"Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise ...."
Zwölf Worte, die einen historischen Moment der deutschen Geschichte markieren: Der damalige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher verkündet vom Balkon der deutschen Botschaft in Prag den dorthin geflüchteten, und seit Wochen zwangsläufig unter menschenunwürdigen Bedingungen lebenden rund 4500 DDR-Bürgern, dass ihrer Ausreise in die Bundesrepublik nichts mehr im Wege steht.
Später wird Genscher sagen, dies sei der vielleicht bewegendste Moment in seiner politischen Vita gewesen. Diese wenigen Worte im Palais Lobkowitz, die im Jubel der Betroffenen nahezu untergingen, waren eines der entscheidenden Signale für den Anfang vom Ende der DDR.
Doch bis dahin war es ein steiniger Weg gewesen, sowohl für das Volk als auch für die beteiligten Politiker. Seit Monaten bereits hatte sich in breiten Schichten der DDR-Bevölkerung die wachsende Unzufriedenheit mit dem Regime in ersten Absetzbewegungen vor allem über Ungarn und Österreich dokumentiert.
Insbesondere die Veränderungen in vielen Staaten des Ostblocks, nach den von Gorbatschow eingeleiteten Umstrukturierungen in der Sowjetunion, ließen auch in der DDR den Wunsch der Menschen nach mehr Glasnost und Perestroika, also Transparenz und Umbau, wachsen. Doch das Regime blieb stur – für den Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker durfte der Bestand der Mauer und Grenzanlagen nicht infrage gestellt werden.
"Die Mauer wird ungeachtet des kraftvollen Auftretens von Herrn Genscher und Herrn Schulz in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben, wenn die dazu vorhandenen Gründe noch nicht beseitigt sind. Das ist schon erforderlich, um unsere Republik vor Räubern zu schützen, ganz zu schweigen vor denen, die gern bereit sind, Stabilität und Frieden in Europa zu stören. Die Sicherung der Grenze ist das souveräne Recht eines jeden Staates und so auch unserer Deutschen Demokratischen Republik."
Dabei hatte der Generalsekretär der KPDSU, Michail Gorbatschow, bei seinem Besuch in der Bundesrepublik im Sommer 1989 quasi über die Mauer hinweg einen dringenden Appell an das DDR-Regime gerichtet, sich für Reformen zu öffnen.
"Wir beanspruchen nicht die Wahrheit in letzter Instanz,
unsere Politik ist eine Einladung an alle Regierungen und
Völker, die Wege zu einer besseren Welt zu suchen."
Als auch dies in Ost-Berlin ohne Wirkung zu bleiben schien, nahmen viele DDR-Bürger ihr Schicksal selbst in die Hand, besuchten die klassischen Urlaubsländer im Osten und suchten Zuflucht in den Botschaften, vor allem in Budapest und Prag, aber auch in Warschau.
Dem damaligen ungarischen Ministerpräsidenten Gyula Horn ist es zu verdanken, dass durch die von ihm veranlasste Öffnung des Eisernen Vorhangs in Richtung Österreich für DDR-Bürger praktisch der Dammbruch eingeleitet wurde. In seinen Memoiren rekapituliert Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher ein Geheimtreffen mit Horn auf Schloss Gymnich bei Bonn am 25. August 1989:
Horn berichtete über die unerquicklichen Gespräche, die er in Ostberlin zu führen hatte. Sie hätten zu dem Unangenehmsten gehört, die er je erlebt habe. Die DDR-Führung zieh ihn des Vertragsbruchs, denn es gab einen Vertrag, der beide Seiten verpflichtete, Flüchtlinge auszuliefern. Ungarn aber hatte mit seiner Weigerung, den Eisernen Vorhang wieder zu schließen, oder die Flüchtlinge auszuliefern, längst den Rubikon sozialistischer Solidarität überschritten.
Mit einem Appell durch den damaligen Regierungssprecher Herbert Schmülling an potenzielle DDR-Flüchtlinge versuchte das offizielle Bonn, die zunehmend angespannte Atmosphäre zwischen Bonn und Ostberlin ein wenig zu entspannen:
"Die Regierung hat wiederholt darauf hingewiesen, und tut dies heute wiederum, dass ein Verbleiben in der Ständigen Vertretung oder in einer Botschaft kein geeigneter Weg zu einer Lösung von Ausreiseproblemen ist. Die Entscheidung über eine Ausreise liegt ausschließlich bei der DDR."
Als auch dies ohne Wirkung blieb, und die Menschenströme in die ständige Vertretung Bonns in Ostberlin und die Prager und Budapester Botschaften nicht nachließen, sah sich der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl gezwungen, auf seine Art die DDR-Führung zum Einlenken zugunsten der Ausreisewilligen aufzufordern:
"Wir wünschen keine Konfrontation. Die DDR–Führung muss jedoch wissen, dass eine Fortdauer des jetzigen Zustandes die beiderseitigen Beziehungen erheblich belasten kann. Ich hoffe, dass beide Seiten an einer solchen negativen Entwicklung nicht interessiert sind, wir jedenfalls sind es nicht."
Unterdessen liefen auf den diplomatischen Kanälen die Drähte heiß. Sowohl das eigentlich zuständige Bundeskanzleramt als auch das Bundes-Außenministerium suchten Kontakte zu einflussreichen Gesprächspartnern der DDR, um die Flüchtlingsfrage zu lösen. Der damalige Kanzleramtsminister Rudolf Seiters erinnert sich:
"Ich war ja nach dem Grundlagenvertrag zwischen der DDR und der Bundesrepublik zuständig als Verhandlungspartner, war in Ostberlin bei der Regierung ... Ich habe verhandelt mit Schalck-Golodkowski, mit Rechtsanwalt Vogel, mit dem Gesandten Seidel, mit dem ständigen Vertreter Neubauer. Und es verdichtet sich natürlich im Laufe vom August und September immer mehr der Druck, den wir ausüben konnten auf die DDR, die Flüchtlingsfrage zu lösen, weil wir gesagt haben, ihr seid zuständig, wir schicken niemanden auf die Straße. Wir haben darauf hingewiesen, dass am 8. Oktober Gorbatschow zu den Jubiläumsfeierlichkeiten kommt und die Frage gestellt, wollt Ihr, dass diese Feierlichkeiten überlagert werden von den emotionalen Bildern aus Prag, und ich habe deutlich gemacht, woran die DDR elementar interessiert war, an Finanzhilfen, dass das nur infrage kommt, wenn vorher die Flüchtlingsfrage geklärt ist."
Parallel dazu unternahm auch Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher mit den Diplomaten des Auswärtigen Amtes vielfältige Versuche, um das Problem der Botschaftsflüchtlinge zu lösen.
"Wir wussten ja nicht, wie sich das weiterentwickeln würde. Ich habe da auch die volle Verantwortung für die Gespräche übernommen. Versuche der DDR, uns zu veranlassen, die Botschaften zu schließen, habe ich brüsk abgelehnt und gesagt, ich beabsichtige nicht, vor unseren Botschaften noch eine Mauer aufzubauen.
Und dann am Ende haben sich offensichtlich in Ostberlin die Kräfte durchgesetzt, die erkannt haben, dass hier eine Entwicklung in Gang gekommen ist. Und im Grunde haben ja diese 3500, 4000 Menschen in dem Botschaftsgarten, haben Geschichte geschrieben. Die flohen dorthin um ihr eigenes Leben so gestalten zu können, wie sie es wollen. Und in Wahrheit haben sie der Mauer einen schweren Schlag versetzt. Und das ist ihr historisches Verdienst, wie ja auch der ganze Prozess der Vereinigung nur möglich wurde, weil die Menschen im Osten es so wollten."
Tatsächlich jedoch ließ das DDR-Regime nichts unversucht, um die Flüchtlinge doch noch zur Rückkehr zu bewegen. Dies im Übrigen auch durch bilaterale Kontakte mit den Regierungen in Budapest und in Prag. Hans-Dietrich Genscher in seiner Biografie:
"In Ungarn hatten wir es mit einer verständnisvollen und reformierten Regierung zu tun, in Prag hingegen herrschte noch immer eine reformunwillige Führung. Nicht auszuschließen, dass Menschen, die in unserer Botschaft in Prag eigentlich nicht mehr aufgenommen werden konnten, in die DDR zurückgeführt würden. Aus diesem Grund gab ich Weisung, Flüchtlinge in unbegrenzter Zahl aufzunehmen, unterzubringen und zu versorgen."
Darüber hinaus nutzte Genscher seinen Aufenthalt anlässlich der UNO-Vollversammlung im September 1989 in New York, um sich dort mit seinem sowjetischen Amtskollegen Eduard Schewardnadze
für eine Lösung zugunsten der DDR-Flüchtlinge vor allem in der Prager Botschaft einzusetzen:
"Mit großem Nachdruck erläuterte ich Schewardnadze die Lage. Ich bäte um Hilfe; es gehe um die Zustimmung zum unverzüglichen Beginn der Ausreise und um eine sofortige gesicherte Unterbringung auch außerhalb der Botschaft, weil wir mit stündlich ansteigenden Zahlen rechneten. ... Der sensible Mann empfand als Mensch, er versteckte sich nicht hinter einer ideologischen oder einer vermeintlichen Staatsräson. Er erinnerte sich wohl daran, was ich ihm vor einem Jahr an gleicher Stelle gesagt hatte. Als ich die Botschaft verließ, dankte ich ihm, seine rechte Hand ergriff ich mit beiden Händen."
Inzwischen waren die Zustände in der nunmehr geschlossenen deutschen Botschaft in Prag, wo sich mittlerweile 4500 Menschen aufhielten, völlig untragbar geworden.
"Meine Frau hat ein Kind entbunden, gestern und es sind keine ärztlichen Medikamente da, ein Arzt steht zu Verfügung, es muss hier eine Lösung getroffen werden. Unbedingt. Wir halten es hier nicht mehr aus."
Der damalige ARD-Hörfunkkorrespondent Walter Tauber schilderte praktisch täglich die immer dramatischeren Zustände im Palais Lobkowitz:
"Die Botschaft ist total überfüllt. Seit Sonntag haben 400-500 DDR-Bürger in der Botschaft Zuflucht gesucht. Die Aufnahmekapazität der Mission ist damit erschöpft. Es herrschen unbeschreibliche Zustände."
Für Kanzleramtschef Rudolf Seiters musste das Problem umgehend gelöst werden. Er hatte enge Verbindungen zum ständigen Vertreter der DDR in Bonn, Horst Neugebauer aufgebaut. Das sollte sich nun auszahlen:
"Der Außenminister wusste ja, dass das Kanzleramt nach dem Grundlagenvertrag zuständig war, die DDR hätte ihn natürlich gerne gehabt, Stichwort Zwei-Staaten-Theorie - aber das war ja für uns nicht akzeptabel. Ich habe auch immer das Kabinett und das Außenministerium informiert, aber die Abläufe waren ja auch so, dass am 29. September ich einen dringenden Anruf bekam, vom ständigen Vertreter der DDR Neubauer, dass er mich sprechen möchte; wir haben uns vereinbart auf den 30., vormittags in meinem Büro im Kanzleramt
Ich habe den Bundeskanzler informiert in Ludwigshafen, der mir sagte, ich sollte Hans-Dietrich Genscher zu dem Gespräch hinzuziehen, wir haben das Gespräch ja auch gemeinsam geführt. Wir haben dann in Absprache mit Helmut Kohl gesagt, wir fliegen gemeinsam rüber nach Prag, um den Menschen, die ja den Zusagen der DDR nicht glaubten, die Sicherheit zu geben, dass sie ohne Gefährdung ihrer Freiheit die Botschaft verlassen könnten. Und wir hatten sogar die Zusage von Neubauer, dass Genscher und ich auf den beiden ersten Zügen mitfahren, das wurde dann später zurückgenommen. Ja, und dann sind ja die sehr emotionalen Szenen bekannt, dass wir gemeinsam auf den Balkon getreten sind und Hans-Dietrich Genscher dann gesagt hat:"
""Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise ..."
Genscher in seiner Biografie:
Ehe ich den Satz zu Ende bringen konnte, noch einmal unbeschreiblicher Jubel. Auch heute, im Rückblick der Jahre, ergreift mich bei dieser Erinnerung noch immer tiefe Bewegung. Dann erklärte ich:
"Der erste Zug fährt schon heute ... Die Züge werden ohne Halt durchfahren. Sie müssen die Züge nicht verlassen. Ich weiß, was Sie empfinden. Sie sind alle in einem Alter, in dem ich war, als ich die DDR verlassen habe. Deshalb kann ich nachfühlen, was Sie in diesem Augenblick empfinden, auch Ihre Sorge. ... Ich verbürge mich dafür, dass die Versprechungen eingehalten werden".
Gemeinsam mit Genscher stand auch Rudolf Seiters, bescheiden im Hintergrund, auf dem Balkon. Ihm und dem Bundeskanzleramt kommt eigentlich das Hauptverdienst bei der Herbeiführung der Prager Lösung zu, denn die intensivsten Verhandlungen waren dort geführt worden. Doch Seiters überließ Genscher gern den Triumph des Überbringers der guten Botschaft in der Botschaft:
"Nun, das war für mich nie eine Prestigefrage; Hans-Dietrich Genscher war lang gedienter Außenminister, Vizekanzler und Hausherr, da kam es für mich nicht darauf an, wer diese Botschaft überbringt. Wir haben es ja gemeinsam gemacht, nein, ich war damals wirklich so unglaublich erfüllt von einem Gefühl der Dankbarkeit, dass ich und dass wir an dieser Lösung des Problems so intensiv mitwirken konnten; und ich vergesse ja auch heute noch nicht den Jubel unter den 5000 Zufluchtsuchenden in diesem verschlammten, nachtdunklen Garten, die dort ausgeharrt hatten, wochenlang unter hygienisch völlig unbefriedigenden und schwierigen Umständen. Nein, auch im Rückblick lasse ich mir dieses Gefühl der Freude und der Dankbarkeit nicht nehmen."
Schon auf dem Flug nach Prag war Genscher bewusst gewesen, dass ein historischer Moment bevorstand, dass ein grundlegender Wandel in den Beziehungen zwischen Ost und West jetzt nicht mehr aufzuhalten sein würde. Dass er jedoch, wie eigentlich jeder, das Tempo der Entwicklung unterschätzte erstaunt nicht:
"Auf dem Flug dachte ich darüber nach, was ich in Prag zu den in der Botschaft versammelten Menschen sagen sollte. In dieser Stunde war mir bewusst, jetzt würden nicht nur einige Tausend Deutsche aus der DDR unsere Botschaft in Richtung Bundesrepublik verlassen können: Es kündigte sich Historisches an. Die DDR ist am Ende. Was sich hier vollzieht, ist im Grund der Zusammenbruch der DDR von innen und von unten. Das Ende der Mauer rückt in Sichtweite."
So war es. Doch zunächst einmal galt es, die Menschen aus der Prager Botschaft heil in die Bundesrepublik zu überführen. Dabei entstand auch ein ziemlich kleinlich wirkender, aber für die angsterfüllten Flüchtlinge vitaler Streit über den Weg, den die Züge nehmen sollten. Letztlich wurde gemeinsam mit dem DDR-Regime entschieden, dass die Züge ohne Zwischenhalt über DDR Territorium fahren sollten. Zu groß war die Befürchtung, vor allem der Flüchtlinge, dass sie von den Grenztruppen aus den Zügen herausgeholt würden. Rudolf Seiters:
"Es war ein Riesenfehler der DDR-Führung darauf zu bestehen, dass die Züge von Prag nicht direkt in die Bundesrepublik fahren, sondern über DDR Gebiet. Das sollte der Ausdruck von einer besonderen Staatsautorität sein, und in Wahrheit war das ein großer Gesichtsverlust, denn die Züge wurden beklatscht von Menschen, und in die Züge wären am liebsten noch viel mehr Menschen eingestiegen, wenn sie die Möglichkeit dazu gehabt hätten. Es war im Grunde ein Desaster."
Hans Modrow, damals SED-Bezirkschef von Dresden, sah sich nun mit der Tatsache konfrontiert, dass die Flüchtlingszüge den Hauptbahnhof der Elbestadt passieren würden. Er wehrt sich noch heute gegen den Vorwurf, man sei mit harter Hand vorgegangen:
"Wer hat denn eine harte Hand abgefordert? Wenn Herr Genscher und Herr Seiters nach Prag reisen, und dort vor Tausenden sagen, sie können jetzt direkt in die Bundesrepublik reisen und sich dann aber mit der DDR engagieren, dass diese Reise nicht über Cheb nach Waldsassen geht, sondern dass sie über Bad Schandau nach Dresden und dann über das Territorium in die Bundesrepublik geht, dann mögen auch dies beiden Politiker sich befragen.
... Ich werde abends vom Verkehrsminister der DDR Otto Arndt aufgefordert, alle Unterstützung zu organisieren, damit diese drei Züge, die da fahren, ohne Stopp durch Dresden gehen, weil er mir eindeutig sagte, wir beide ändern daran nichts mehr. Du kannst mit mir reden, soviel du willst, ich habe keine Entscheidung mehr. Entschieden ist an der Spitze. Wir können beide nur noch handeln. Und die Transportpolizei wird den Bahnhof nicht frei haben. Und dann kann passieren, dass die drei Züge gestoppt werden und es wird Tote geben, das ist unsere Verantwortung."
Auch, wenn sich bei der Durchfahrt der Züge in Dresden dramatische Szenen am Hauptbahnhof abspielten: Es gab keine Toten. Unmittelbar vor dem 40. DDR-Geburtstag versuchte die DDR ein letztes Mal, die Flüchtlinge aufzuhalten, indem sie den visafreien Reiseverkehr in die CSSR aussetzte.
"Aufgrund der Berichte, die der DDR zur Verfügung stehen, bereiten bestimmte Kreise in der BRD weitere Provokationen zum 40. Jahrestag der DDR vor, die gegen Ruhe und Ordnung gerichtet sind. Nach der Konsultation mit der CSSR wurde die Vereinbarung getroffen, zeitweilig den pass- und visafreien Verkehr zwischen DDR und CSSR für die Bürger der DDR mit sofortiger Wirkung auszusetzen."
Doch bis in den späten Oktober hinein versammelten sich immer wieder DDR-Bürger vor dem Palais Lobkowitz, das sich gewissermaßen zu einem "Durchgangslager" entwickelte. Und dies, obwohl die sanitären und hygienischen Voraussetzungen keineswegs besser als zu Beginn waren. Hans-Dietrich Genscher schrieb in seien Erinnerungen, dies sei ein "politischer Urstrom" gewesen, der von Prag, der "europäischsten aller europäischen Städte" seinen Ausgang genommen habe. Erst mit dem 9. November 1989 wurde das Problem der Botschaftsbesetzungen endgültig obsolet. Als Egon Krenz dem Zentralkomitee die neuen Reiseregelungen am Mittag des 9.11. präsentierte, rechtfertigte er sie ausdrücklich mit dem Hinweis auf die Beziehungen zu den gar nicht mehr so brüderlichen "sozialistischen Bruderländern":
"Ich sagte, wie wirs machen, machen wir's verkehrt, aber das ist die einzige Lösung, die uns die Probleme erspart, alles über Drittstaaten zu machen, was dem internationalen Ansehen der DDR nicht förderlich ist."
Originaltondokumente wie Hans-Dietrich Genschers Ausreiseankündigung können Sie hören und lesen in den "Mauersplittern" des Deutschlandfunks.
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Zwölf Worte, die einen historischen Moment der deutschen Geschichte markieren: Der damalige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher verkündet vom Balkon der deutschen Botschaft in Prag den dorthin geflüchteten, und seit Wochen zwangsläufig unter menschenunwürdigen Bedingungen lebenden rund 4500 DDR-Bürgern, dass ihrer Ausreise in die Bundesrepublik nichts mehr im Wege steht.
Später wird Genscher sagen, dies sei der vielleicht bewegendste Moment in seiner politischen Vita gewesen. Diese wenigen Worte im Palais Lobkowitz, die im Jubel der Betroffenen nahezu untergingen, waren eines der entscheidenden Signale für den Anfang vom Ende der DDR.
Doch bis dahin war es ein steiniger Weg gewesen, sowohl für das Volk als auch für die beteiligten Politiker. Seit Monaten bereits hatte sich in breiten Schichten der DDR-Bevölkerung die wachsende Unzufriedenheit mit dem Regime in ersten Absetzbewegungen vor allem über Ungarn und Österreich dokumentiert.
Insbesondere die Veränderungen in vielen Staaten des Ostblocks, nach den von Gorbatschow eingeleiteten Umstrukturierungen in der Sowjetunion, ließen auch in der DDR den Wunsch der Menschen nach mehr Glasnost und Perestroika, also Transparenz und Umbau, wachsen. Doch das Regime blieb stur – für den Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker durfte der Bestand der Mauer und Grenzanlagen nicht infrage gestellt werden.
"Die Mauer wird ungeachtet des kraftvollen Auftretens von Herrn Genscher und Herrn Schulz in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben, wenn die dazu vorhandenen Gründe noch nicht beseitigt sind. Das ist schon erforderlich, um unsere Republik vor Räubern zu schützen, ganz zu schweigen vor denen, die gern bereit sind, Stabilität und Frieden in Europa zu stören. Die Sicherung der Grenze ist das souveräne Recht eines jeden Staates und so auch unserer Deutschen Demokratischen Republik."
Dabei hatte der Generalsekretär der KPDSU, Michail Gorbatschow, bei seinem Besuch in der Bundesrepublik im Sommer 1989 quasi über die Mauer hinweg einen dringenden Appell an das DDR-Regime gerichtet, sich für Reformen zu öffnen.
"Wir beanspruchen nicht die Wahrheit in letzter Instanz,
unsere Politik ist eine Einladung an alle Regierungen und
Völker, die Wege zu einer besseren Welt zu suchen."
Als auch dies in Ost-Berlin ohne Wirkung zu bleiben schien, nahmen viele DDR-Bürger ihr Schicksal selbst in die Hand, besuchten die klassischen Urlaubsländer im Osten und suchten Zuflucht in den Botschaften, vor allem in Budapest und Prag, aber auch in Warschau.
Dem damaligen ungarischen Ministerpräsidenten Gyula Horn ist es zu verdanken, dass durch die von ihm veranlasste Öffnung des Eisernen Vorhangs in Richtung Österreich für DDR-Bürger praktisch der Dammbruch eingeleitet wurde. In seinen Memoiren rekapituliert Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher ein Geheimtreffen mit Horn auf Schloss Gymnich bei Bonn am 25. August 1989:
Horn berichtete über die unerquicklichen Gespräche, die er in Ostberlin zu führen hatte. Sie hätten zu dem Unangenehmsten gehört, die er je erlebt habe. Die DDR-Führung zieh ihn des Vertragsbruchs, denn es gab einen Vertrag, der beide Seiten verpflichtete, Flüchtlinge auszuliefern. Ungarn aber hatte mit seiner Weigerung, den Eisernen Vorhang wieder zu schließen, oder die Flüchtlinge auszuliefern, längst den Rubikon sozialistischer Solidarität überschritten.
Mit einem Appell durch den damaligen Regierungssprecher Herbert Schmülling an potenzielle DDR-Flüchtlinge versuchte das offizielle Bonn, die zunehmend angespannte Atmosphäre zwischen Bonn und Ostberlin ein wenig zu entspannen:
"Die Regierung hat wiederholt darauf hingewiesen, und tut dies heute wiederum, dass ein Verbleiben in der Ständigen Vertretung oder in einer Botschaft kein geeigneter Weg zu einer Lösung von Ausreiseproblemen ist. Die Entscheidung über eine Ausreise liegt ausschließlich bei der DDR."
Als auch dies ohne Wirkung blieb, und die Menschenströme in die ständige Vertretung Bonns in Ostberlin und die Prager und Budapester Botschaften nicht nachließen, sah sich der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl gezwungen, auf seine Art die DDR-Führung zum Einlenken zugunsten der Ausreisewilligen aufzufordern:
"Wir wünschen keine Konfrontation. Die DDR–Führung muss jedoch wissen, dass eine Fortdauer des jetzigen Zustandes die beiderseitigen Beziehungen erheblich belasten kann. Ich hoffe, dass beide Seiten an einer solchen negativen Entwicklung nicht interessiert sind, wir jedenfalls sind es nicht."
Unterdessen liefen auf den diplomatischen Kanälen die Drähte heiß. Sowohl das eigentlich zuständige Bundeskanzleramt als auch das Bundes-Außenministerium suchten Kontakte zu einflussreichen Gesprächspartnern der DDR, um die Flüchtlingsfrage zu lösen. Der damalige Kanzleramtsminister Rudolf Seiters erinnert sich:
"Ich war ja nach dem Grundlagenvertrag zwischen der DDR und der Bundesrepublik zuständig als Verhandlungspartner, war in Ostberlin bei der Regierung ... Ich habe verhandelt mit Schalck-Golodkowski, mit Rechtsanwalt Vogel, mit dem Gesandten Seidel, mit dem ständigen Vertreter Neubauer. Und es verdichtet sich natürlich im Laufe vom August und September immer mehr der Druck, den wir ausüben konnten auf die DDR, die Flüchtlingsfrage zu lösen, weil wir gesagt haben, ihr seid zuständig, wir schicken niemanden auf die Straße. Wir haben darauf hingewiesen, dass am 8. Oktober Gorbatschow zu den Jubiläumsfeierlichkeiten kommt und die Frage gestellt, wollt Ihr, dass diese Feierlichkeiten überlagert werden von den emotionalen Bildern aus Prag, und ich habe deutlich gemacht, woran die DDR elementar interessiert war, an Finanzhilfen, dass das nur infrage kommt, wenn vorher die Flüchtlingsfrage geklärt ist."
Parallel dazu unternahm auch Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher mit den Diplomaten des Auswärtigen Amtes vielfältige Versuche, um das Problem der Botschaftsflüchtlinge zu lösen.
"Wir wussten ja nicht, wie sich das weiterentwickeln würde. Ich habe da auch die volle Verantwortung für die Gespräche übernommen. Versuche der DDR, uns zu veranlassen, die Botschaften zu schließen, habe ich brüsk abgelehnt und gesagt, ich beabsichtige nicht, vor unseren Botschaften noch eine Mauer aufzubauen.
Und dann am Ende haben sich offensichtlich in Ostberlin die Kräfte durchgesetzt, die erkannt haben, dass hier eine Entwicklung in Gang gekommen ist. Und im Grunde haben ja diese 3500, 4000 Menschen in dem Botschaftsgarten, haben Geschichte geschrieben. Die flohen dorthin um ihr eigenes Leben so gestalten zu können, wie sie es wollen. Und in Wahrheit haben sie der Mauer einen schweren Schlag versetzt. Und das ist ihr historisches Verdienst, wie ja auch der ganze Prozess der Vereinigung nur möglich wurde, weil die Menschen im Osten es so wollten."
Tatsächlich jedoch ließ das DDR-Regime nichts unversucht, um die Flüchtlinge doch noch zur Rückkehr zu bewegen. Dies im Übrigen auch durch bilaterale Kontakte mit den Regierungen in Budapest und in Prag. Hans-Dietrich Genscher in seiner Biografie:
"In Ungarn hatten wir es mit einer verständnisvollen und reformierten Regierung zu tun, in Prag hingegen herrschte noch immer eine reformunwillige Führung. Nicht auszuschließen, dass Menschen, die in unserer Botschaft in Prag eigentlich nicht mehr aufgenommen werden konnten, in die DDR zurückgeführt würden. Aus diesem Grund gab ich Weisung, Flüchtlinge in unbegrenzter Zahl aufzunehmen, unterzubringen und zu versorgen."
Darüber hinaus nutzte Genscher seinen Aufenthalt anlässlich der UNO-Vollversammlung im September 1989 in New York, um sich dort mit seinem sowjetischen Amtskollegen Eduard Schewardnadze
für eine Lösung zugunsten der DDR-Flüchtlinge vor allem in der Prager Botschaft einzusetzen:
"Mit großem Nachdruck erläuterte ich Schewardnadze die Lage. Ich bäte um Hilfe; es gehe um die Zustimmung zum unverzüglichen Beginn der Ausreise und um eine sofortige gesicherte Unterbringung auch außerhalb der Botschaft, weil wir mit stündlich ansteigenden Zahlen rechneten. ... Der sensible Mann empfand als Mensch, er versteckte sich nicht hinter einer ideologischen oder einer vermeintlichen Staatsräson. Er erinnerte sich wohl daran, was ich ihm vor einem Jahr an gleicher Stelle gesagt hatte. Als ich die Botschaft verließ, dankte ich ihm, seine rechte Hand ergriff ich mit beiden Händen."
Inzwischen waren die Zustände in der nunmehr geschlossenen deutschen Botschaft in Prag, wo sich mittlerweile 4500 Menschen aufhielten, völlig untragbar geworden.
"Meine Frau hat ein Kind entbunden, gestern und es sind keine ärztlichen Medikamente da, ein Arzt steht zu Verfügung, es muss hier eine Lösung getroffen werden. Unbedingt. Wir halten es hier nicht mehr aus."
Der damalige ARD-Hörfunkkorrespondent Walter Tauber schilderte praktisch täglich die immer dramatischeren Zustände im Palais Lobkowitz:
"Die Botschaft ist total überfüllt. Seit Sonntag haben 400-500 DDR-Bürger in der Botschaft Zuflucht gesucht. Die Aufnahmekapazität der Mission ist damit erschöpft. Es herrschen unbeschreibliche Zustände."
Für Kanzleramtschef Rudolf Seiters musste das Problem umgehend gelöst werden. Er hatte enge Verbindungen zum ständigen Vertreter der DDR in Bonn, Horst Neugebauer aufgebaut. Das sollte sich nun auszahlen:
"Der Außenminister wusste ja, dass das Kanzleramt nach dem Grundlagenvertrag zuständig war, die DDR hätte ihn natürlich gerne gehabt, Stichwort Zwei-Staaten-Theorie - aber das war ja für uns nicht akzeptabel. Ich habe auch immer das Kabinett und das Außenministerium informiert, aber die Abläufe waren ja auch so, dass am 29. September ich einen dringenden Anruf bekam, vom ständigen Vertreter der DDR Neubauer, dass er mich sprechen möchte; wir haben uns vereinbart auf den 30., vormittags in meinem Büro im Kanzleramt
Ich habe den Bundeskanzler informiert in Ludwigshafen, der mir sagte, ich sollte Hans-Dietrich Genscher zu dem Gespräch hinzuziehen, wir haben das Gespräch ja auch gemeinsam geführt. Wir haben dann in Absprache mit Helmut Kohl gesagt, wir fliegen gemeinsam rüber nach Prag, um den Menschen, die ja den Zusagen der DDR nicht glaubten, die Sicherheit zu geben, dass sie ohne Gefährdung ihrer Freiheit die Botschaft verlassen könnten. Und wir hatten sogar die Zusage von Neubauer, dass Genscher und ich auf den beiden ersten Zügen mitfahren, das wurde dann später zurückgenommen. Ja, und dann sind ja die sehr emotionalen Szenen bekannt, dass wir gemeinsam auf den Balkon getreten sind und Hans-Dietrich Genscher dann gesagt hat:"
""Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise ..."
Genscher in seiner Biografie:
Ehe ich den Satz zu Ende bringen konnte, noch einmal unbeschreiblicher Jubel. Auch heute, im Rückblick der Jahre, ergreift mich bei dieser Erinnerung noch immer tiefe Bewegung. Dann erklärte ich:
"Der erste Zug fährt schon heute ... Die Züge werden ohne Halt durchfahren. Sie müssen die Züge nicht verlassen. Ich weiß, was Sie empfinden. Sie sind alle in einem Alter, in dem ich war, als ich die DDR verlassen habe. Deshalb kann ich nachfühlen, was Sie in diesem Augenblick empfinden, auch Ihre Sorge. ... Ich verbürge mich dafür, dass die Versprechungen eingehalten werden".
Gemeinsam mit Genscher stand auch Rudolf Seiters, bescheiden im Hintergrund, auf dem Balkon. Ihm und dem Bundeskanzleramt kommt eigentlich das Hauptverdienst bei der Herbeiführung der Prager Lösung zu, denn die intensivsten Verhandlungen waren dort geführt worden. Doch Seiters überließ Genscher gern den Triumph des Überbringers der guten Botschaft in der Botschaft:
"Nun, das war für mich nie eine Prestigefrage; Hans-Dietrich Genscher war lang gedienter Außenminister, Vizekanzler und Hausherr, da kam es für mich nicht darauf an, wer diese Botschaft überbringt. Wir haben es ja gemeinsam gemacht, nein, ich war damals wirklich so unglaublich erfüllt von einem Gefühl der Dankbarkeit, dass ich und dass wir an dieser Lösung des Problems so intensiv mitwirken konnten; und ich vergesse ja auch heute noch nicht den Jubel unter den 5000 Zufluchtsuchenden in diesem verschlammten, nachtdunklen Garten, die dort ausgeharrt hatten, wochenlang unter hygienisch völlig unbefriedigenden und schwierigen Umständen. Nein, auch im Rückblick lasse ich mir dieses Gefühl der Freude und der Dankbarkeit nicht nehmen."
Schon auf dem Flug nach Prag war Genscher bewusst gewesen, dass ein historischer Moment bevorstand, dass ein grundlegender Wandel in den Beziehungen zwischen Ost und West jetzt nicht mehr aufzuhalten sein würde. Dass er jedoch, wie eigentlich jeder, das Tempo der Entwicklung unterschätzte erstaunt nicht:
"Auf dem Flug dachte ich darüber nach, was ich in Prag zu den in der Botschaft versammelten Menschen sagen sollte. In dieser Stunde war mir bewusst, jetzt würden nicht nur einige Tausend Deutsche aus der DDR unsere Botschaft in Richtung Bundesrepublik verlassen können: Es kündigte sich Historisches an. Die DDR ist am Ende. Was sich hier vollzieht, ist im Grund der Zusammenbruch der DDR von innen und von unten. Das Ende der Mauer rückt in Sichtweite."
So war es. Doch zunächst einmal galt es, die Menschen aus der Prager Botschaft heil in die Bundesrepublik zu überführen. Dabei entstand auch ein ziemlich kleinlich wirkender, aber für die angsterfüllten Flüchtlinge vitaler Streit über den Weg, den die Züge nehmen sollten. Letztlich wurde gemeinsam mit dem DDR-Regime entschieden, dass die Züge ohne Zwischenhalt über DDR Territorium fahren sollten. Zu groß war die Befürchtung, vor allem der Flüchtlinge, dass sie von den Grenztruppen aus den Zügen herausgeholt würden. Rudolf Seiters:
"Es war ein Riesenfehler der DDR-Führung darauf zu bestehen, dass die Züge von Prag nicht direkt in die Bundesrepublik fahren, sondern über DDR Gebiet. Das sollte der Ausdruck von einer besonderen Staatsautorität sein, und in Wahrheit war das ein großer Gesichtsverlust, denn die Züge wurden beklatscht von Menschen, und in die Züge wären am liebsten noch viel mehr Menschen eingestiegen, wenn sie die Möglichkeit dazu gehabt hätten. Es war im Grunde ein Desaster."
Hans Modrow, damals SED-Bezirkschef von Dresden, sah sich nun mit der Tatsache konfrontiert, dass die Flüchtlingszüge den Hauptbahnhof der Elbestadt passieren würden. Er wehrt sich noch heute gegen den Vorwurf, man sei mit harter Hand vorgegangen:
"Wer hat denn eine harte Hand abgefordert? Wenn Herr Genscher und Herr Seiters nach Prag reisen, und dort vor Tausenden sagen, sie können jetzt direkt in die Bundesrepublik reisen und sich dann aber mit der DDR engagieren, dass diese Reise nicht über Cheb nach Waldsassen geht, sondern dass sie über Bad Schandau nach Dresden und dann über das Territorium in die Bundesrepublik geht, dann mögen auch dies beiden Politiker sich befragen.
... Ich werde abends vom Verkehrsminister der DDR Otto Arndt aufgefordert, alle Unterstützung zu organisieren, damit diese drei Züge, die da fahren, ohne Stopp durch Dresden gehen, weil er mir eindeutig sagte, wir beide ändern daran nichts mehr. Du kannst mit mir reden, soviel du willst, ich habe keine Entscheidung mehr. Entschieden ist an der Spitze. Wir können beide nur noch handeln. Und die Transportpolizei wird den Bahnhof nicht frei haben. Und dann kann passieren, dass die drei Züge gestoppt werden und es wird Tote geben, das ist unsere Verantwortung."
Auch, wenn sich bei der Durchfahrt der Züge in Dresden dramatische Szenen am Hauptbahnhof abspielten: Es gab keine Toten. Unmittelbar vor dem 40. DDR-Geburtstag versuchte die DDR ein letztes Mal, die Flüchtlinge aufzuhalten, indem sie den visafreien Reiseverkehr in die CSSR aussetzte.
"Aufgrund der Berichte, die der DDR zur Verfügung stehen, bereiten bestimmte Kreise in der BRD weitere Provokationen zum 40. Jahrestag der DDR vor, die gegen Ruhe und Ordnung gerichtet sind. Nach der Konsultation mit der CSSR wurde die Vereinbarung getroffen, zeitweilig den pass- und visafreien Verkehr zwischen DDR und CSSR für die Bürger der DDR mit sofortiger Wirkung auszusetzen."
Doch bis in den späten Oktober hinein versammelten sich immer wieder DDR-Bürger vor dem Palais Lobkowitz, das sich gewissermaßen zu einem "Durchgangslager" entwickelte. Und dies, obwohl die sanitären und hygienischen Voraussetzungen keineswegs besser als zu Beginn waren. Hans-Dietrich Genscher schrieb in seien Erinnerungen, dies sei ein "politischer Urstrom" gewesen, der von Prag, der "europäischsten aller europäischen Städte" seinen Ausgang genommen habe. Erst mit dem 9. November 1989 wurde das Problem der Botschaftsbesetzungen endgültig obsolet. Als Egon Krenz dem Zentralkomitee die neuen Reiseregelungen am Mittag des 9.11. präsentierte, rechtfertigte er sie ausdrücklich mit dem Hinweis auf die Beziehungen zu den gar nicht mehr so brüderlichen "sozialistischen Bruderländern":
"Ich sagte, wie wirs machen, machen wir's verkehrt, aber das ist die einzige Lösung, die uns die Probleme erspart, alles über Drittstaaten zu machen, was dem internationalen Ansehen der DDR nicht förderlich ist."
Originaltondokumente wie Hans-Dietrich Genschers Ausreiseankündigung können Sie hören und lesen in den "Mauersplittern" des Deutschlandfunks.
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