    Aber bei aller Akzeptanz ist und war die Arbeit des Verfassungsgerichts auch von teils herber Kritik begleitet. Auch lange vor den Entscheidungen, an die man heute in diesem Zusammenhang denkt, wie der zum Kruzifix in bayerischen Klassenzimmern und zum Tucholsky-Zitat "Soldaten sind Mörder". Angefangen beim ersten Bundeskanzler Konrad Adenauer, der sich regelmäßig an Urteilen aus Karlsruhe stieß.

    Das Kabinett war sich darin einig, dass das Urteil des Bundesverfassungsgerichts falsch ist, meine Damen und Herren. (Klatschen, Unruhe) - Meine Herren, Sie können doch wirklich nicht erwarten, dass ich mich hier hinstelle und sage: Das ist ein gutes Urteil. (Gelächter)

    Konrad Adenauer distanziert sich mit fast schon naiver Wortwahl vom ersten Fernsehurteil 1961. Mit der Entscheidung aus Karlsruhe enden nicht nur seine großen Pläne für eine Deutschland-Fernseh-GmbH.

    Die Entscheidung ist auch die erste in einem Teilbereich der Verfassungsordnung, der zu einem großen Teil aus der Feder der Verfassungsrichter stammt. Fast nur aus einem knappen Satz in Artikel 5 schaffen die Richter ein komplexes Gebäude der Rundfunkorganisation. Die wichtigste Folgerung aus dem Satz: "Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet" steht schon im Fernseh-Urteil.

    Artikel fünf verlangt jedenfalls, dass das moderne Instrument der Meinungsbildung weder dem Staate noch einer gesellschaftlichen Gruppe ausgeliefert wird.

    Das hieß: Staatsferne, also kein Regierungsfernsehen, wie Adenauer es wollte. Ganz abgesehen davon, dass die Richter die Kompetenz den Ländern zusprachen. Und, zentrale Folge: Die elektronischen Medien müssen pluralistisch organisiert sein, das heißt: Es muss dafür gesorgt sein, dass möglichst viele gesellschaftliche Strömungen und Meinungen aufgefangen werden.

    Über Jahrzehnte hin verfeinerten und verästelten die Richter die Anforderungen an diesen Pluralismus, an die Zusammensetzung der Aufsichtsgremien und auch an die Organisation. Für den Privatfunk hieß das zum Beispiel später: Weil das kommerzielle Interesse der Werbenden sich nicht an die breite Bevölkerung, sondern an finanzkräftige, kauffreudige Zuhörer und Zuschauer richtet, muss es gleichzeitig den öffentlich-rechtlichen Rundfunk geben, wie Roman Herzog als Gerichtspräsident erläuterte:

    Die Programme privater Anbieter vermögen der Aufgabe umfassender Information nicht in vollem Ausmaß gerecht zu werden. Zum anderen ist damit zu rechnen, dass die Rundfunkprogramme privater Anbieter Informationen nicht in der vollen Breite der Meinungen und kulturellen Strömungen vermitteln werden.

    War Adenauer also mit einem seiner Lieblingsprojekte gescheitert, erging es späteren Regierungen nicht viel besser. Die sozial-liberale Koalition musste schlucken, dass die Reform des Abtreibungsstrafrechts scheiterte, ebenso wie die Mitbestimmung an den Hochschulen oder die Wehrdienstverweigerung per Postkarte. Einen tragenden Pfeiler der Koalition, die Ost- und Deutschland-politik, ließen die Richter dagegen stehen.

    Dieser Vertrag entspricht der Lage. Er ändert nichts an den grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten mit der DDR. Er ändert nichts an der völkerrechtlichen Situation in Deutschland. Und selbstverständlich entspricht er auch dem Grundgesetz. Er baut keine neuen Hürden auf für die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts aller Deutschen. Aber er schafft viele Erleichterungen.

    Willi Brandt kommentiert 1972 den gerade ausgehandelten Grundlagenvertrag mit der DDR. Die wird zwar nicht völkerrechtlich anerkannt, aber mit seiner Feststellung, dass "zwei Staaten in Deutschland existieren" rührt der Kanzler an ein deutschland-politisches Tabu. Den Vertrag lassen die Verfassungsrichter zwar passieren. Aber mit dem deutlichen Hinweis: Mehr geht nicht. Wieder schaffen sie ein verfassungsrechtliches Gebäude, das diesmal auf der Präambel des Grundgesetzes beruht, die sie zum verbindlichen Rechtstext erklären. Das Urteil verkündet der Vizepräsident des Gerichts, Walter Seuffert:

    Dem Vorspruch des Grundgesetzes kommt nicht nur politische Bedeutung zu, er hat auch rechtlichen Gehalt. Die Wiedervereinigung ist ein verfassungsrechtliches Gebot. Aus dem Wiedervereinigungsgebot folgt zunächst: Kein Verfassungsorgan der Bundesrepublik Deutschland darf die Wiederherstellung der staatlichen Einheit als politisches Ziel aufgeben. Alle Verfassungsorgane sind verpflichtet, ihre Politik auf die Erreichung dieses Zieles hinzuwirken. Das schließt die Forderung ein, den Wiedervereinigungsanspruch im Innern wach zu halten und nach außen beharrlich zu vertreten. Alles zu unterlassen, was die Wiedervereinigung vereiteln würde.

    Ein verfassungsrechtlich gültiger Anspruch, bis ihn die Volksbewegung von 1989 verwirklichte.

    Eine ganz andere, sehr viel kleinere Volksbewegung brachte das Gericht zu seiner vielleicht prägnantesten verfassungsrechtlichen Neuschöpfung: Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung.

    Der Volkszähler im April, ja April, April. Da würde ich sagen: Der soll erst mal kommen, und dann sage ich das Machbare. Schwarz-Schilling sagt ja auch: Das Kabelfernsehen ist machbar, also ist es absurd, es nicht zu machen. Sagt Schwarz-Schilling. Die Volkszählung ist machbar, der Atomkrieg ist machbar, mein Selbstmord ist machbar, dass ich dem Volkszähler eine in die Fresse haue ist machbar, warum soll ich's nicht machen.

    Ungeachtet des manchmal rabiaten Tons - Der Widerstand gegen ausufernde Datensammelei ging durch nahezu alle Bereiche der Bevölkerung. Boykottpläne gegen die Verpflichtung, in der Volks-, Berufs-, Wohn- und Arbeitsstättenzählung Auskunft über persönliche Verhältnisse zu geben, existierten auch in sonst rechtstreuen Kreisen. Ein Konflikt, dem die zuständigen staatlichen Stellen wenig sensibel gegenüberstanden:

    Guten Tag, Sie hören eine Sonderansage der statistischen Ämter zur Volkszählung am 27. April 1983. Die Zählung erfasst die gesamte Bevölkerung. Das sind schätzungsweise 61 Millionen Einwohner. Trotz aller Fortschritte in den statistischen Erhebungsmethoden und -techniken geht das nur mit einer Totalzählung.

    Nach über hundert Verfassungsbeschwerden, mehr als tausend sonstigen Anträgen verboten die Richter des ersten Senats zuerst die Befragung in der vorgesehen Form und erklärten ein halbes Jahr später im Volkszählungsurteil Teile des Gesetzes für verfassungs-widrig. Präsident Ernst Benda beschreibt in der Urteilsverkündung die Gefahren, die durch die Möglichkeiten elektronischer Vernetzung entstehen, durch die im Extremfall ein vollständiges Persönlichkeitsbild geschaffen werden könnte.

    Mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung wären eine Gesellschaftsordnung und eine diese ermöglichende Rechtsordnung nicht vereinbar, in der der Bürger nicht mehr wissen könnte, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß. Wer unsicher ist, ob abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert und als Information dauerhaft gespeichert, verwendet oder weitergegeben werden, wird versuchen, nicht durch solche Verhaltensweisen aufzufallen. Wer damit rechnet, dass etwa die Teilnahme an einer Versammlung oder einer Bürgerinitiative behördlich registriert wird, und dass ihm dadurch Risiken entstehen können, wird möglicherweise auf eine Ausübung seiner entsprechenden Grundrechte verzichten.

    Das aber müsse nicht nur im Interesse des einzelnen, sondern auch der Gesellschaft als ganzer verhindert werden.

    Zur Zeit der Entscheidung war die Idee des Datenschutzes schon mehr als zehn Jahre alt, professionelle Datenschützer gab es bereits, und sie hatten auch in der mündlichen Verhandlung Stellung genommen. Aber das Volkszählungsurteil machte aus dem bloßen Unwohlsein ein im Grundgesetz verankertes Abwehrrecht gegen den überwachenden Staat.

    Und gleich noch eine Grenze für den Zugriff des Staates ließ der Zweite Senat 1992 folgen: Aus den Grundrechten auf Eigentum und Handlungsfreiheit folgerten die Richter, dass das Existenzminimum von der Hand des Fiskus verschont bleiben muss. Auch das war erst einmal nicht neu, aber indem die Richter den jeweils gültigen Sozialhilfesatz zum Maßstab erklärten, wurde das Recht auf steuerliche Verschonung rechtlich fassbar. Als die Rechtsprechung, die für Familien eine besondere Freistellung verlangte, nicht recht anschlug in Bonn, folgte die Familiensteuer-Entscheidung von 1999. Auch hier stellte die Verfassung plötzlich genaue Handlungsanweisungen bereit, die die Richter zusätzlich noch mit Umsetzungsfristen und angedrohten Ersatzszenarien versahen.

    Entscheidungen, die zum Ärger seiner Kollegen vor allem mit dem 1999 ausgeschiedenen Verfassungsrichter Paul Kirchhof in Verbindung gebracht werden, ebenso wie die Maastricht-Entscheidung des Zweiten Senats.

    Der Maastricher Vertrag ist verfassungskonform. Wir können jetzt die Ratifikationsurkunde sofort hinterlegen. Das wird heute Abend in Rom bei der italienischen Regierung geschehen. Und der Vertrag kann damit zum 1.11.1993 in Kraft treten.

    Außenminister Klaus Kinkel fasst erleichtert zusammen, was die Maastricht-Entscheidung erst einmal bedeutet. Das Grundgesetz steht dem Vertrag nicht entgegen. Über dieses "Ja" hinaus aber enthält das Urteil - wieder einmal - viele große "Aber"s. Nachdem die Richter in einer umstrittenen Entscheidung die Zulässigkeit der Verfahren und damit ihre eigene Zuständigkeit angenommen hatten, begannen sie, die Grenzen der europäischen Integration nach dem Vertrag zu ziehen. Die wichtigsten: Das Demokratieprinzip muss gewahrt bleiben, das heißt auch: Die Gemeinschaft darf nicht selbständig ihre Kompetenzen und ihren Anspruch auf Finanzmittel erweitern. Alles andere wäre in Deutschland unverbindlich, wie das Gericht bei Bedarf auch feststellen würde. Für das umstrittene sichtbare Zeichen der Integration, den Euro, bauten sie über eine eigenständige Vertragsinterpretation neue Schranken:

    Die Währungsunion ist nach dem Vertrag als Stabilitätsgemeinschaft konzipiert, die vorrangig die Preisstabilität zu gewährleisten hat. Deshalb wird jeder Mitgliedsstaat schon vor Eintritt in die zweite Stufe für die Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion erforderlichenfalls mehrjährige Programme festlegen, die die notwendige dauerhafte Konvergenz, insbesondere hinsichtlich der Preisstabilität und gesunder öffentlicher Finanzen gewährleisten soll. Im Rahmen dieser Bedingtheit von Vertragsinhalt und tatsächlich vorausgesetzten Konvergenzen ist auch der Zeitpunkt für den Eintritt in die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion eher als Zielvorgabe, denn als rechtlich durchsetzbares Datum zu verstehen.

    Demokratische Mitwirkung ist es auch, die eine andere Form der Teilnahme an internationalen Organisationen bestimmen soll. Fast gleichzeitig mit der Maastricht-Entscheidung ergehen die vorläufigen Entscheidungen zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr, zur Beteiligung an der Überwachung des Flugverbots über Bosnien mit AWACS-Maschinen und zum humanitären und logistischen Einsatz in Somalia.

    Bis dahin hatte die Bundesregierung so genannte Out-of-Area-Einsätze unter Hinweis auf die unsichere Verfassungslage in Deutschland abgelehnt. Zu einer klärenden Verfassungsänderung kam es aber nicht. Die SPD war nur bereit, Blauhelmeinsätze zu ermöglichen - eine Beschränkung, auf die sich die Union nicht einlassen wollte.

    Die ursprüngliche Frage: Sind Einsätze außerhalb des NATO-Gebietes überhaupt unter dem Grundgesetz erlaubt, bejahten die Richter. Gleichzeitig aber fanden sie eine neue, prägnante Verfassungsinstitution: Das Parlamentsheer. Das steht nicht für jeden sichtbar im Grundgesetz. Die einzige Vorschrift, aus der man eine verpflichtende Beteiligung des Parlaments zu Militäreinsätzen hätte lesen können, war inzwischen aus der Verfassung gestrichen. Stattdessen folgerten die Richter des zweiten Senats aus der Verfassungstradition, dass der Bundestag mitzureden hätte. Das Urteil verkündet die spätere Gerichtspräsidentin Jutta Limbach:

    Die hiernach in den Vorschriften des Grundgesetzes auf dem Hintergrund der deutschen Verfassungstradition seit 1918 zum Ausdruck kommende Entscheidung für eine umfassende parlamentarische Kontrolle der Streitkräfte lässt ein der Wehrverfassung zugrunde liegendes Prinzip erkennen, nach dem der Einsatz bewaffneter Streitkräfte der konstitutiven, grundsätzlich vorherigen Zustimmung des Bundestages unterliegt.

    Noch eine ganz andere Grundentscheidung steckt übrigens in diesem Urteil: Die SPD hatte damals angegriffen, die Vertragsparteien hätten den NATO-Vertrag schleichend erweitert, mit den Einsätzen zur Friedenssicherung ginge es über das reine Verteidigungsbündnis hinaus. Dem hätte der Bundestag aber zustimmen müssen. Nur vier von acht Richtern stimmten dem zu, das genügte nicht. Über dieselbe Frage muss der Senat jetzt wieder entscheiden. Nach weiteren NATO-Einsätzen und in neuer Besetzung der Richterbank.

    Die eigenen Akzente, die das Gericht im Rohmaterial der Verfassung gesetzt hat, waren oft umstritten. Gelobt von denen, die sie eingefordert hatten, von denen, die anderer Meinung waren, als Kompetenzüberschreitung kritisiert. Das ewig neue Thema: Wer bewacht die Wächter der Verfassung? lief in den siebziger Jahren unter dem Schlagwort: Grundwertediskussion. Der damalige Vizepräsident Wolfgang Zeidler nahm die Richter gegen den Vorwurf, als "Konterkapitäne" Politik zu machen, in Schutz:

    Für die einen ist die Herauspräparierung von Grundwerten als Konkretisierung einer wie auch immer legitimiert gedachten Wertordnung transzendentaler Qualität die einzige Notbremse im Fahrstuhl zum Schaffott, auf dem alle hergebrachten Werte hingerichtet werden sollen. Für die anderen ist die Wertordnung eine Art ferngesteuerter Selbstfahrlafette im Dienst restaurativer Machtgelüste zur Niederwalzung aller Elemente und Resultate auf dem Weg der Menschheit in bessere und freiere Zustände. Wer Herr der Wertordnung ist, ist auch Herr der Verfassung. Wer Herr der Verfassung ist, ist auch Herr des Staates. - Der Interpretationsabsolutismus als moderne Herrschaftsform. Doch entgegen mancher verbreiteten Annahme handelt es sich bei Begriffen wie Grundentscheidung der Verfassung, Wertordnung oder Grundwert nicht um einen Wertehimmel subjektiver Beliebigkeit, sondern um Rechtsgehalte, deren Substanz mit Methoden der Rechtsfindung festgestellt wird.

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