Die Katastrophe von Bhopal begann nicht erst im Dezember 1984. Schon Wochen zuvor hatte die US-Firma Union Carbide in der mittelindischen Stadt die Produktion eines sogenannten Pflanzenschutzmittels eingestellt. Der Grund waren massive Sicherheitsmängel, die bereits seit Jahren bekannt waren, aber nicht behoben wurden, wie der ARD-Hörfunkkorrespondent Rainer Wolfgramm berichtete:
"Die Sicherheitsüberprüfung 1982 hatte eine Reihe erheblicher Mängel in dem Werk in Bhopal ausgewiesen. Darunter das Risiko, dass aus den Giftgastanks der gefährliche Inhalt entweicht; dass sich innerhalb der Produktion Staubexplosionen ereignen; dass Probleme mit den Sicherheitsventilen an den Gasbehältern und mit den dort angebrachten Kontrollinstrumenten bestehen. Hingewiesen wurde auf das zusätzliche Risiko, das durch einen häufigen Personalwechsel heraufbeschworen wurde."
Auf dem Gelände der stillgelegten Fabrik lagerten im Herbst 1984 allerdings noch giftige Chemikalien. Darunter in drei unterirdischen Edelstahltanks die Flüssigkeit Methyl-Isocyanat. Auch Chemiker haben vor dieser Substanz Respekt. Denn sie explodiert, wenn auch nur Spuren von Wasser dazu kommen. Entgegen den Vorschriften war einer der Tanks im maroden Werk bis zum Rand mit 42 Tonnen Methyl-Isocyanat gefüllt. Wahrscheinlich durch ein defektes Ventil trat so viel Wasser ein, dass die Mischung explodierte - kurz nach Mitternacht am 3. Dezember 1984.
"Nur 45 Minuten lang war giftiges Gas durch ein geborstenes Ventil aus dem Tank einer Fabrik, die Ungezieferbekämpfungsmittel herstellt, entwichen. Doch in diesen 45 Minuten war offensichtlich soviel Gas aus diesem Tank ausgeströmt, dass eine dicke weiße Wolke über einem Gebiet von knapp 40 Quadratkilometern alles vergiftete."
Vor allem die Slums direkt neben dem Werk. 20.000 Menschen lebten dort und versuchten zu fliehen. Nur - wohin? Das Fabrikgelände liegt mitten in Bhopal. Und die weiße Wolke verwandelte Teile der Zweimillionenstadt augenblicklich in eine Gaskammer. Für viele der Flüchtenden gab es kein Entrinnen. Die überlebende Augenzeugin Champa Devi Shukla schreibt:
"Es war ein Gefühl, als sei unser Körper mit rotem Chili angefüllt. Die Augen tränten, die Nase lief, wir hatten Schaum im Mund. Der Husten war so schlimm, dass sich die Menschen vor Schmerz krümmten. Die Leute standen auf und rannten los in dem, was sie gerade anhatten. Wer hinfiel, dem half niemand auf, andere liefen einfach drüber. Die Menschen kletterten übereinander, um ihr Leben zu retten. Sogar Kühe rannten um ihr Leben und stießen Menschen zu Tode."
Heinzow: "Methylisocyanat ist ein sehr stark wirksamer Reizstoff, der mit Eiweißen Verbindungen eingeht. Man kann sich das so vorstellen, wenn man gasförmiges Methylisocyanat einatmet, also in die Lunge bekommt, dass die Lunge von innen verätzt wird und damit der Gasaustausch unterbunden wird. Die Patienten ersticken bei vollem Bewusstsein."
Das sagt Dr. Birger Heinzow aus Kiel, der als Toxikologe der "Internationalen Medizinischen Kommission zu Bhopal" angehört. Rund 2000 Menschen starben noch innerhalb der Nacht, mindestens 15.000 weitere in den folgenden Wochen. Insgesamt soll es mehr als 20.000 Tote gegeben haben - gezählt hat sie nie jemand. Aus ganz Indien machten sich freiwillige Helfer nach Bhopal auf. Darunter der Ingenieur Sathyu Sarangi, der sich im 800 Kilometer entfernten Varanasi sofort in den Zug setzte:
"Als ich in Bhopal aus dem Bahnhof kam, waren da Tausende Menschen. Sie stöhnten, schrien, weinten, hielten sich aneinander fest. Manche fielen einfach hin, niemand wusste: Waren sie bewusstlos oder tot? Ich habe auch viele Menschen gesehen, junge und ältere, die versuchten zu helfen. Sie verteilten Wasser, Milch oder Medikamente. Aber niemand wusste, welche Medikamente helfen würden. Keiner hatte eine Ahnung, welches Gas ausgeströmt war."
Heinzow: "Man hat versucht, was man tun konnte. Es gab kaum Möglichkeiten, inhalierbares Kortison einzusetzen. Man hatte begrenzte Arzneimittelvorräte dort in Bhopal. Man hat wirklich wenig machen können. Man hat den Leuten zusprechen können, sie hinlegen können, man hat ihnen vielleicht Augentropfen gegeben, und mehr hat man letztlich nicht machen können."
An der unzureichenden medizinischen Versorgung sollte sich so schnell nichts ändern. Eine Woche nach der Katastrophe berichtete Rainer Wolfgramm aus Bhopal:
"Noch immer, so berichten die Mediziner in den großen Krankenhäusern, werde im Durchschnitt pro Minute ein neuer Patient registriert. Doch die Schwere der Erkrankungen, die durch das Giftgas ausgelöst wurden, ist in den letzten 24 Stunden spürbar zurückgegangen. Da die Krankenhäuser schon seit Beginn der Katastrophe überfüllt sind, wurden in aller Eile aus Baracken und Zelten Nothospitäler errichtet. Auch sie platzen schon wieder aus allen Nähten. Zu den Tausenden, die dort eingeliefert wurden, kommen Hunderte, die nach vermissten Verwandten oder Freunden Ausschau halten."
Die Explosion in Bhopal gilt als die größte Industriekatastrophe der Geschichte. Sie war kein "Unglück", weder unabwendbares Schicksal noch eine Verkettung unglücklicher Umstände. Recherchen des Buchautors Dominique Lapierre ergaben später, dass die Werksleitung bereits bei der Stilllegung der Anlage gefährliche Schwachpunkte erkannt hatte, ohne etwas dagegen zu unternehmen. Verantwortlich war auch die Mutterfirma in den USA, die ihre Produktion ganz bewusst in ein Land verlegt hatte, in dem sie billiger ist - und in dem Umweltstandards nicht eingehalten werden, weil Bestechung und Schlamperei an der Tagesordnung sind. Das ist die eine Seite. Was aber nach dem Ereignis geschah - oder besser: nicht geschah, ist genauso skandalös. Erst vor fünf Jahren schien sich das Blatt zu wenden. In der BBC verkündete am 20. Jahrestag der Katastrophe Jude Finisterra, Sprecher der Rechtsnachfolgerin der Betreiberfirma:
Er sei sehr, sehr glücklich, verkünden zu können, dass sich sein Unternehmen Dow Chemicals endlich der Verantwortung stelle und die Opfer mit zwölf Milliarden Dollar entschädigen werde, sagte der angebliche Unternehmenssprecher. Kurze Zeit später musste die BBC allerdings zugeben, dass sie einer Fälschung aufgesessen war. Denn Jude Finisterra heißt in Wahrheit Jacques Servin und ist einer der "Yes Men". Die US-amerikanische Bürgerrechtsgruppe macht mit solchen Aktionen auf lang anhaltende Missstände aufmerksam. An denen hat sich auch fünf Jahre später nichts geändert. Von der gerichtlich festgelegten, lächerlich geringen Entschädigungssumme von 470 Millionen US-Dollar ist nur ein kleiner Teil an die Opfer ausgezahlt worden. Bis heute fehlt zudem eine juristische Aufarbeitung - sowohl die Verantwortlichkeit als auch der genaue Hergang der Katastrophe sind nach wie vor ungeklärt. Vor allem aber leiden die Bewohner von Bhopal immer noch an den medizinischen Folgen, sagt Birger Heinzow:
"Man rechnet damit, dass etwa 100.000 Personen damals so stark diesem Methylisocyanat-Gasgemisch ausgesetzt gewesen sind, dass sie Langzeitfolgen davongetragen haben. Typischerweise sind auch das Lungenschädigungen, und zwar Schädigungen der kleinen Lungenbläschen. Es kommt dadurch zu Störungen des Gasaustausches in der Lunge. Die Patienten klagen über chronische Luftnot und über Schmerzen beim Atmen. Sie geben an, dass sie Atemnot haben, wenig belastbar sind, dass sie wenig Luft bekommen, wenn sie sich anstrengen, und dauernd Schmerzen beim Atmen haben. Zusätzlich haben sie auch noch Reizungen wie zum Beispiel Husten und Auswurf."
Dazu kommen noch Gesundheitsschäden, die indirekt auf die Katastrophe zurückgehen, berichtet Sathyu Sarangi. Er ist in Bhopal geblieben und hat eine Klinik mit aufgebaut, die sich speziell den Opfern widmet.
"Zu den Komplikationen der Vergiftung gehört zum Beispiel Tuberkulose. Denn das Immunsystem der Menschen ist geschwächt. Dazu kommen Kinder, die nach der Katastrophe geboren wurden - viele haben Wachstums- und Entwicklungsstörungen oder angeborene Fehlbildungen."
Sathyu Sarangi ist einer von vielen indischen Helfern, die sich bis heute der Opfer der Giftgaskatastrophe annehmen. Er gehörte auch einer Delegation an, die im Herbst 2009 wochenlang in einem Bus durch Europa fuhr. Auf Veranstaltungen zwischen Rom und Stockholm machten die Unterstützer auf die unverändert katastrophale Situation der Betroffenen aufmerksam. Organisiert wurde diese Tour von Greenpeace und Amnesty International. Michael Gottlob von der deutschen Sektion der Menschenrechtsorganisation:
"Für Amnesty ist dieser Fall so wichtig, weil hier deutlich wird, wie einflussreiche multinationale Unternehmen mit dem Recht umgehen können. Statt dass das Recht die Menschen schützt, kann es benützt werden durch findige Juristen, die Interessen der Industrie zu schützen."
In der Tat war das juristische Nachspiel von Bhopal nichts, was einen internationalen Konzern das Fürchten gelehrt hätte. Zwar wurde der Union-Carbide-Geschäftsführer Warren Anderson einige Tage nach der Katastrophe in Indien verhaftet, kam jedoch gegen eine Kaution von umgerechnet 2000 US-Dollar frei und setzte sich in die USA ab. Dort macht die Justiz keine Anstalten, ihn auszuliefern. Und die symbolische Entschädigung handelten der Chemiekonzern und die indische Regierung gleich direkt unter sich aus - ohne Gerichtsverfahren und ohne Beteiligung der Opfer.
"Da ist es immer so, dass die indische Regierung hin- und hergerissen ist. Auf der einen Seite ist sie durchaus willens, die Rechte der Bürger und Opfer von Bhopal zu schützen und wahrzunehmen. Auf der anderen Seite ist die Regierung auch an einem guten Image als Standort interessiert. Das geht bis ins Kabinett hinein: Da ist der Handels- und Industrieminister aufseiten der Unternehmen, und der Minister für Umwelt und der für Justiz ist eher auf der Seite der Opfer. Aus dem Konflikt muss sich die indische Regierung mal rausbewegen, hin zu einer glaubwürdigen Politik für die Opfer."
Die Attraktivität des Standorts hat damit zu tun, dass Indien in den 1990er Jahren einen Schwenk in der Wirtschaftspolitik vollzog: Nach und nach wurden Staatsbetriebe privatisiert, auch ausländische Konzerne waren willkommen und brachten Geld ins Land. Und die indische Regierung tut viel, damit sich auch weiterhin Investoren auf dem Subkontinent ansiedeln, sagt Michael Gottlob von Amnesty International:
"Indien hat vor einigen Jahren ein Gesetz erlassen, nach dem mehrere Hundert Wirtschaftssonderzonen errichtet worden sind. In diesen Sonderzonen passiert genau das, was man sich vorstellen kann, nachdem der Fall Bhopal nicht geregelt worden ist. Da glauben immer noch multinationale Unternehmen, nach Gutdünken vorgehen zu können, ohne die Rechte der lokalen Bevölkerung zu berücksichtigen. Bhopal ist ein wichtiges Projekt, auf das alle anderen sehen. Solange es evident ist, dass einflussreiche internationale Firmen sich den gesetzlichen Bestimmungen oder auch den politischen Grundsätzen eines Landes entziehen können, so lange sind andere eingeladen, es ähnlich zu tun."
Auch aus anderen Gründen ist Bhopal bis heute ein Fall für Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International. Denn genau wie vor 25 Jahren wohnen in der unmittelbaren Umgebung des ehemaligen Werksgeländes 20.000 Menschen in einfachen Hütten. Deren wichtigste Anliegen sind bis heute nicht erfüllt: Erstens fordern sie eine ausreichende Versorgung mit Trinkwasser. Und zweitens, dass das Werksgelände saniert wird. Beide Forderungen hängen zusammen. Denn die Chemikalien im Boden vergiften bis heute das Grundwasser. Das hat ein internationales Expertenteam bestätigt, dem der Bauingenieur Professor Harald Burmeier angehört:
"Ich gehe davon aus, dass alles, was im Boden sitzt - wir gehen da von 25.000 Tonnen kontaminiertem Material aus - noch da liegt. Und dann haben wir noch einen zweiten Bereich, wo Verdunstungsbecken liegen. Dort ist auch eine Deponie, die bergmännisch von der Bevölkerung vor Ort abgetragen wird, weil man die Folien für die Hütten gut gebrauchen kann und die inzwischen verfestigten Abfälle als Bausteine verwendet."
Die Bevölkerung nutzt nicht nur Baustoffe von der Deponie, sie ist auch auf Wasser aus vergifteten Brunnen angewiesen. Denn ein Gerichtsurteil, das den Bundesstaat Madhya Pradesh im Jahr 2002 verpflichtete, eine Trinkwasserleitung in den nahegelegenen Slum zu legen, ist bis heute nicht umgesetzt worden. Dabei hatten die Brunnen schon lange vor der Katastrophe keine Trinkwasserqualität mehr:
"Was dazu geführt hat, dass die Brunnen, die dort existieren zur Wassergewinnung für die dortige Bevölkerung vor Jahren schon, bereits zu Produktionszeiten als kontaminiert gekennzeichnet wurden. Die sind rot angestrichen worden. Das sind so Handpumpen. Das heißt, dass die Bevölkerung diese Brunnen nur noch für Brauchwasser nutzen soll, also zum Waschen von Kleidung oder so etwas. Zur Versorgung mit Trinkwasser kam manchmal einmal, manchmal zweimal am Tag ein Tankwagen. Aber was ich gesehen habe, kann der maximal drei- bis viertausend Liter dabei gehabt haben. Und es wird ja schnell klar, dass das für 20.000 Einwohner nicht reicht."
Die Experten haben deshalb ein umfassendes Sanierungskonzept erarbeitet. Der größte Teil der Giftstoffe ist nicht weit in den Boden eingesickert: Produktionsrückstände von Unkrautvernichtungsmitteln und Insektiziden wie Lindan, ferner krebserregende Zwischenprodukte sowie Quecksilber. Dieser Boden soll nach Vorstellung der Fachleute ausgehoben und vor Ort erhitzt werden - in einer geschlossenen Anlage, damit keine Giftstoffe nach draußen gelangen. Dieses Erhitzen hätte zur Folge, dass die giftigen Chemikalien verdampfen und als sogenanntes Destillat aufgefangen werden können. Der Boden würde auf diese Weise gereinigt. Die Sanierungsfachleute schlagen vor:
"Dieses aufkonzentrierte Destillat, das da rauskommt, in eine geeignete Sonderabfallentsorgungsanlage entweder in Europa oder in die USA zu fahren. Das ist möglich; es gibt das Baseler Abkommen, nach dem diese Transporte auch zulässig sind. Wir haben den Verbrennungstechniken dort in Indien nicht getraut. Da war die Diskussion, das in Zementöfen mit zu verbrennen. Aber dafür sind die Abgasanlagen nicht eingerichtet. Und wenn wir den kontaminierten Boden dekontaminiert haben, dann haben wir vorgesehen, dass der gereinigte Boden wieder eingebaut wird. Unsere Idee war, dass wir auf Standards sanieren, die eine Wohnbau-Folgenutzung für den Standort ermöglichen."
Solche Sanierungen sind andernorts bereits erfolgreich durchgeführt worden. In Deutschland gleich an mehreren Chemiestandorten, auch an solchen, deren Produktionsgeschichte weitaus weniger übersichtlich war als in Bhopal. Schwieriger sieht es dort jedoch mit dem Grundwasser aus. Denn die geologischen Verhältnisse lassen eine Sanierung direkt im Untergrund nicht zu. Harald Burmeier:
"Für das Grundwasser haben wir eine sehr pragmatische Lösung vorgeschlagen: Unser Ziel war es, das Grundwasser zu fördern, vor Ort zu behandeln in einer Grundwasseraufbereitungsanlage auf Trinkwasserstandard, und es dann als Trinkwasser auch zu nutzen - weil die Leute dort eine chronische Wasserknappheit haben."
Vor fünf Jahren, am 20. Jahrestag der Katastrophe, haben die Experten ihr Konzept auf einer öffentlichen Veranstaltung in Bhopal vorgestellt. Dort stieß es auf großes Interesse - doch passiert ist bis heute nichts. An den Kosten dürfte es nicht liegen: Sie sind mit rund 30 Millionen US-Dollar überschaubar. Michael Gottlob von Amnesty International nennt einen möglichen Grund dafür, dass die Anwohner immer noch auf vergiftetes Wasser angewiesen sind:
"In den USA laufen noch Prozesse. Die Prozesse, bei denen es um die Entschädigung der Opfer geht, sind alle im Sand verlaufen, die Entschädigung für den eigentlichen Unfall. Allerdings ist seit 2004 ein Prozess zugelassen in den USA, der noch nicht abgeschlossen ist, in dem es um die laufenden Wirkungen geht. Das Gelände verursacht ja immer noch Krankheiten bei der anwohnenden Bevölkerung. Es werden immer noch Kinder mit Missbildungen geboren. Und für diese Schäden läuft ein Prozess in den USA."
So sehr die Betroffeneninitiativen in Bhopal eine Sanierung begrüßen würden: Die Vorstellung, dass eines Tages Wohnhäuser auf dem ehemaligen Chemiegelände stehen könnten, ist nicht in ihrem Sinn.
"Es ist ja so, dass diese Firmen auch auf das Vergessen setzen. Auch jetzt werden sie wieder denken: Wir halten uns die Ohren zu, bis die Sachen vorbei sind zum 25. Jahrestag, und dann wird keiner mehr daran denken. Deshalb gibt es eine interessante Initiative in Bhopal, nämlich die Ruine zu einem Mahnmal zu machen. Es gibt sogar das Bemühen, die Ruine von Bhopal auf die UNESCO-Liste des Welterbes zu setzen. Und wenn man an die Dimension denkt - es handelt sich um das größte Unglück der Industriegeschichte - dann ist das absolut naheliegend. Und es wäre auch eine Gewähr dafür, dass es nicht vergessen wird. Interessanterweise ist es so, dass die Regierung da durchaus einverstanden ist. Sie würde gerne ein Mahnmal haben, wo dokumentiert ist, was die Regierung alles geleistet hat für die Opfer. Aber hier sagen die Opfer: Nein, über die Erinnerung wollen wir selbst bestimmen."
In Bhopal selbst ist es unmöglich, die Katastrophe zu vergessen. Dort ist inzwischen eine ganze Generation herangewachsen, die am 3. Dezember 1984 noch nicht geboren war. Doch auch für diese jungen Menschen ist das Ereignis in jener Nacht allgegenwärtig. Solange sie in Bhopal leben, können sie sich ihm nicht entziehen. Sei es, weil sie selbst missgebildet zur Welt gekommen sind. Oder weil in der näheren Umgebung schon wieder ein Mensch an den Folgen gestorben ist, was im Durchschnitt einmal täglich der Fall ist. Dass die Katastrophe nicht aufgearbeitet wurde, sondern für die Anwohner nach wie vor andauert, traumatisiert die Menschen in Bhopal bis heute. Einer von ihnen drückt es so aus: Die Unglücklichen, das sind wir. Glück hatte, wer in jener Nacht ums Leben kam.
"Die Sicherheitsüberprüfung 1982 hatte eine Reihe erheblicher Mängel in dem Werk in Bhopal ausgewiesen. Darunter das Risiko, dass aus den Giftgastanks der gefährliche Inhalt entweicht; dass sich innerhalb der Produktion Staubexplosionen ereignen; dass Probleme mit den Sicherheitsventilen an den Gasbehältern und mit den dort angebrachten Kontrollinstrumenten bestehen. Hingewiesen wurde auf das zusätzliche Risiko, das durch einen häufigen Personalwechsel heraufbeschworen wurde."
Auf dem Gelände der stillgelegten Fabrik lagerten im Herbst 1984 allerdings noch giftige Chemikalien. Darunter in drei unterirdischen Edelstahltanks die Flüssigkeit Methyl-Isocyanat. Auch Chemiker haben vor dieser Substanz Respekt. Denn sie explodiert, wenn auch nur Spuren von Wasser dazu kommen. Entgegen den Vorschriften war einer der Tanks im maroden Werk bis zum Rand mit 42 Tonnen Methyl-Isocyanat gefüllt. Wahrscheinlich durch ein defektes Ventil trat so viel Wasser ein, dass die Mischung explodierte - kurz nach Mitternacht am 3. Dezember 1984.
"Nur 45 Minuten lang war giftiges Gas durch ein geborstenes Ventil aus dem Tank einer Fabrik, die Ungezieferbekämpfungsmittel herstellt, entwichen. Doch in diesen 45 Minuten war offensichtlich soviel Gas aus diesem Tank ausgeströmt, dass eine dicke weiße Wolke über einem Gebiet von knapp 40 Quadratkilometern alles vergiftete."
Vor allem die Slums direkt neben dem Werk. 20.000 Menschen lebten dort und versuchten zu fliehen. Nur - wohin? Das Fabrikgelände liegt mitten in Bhopal. Und die weiße Wolke verwandelte Teile der Zweimillionenstadt augenblicklich in eine Gaskammer. Für viele der Flüchtenden gab es kein Entrinnen. Die überlebende Augenzeugin Champa Devi Shukla schreibt:
"Es war ein Gefühl, als sei unser Körper mit rotem Chili angefüllt. Die Augen tränten, die Nase lief, wir hatten Schaum im Mund. Der Husten war so schlimm, dass sich die Menschen vor Schmerz krümmten. Die Leute standen auf und rannten los in dem, was sie gerade anhatten. Wer hinfiel, dem half niemand auf, andere liefen einfach drüber. Die Menschen kletterten übereinander, um ihr Leben zu retten. Sogar Kühe rannten um ihr Leben und stießen Menschen zu Tode."
Heinzow: "Methylisocyanat ist ein sehr stark wirksamer Reizstoff, der mit Eiweißen Verbindungen eingeht. Man kann sich das so vorstellen, wenn man gasförmiges Methylisocyanat einatmet, also in die Lunge bekommt, dass die Lunge von innen verätzt wird und damit der Gasaustausch unterbunden wird. Die Patienten ersticken bei vollem Bewusstsein."
Das sagt Dr. Birger Heinzow aus Kiel, der als Toxikologe der "Internationalen Medizinischen Kommission zu Bhopal" angehört. Rund 2000 Menschen starben noch innerhalb der Nacht, mindestens 15.000 weitere in den folgenden Wochen. Insgesamt soll es mehr als 20.000 Tote gegeben haben - gezählt hat sie nie jemand. Aus ganz Indien machten sich freiwillige Helfer nach Bhopal auf. Darunter der Ingenieur Sathyu Sarangi, der sich im 800 Kilometer entfernten Varanasi sofort in den Zug setzte:
"Als ich in Bhopal aus dem Bahnhof kam, waren da Tausende Menschen. Sie stöhnten, schrien, weinten, hielten sich aneinander fest. Manche fielen einfach hin, niemand wusste: Waren sie bewusstlos oder tot? Ich habe auch viele Menschen gesehen, junge und ältere, die versuchten zu helfen. Sie verteilten Wasser, Milch oder Medikamente. Aber niemand wusste, welche Medikamente helfen würden. Keiner hatte eine Ahnung, welches Gas ausgeströmt war."
Heinzow: "Man hat versucht, was man tun konnte. Es gab kaum Möglichkeiten, inhalierbares Kortison einzusetzen. Man hatte begrenzte Arzneimittelvorräte dort in Bhopal. Man hat wirklich wenig machen können. Man hat den Leuten zusprechen können, sie hinlegen können, man hat ihnen vielleicht Augentropfen gegeben, und mehr hat man letztlich nicht machen können."
An der unzureichenden medizinischen Versorgung sollte sich so schnell nichts ändern. Eine Woche nach der Katastrophe berichtete Rainer Wolfgramm aus Bhopal:
"Noch immer, so berichten die Mediziner in den großen Krankenhäusern, werde im Durchschnitt pro Minute ein neuer Patient registriert. Doch die Schwere der Erkrankungen, die durch das Giftgas ausgelöst wurden, ist in den letzten 24 Stunden spürbar zurückgegangen. Da die Krankenhäuser schon seit Beginn der Katastrophe überfüllt sind, wurden in aller Eile aus Baracken und Zelten Nothospitäler errichtet. Auch sie platzen schon wieder aus allen Nähten. Zu den Tausenden, die dort eingeliefert wurden, kommen Hunderte, die nach vermissten Verwandten oder Freunden Ausschau halten."
Die Explosion in Bhopal gilt als die größte Industriekatastrophe der Geschichte. Sie war kein "Unglück", weder unabwendbares Schicksal noch eine Verkettung unglücklicher Umstände. Recherchen des Buchautors Dominique Lapierre ergaben später, dass die Werksleitung bereits bei der Stilllegung der Anlage gefährliche Schwachpunkte erkannt hatte, ohne etwas dagegen zu unternehmen. Verantwortlich war auch die Mutterfirma in den USA, die ihre Produktion ganz bewusst in ein Land verlegt hatte, in dem sie billiger ist - und in dem Umweltstandards nicht eingehalten werden, weil Bestechung und Schlamperei an der Tagesordnung sind. Das ist die eine Seite. Was aber nach dem Ereignis geschah - oder besser: nicht geschah, ist genauso skandalös. Erst vor fünf Jahren schien sich das Blatt zu wenden. In der BBC verkündete am 20. Jahrestag der Katastrophe Jude Finisterra, Sprecher der Rechtsnachfolgerin der Betreiberfirma:
Er sei sehr, sehr glücklich, verkünden zu können, dass sich sein Unternehmen Dow Chemicals endlich der Verantwortung stelle und die Opfer mit zwölf Milliarden Dollar entschädigen werde, sagte der angebliche Unternehmenssprecher. Kurze Zeit später musste die BBC allerdings zugeben, dass sie einer Fälschung aufgesessen war. Denn Jude Finisterra heißt in Wahrheit Jacques Servin und ist einer der "Yes Men". Die US-amerikanische Bürgerrechtsgruppe macht mit solchen Aktionen auf lang anhaltende Missstände aufmerksam. An denen hat sich auch fünf Jahre später nichts geändert. Von der gerichtlich festgelegten, lächerlich geringen Entschädigungssumme von 470 Millionen US-Dollar ist nur ein kleiner Teil an die Opfer ausgezahlt worden. Bis heute fehlt zudem eine juristische Aufarbeitung - sowohl die Verantwortlichkeit als auch der genaue Hergang der Katastrophe sind nach wie vor ungeklärt. Vor allem aber leiden die Bewohner von Bhopal immer noch an den medizinischen Folgen, sagt Birger Heinzow:
"Man rechnet damit, dass etwa 100.000 Personen damals so stark diesem Methylisocyanat-Gasgemisch ausgesetzt gewesen sind, dass sie Langzeitfolgen davongetragen haben. Typischerweise sind auch das Lungenschädigungen, und zwar Schädigungen der kleinen Lungenbläschen. Es kommt dadurch zu Störungen des Gasaustausches in der Lunge. Die Patienten klagen über chronische Luftnot und über Schmerzen beim Atmen. Sie geben an, dass sie Atemnot haben, wenig belastbar sind, dass sie wenig Luft bekommen, wenn sie sich anstrengen, und dauernd Schmerzen beim Atmen haben. Zusätzlich haben sie auch noch Reizungen wie zum Beispiel Husten und Auswurf."
Dazu kommen noch Gesundheitsschäden, die indirekt auf die Katastrophe zurückgehen, berichtet Sathyu Sarangi. Er ist in Bhopal geblieben und hat eine Klinik mit aufgebaut, die sich speziell den Opfern widmet.
"Zu den Komplikationen der Vergiftung gehört zum Beispiel Tuberkulose. Denn das Immunsystem der Menschen ist geschwächt. Dazu kommen Kinder, die nach der Katastrophe geboren wurden - viele haben Wachstums- und Entwicklungsstörungen oder angeborene Fehlbildungen."
Sathyu Sarangi ist einer von vielen indischen Helfern, die sich bis heute der Opfer der Giftgaskatastrophe annehmen. Er gehörte auch einer Delegation an, die im Herbst 2009 wochenlang in einem Bus durch Europa fuhr. Auf Veranstaltungen zwischen Rom und Stockholm machten die Unterstützer auf die unverändert katastrophale Situation der Betroffenen aufmerksam. Organisiert wurde diese Tour von Greenpeace und Amnesty International. Michael Gottlob von der deutschen Sektion der Menschenrechtsorganisation:
"Für Amnesty ist dieser Fall so wichtig, weil hier deutlich wird, wie einflussreiche multinationale Unternehmen mit dem Recht umgehen können. Statt dass das Recht die Menschen schützt, kann es benützt werden durch findige Juristen, die Interessen der Industrie zu schützen."
In der Tat war das juristische Nachspiel von Bhopal nichts, was einen internationalen Konzern das Fürchten gelehrt hätte. Zwar wurde der Union-Carbide-Geschäftsführer Warren Anderson einige Tage nach der Katastrophe in Indien verhaftet, kam jedoch gegen eine Kaution von umgerechnet 2000 US-Dollar frei und setzte sich in die USA ab. Dort macht die Justiz keine Anstalten, ihn auszuliefern. Und die symbolische Entschädigung handelten der Chemiekonzern und die indische Regierung gleich direkt unter sich aus - ohne Gerichtsverfahren und ohne Beteiligung der Opfer.
"Da ist es immer so, dass die indische Regierung hin- und hergerissen ist. Auf der einen Seite ist sie durchaus willens, die Rechte der Bürger und Opfer von Bhopal zu schützen und wahrzunehmen. Auf der anderen Seite ist die Regierung auch an einem guten Image als Standort interessiert. Das geht bis ins Kabinett hinein: Da ist der Handels- und Industrieminister aufseiten der Unternehmen, und der Minister für Umwelt und der für Justiz ist eher auf der Seite der Opfer. Aus dem Konflikt muss sich die indische Regierung mal rausbewegen, hin zu einer glaubwürdigen Politik für die Opfer."
Die Attraktivität des Standorts hat damit zu tun, dass Indien in den 1990er Jahren einen Schwenk in der Wirtschaftspolitik vollzog: Nach und nach wurden Staatsbetriebe privatisiert, auch ausländische Konzerne waren willkommen und brachten Geld ins Land. Und die indische Regierung tut viel, damit sich auch weiterhin Investoren auf dem Subkontinent ansiedeln, sagt Michael Gottlob von Amnesty International:
"Indien hat vor einigen Jahren ein Gesetz erlassen, nach dem mehrere Hundert Wirtschaftssonderzonen errichtet worden sind. In diesen Sonderzonen passiert genau das, was man sich vorstellen kann, nachdem der Fall Bhopal nicht geregelt worden ist. Da glauben immer noch multinationale Unternehmen, nach Gutdünken vorgehen zu können, ohne die Rechte der lokalen Bevölkerung zu berücksichtigen. Bhopal ist ein wichtiges Projekt, auf das alle anderen sehen. Solange es evident ist, dass einflussreiche internationale Firmen sich den gesetzlichen Bestimmungen oder auch den politischen Grundsätzen eines Landes entziehen können, so lange sind andere eingeladen, es ähnlich zu tun."
Auch aus anderen Gründen ist Bhopal bis heute ein Fall für Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International. Denn genau wie vor 25 Jahren wohnen in der unmittelbaren Umgebung des ehemaligen Werksgeländes 20.000 Menschen in einfachen Hütten. Deren wichtigste Anliegen sind bis heute nicht erfüllt: Erstens fordern sie eine ausreichende Versorgung mit Trinkwasser. Und zweitens, dass das Werksgelände saniert wird. Beide Forderungen hängen zusammen. Denn die Chemikalien im Boden vergiften bis heute das Grundwasser. Das hat ein internationales Expertenteam bestätigt, dem der Bauingenieur Professor Harald Burmeier angehört:
"Ich gehe davon aus, dass alles, was im Boden sitzt - wir gehen da von 25.000 Tonnen kontaminiertem Material aus - noch da liegt. Und dann haben wir noch einen zweiten Bereich, wo Verdunstungsbecken liegen. Dort ist auch eine Deponie, die bergmännisch von der Bevölkerung vor Ort abgetragen wird, weil man die Folien für die Hütten gut gebrauchen kann und die inzwischen verfestigten Abfälle als Bausteine verwendet."
Die Bevölkerung nutzt nicht nur Baustoffe von der Deponie, sie ist auch auf Wasser aus vergifteten Brunnen angewiesen. Denn ein Gerichtsurteil, das den Bundesstaat Madhya Pradesh im Jahr 2002 verpflichtete, eine Trinkwasserleitung in den nahegelegenen Slum zu legen, ist bis heute nicht umgesetzt worden. Dabei hatten die Brunnen schon lange vor der Katastrophe keine Trinkwasserqualität mehr:
"Was dazu geführt hat, dass die Brunnen, die dort existieren zur Wassergewinnung für die dortige Bevölkerung vor Jahren schon, bereits zu Produktionszeiten als kontaminiert gekennzeichnet wurden. Die sind rot angestrichen worden. Das sind so Handpumpen. Das heißt, dass die Bevölkerung diese Brunnen nur noch für Brauchwasser nutzen soll, also zum Waschen von Kleidung oder so etwas. Zur Versorgung mit Trinkwasser kam manchmal einmal, manchmal zweimal am Tag ein Tankwagen. Aber was ich gesehen habe, kann der maximal drei- bis viertausend Liter dabei gehabt haben. Und es wird ja schnell klar, dass das für 20.000 Einwohner nicht reicht."
Die Experten haben deshalb ein umfassendes Sanierungskonzept erarbeitet. Der größte Teil der Giftstoffe ist nicht weit in den Boden eingesickert: Produktionsrückstände von Unkrautvernichtungsmitteln und Insektiziden wie Lindan, ferner krebserregende Zwischenprodukte sowie Quecksilber. Dieser Boden soll nach Vorstellung der Fachleute ausgehoben und vor Ort erhitzt werden - in einer geschlossenen Anlage, damit keine Giftstoffe nach draußen gelangen. Dieses Erhitzen hätte zur Folge, dass die giftigen Chemikalien verdampfen und als sogenanntes Destillat aufgefangen werden können. Der Boden würde auf diese Weise gereinigt. Die Sanierungsfachleute schlagen vor:
"Dieses aufkonzentrierte Destillat, das da rauskommt, in eine geeignete Sonderabfallentsorgungsanlage entweder in Europa oder in die USA zu fahren. Das ist möglich; es gibt das Baseler Abkommen, nach dem diese Transporte auch zulässig sind. Wir haben den Verbrennungstechniken dort in Indien nicht getraut. Da war die Diskussion, das in Zementöfen mit zu verbrennen. Aber dafür sind die Abgasanlagen nicht eingerichtet. Und wenn wir den kontaminierten Boden dekontaminiert haben, dann haben wir vorgesehen, dass der gereinigte Boden wieder eingebaut wird. Unsere Idee war, dass wir auf Standards sanieren, die eine Wohnbau-Folgenutzung für den Standort ermöglichen."
Solche Sanierungen sind andernorts bereits erfolgreich durchgeführt worden. In Deutschland gleich an mehreren Chemiestandorten, auch an solchen, deren Produktionsgeschichte weitaus weniger übersichtlich war als in Bhopal. Schwieriger sieht es dort jedoch mit dem Grundwasser aus. Denn die geologischen Verhältnisse lassen eine Sanierung direkt im Untergrund nicht zu. Harald Burmeier:
"Für das Grundwasser haben wir eine sehr pragmatische Lösung vorgeschlagen: Unser Ziel war es, das Grundwasser zu fördern, vor Ort zu behandeln in einer Grundwasseraufbereitungsanlage auf Trinkwasserstandard, und es dann als Trinkwasser auch zu nutzen - weil die Leute dort eine chronische Wasserknappheit haben."
Vor fünf Jahren, am 20. Jahrestag der Katastrophe, haben die Experten ihr Konzept auf einer öffentlichen Veranstaltung in Bhopal vorgestellt. Dort stieß es auf großes Interesse - doch passiert ist bis heute nichts. An den Kosten dürfte es nicht liegen: Sie sind mit rund 30 Millionen US-Dollar überschaubar. Michael Gottlob von Amnesty International nennt einen möglichen Grund dafür, dass die Anwohner immer noch auf vergiftetes Wasser angewiesen sind:
"In den USA laufen noch Prozesse. Die Prozesse, bei denen es um die Entschädigung der Opfer geht, sind alle im Sand verlaufen, die Entschädigung für den eigentlichen Unfall. Allerdings ist seit 2004 ein Prozess zugelassen in den USA, der noch nicht abgeschlossen ist, in dem es um die laufenden Wirkungen geht. Das Gelände verursacht ja immer noch Krankheiten bei der anwohnenden Bevölkerung. Es werden immer noch Kinder mit Missbildungen geboren. Und für diese Schäden läuft ein Prozess in den USA."
So sehr die Betroffeneninitiativen in Bhopal eine Sanierung begrüßen würden: Die Vorstellung, dass eines Tages Wohnhäuser auf dem ehemaligen Chemiegelände stehen könnten, ist nicht in ihrem Sinn.
"Es ist ja so, dass diese Firmen auch auf das Vergessen setzen. Auch jetzt werden sie wieder denken: Wir halten uns die Ohren zu, bis die Sachen vorbei sind zum 25. Jahrestag, und dann wird keiner mehr daran denken. Deshalb gibt es eine interessante Initiative in Bhopal, nämlich die Ruine zu einem Mahnmal zu machen. Es gibt sogar das Bemühen, die Ruine von Bhopal auf die UNESCO-Liste des Welterbes zu setzen. Und wenn man an die Dimension denkt - es handelt sich um das größte Unglück der Industriegeschichte - dann ist das absolut naheliegend. Und es wäre auch eine Gewähr dafür, dass es nicht vergessen wird. Interessanterweise ist es so, dass die Regierung da durchaus einverstanden ist. Sie würde gerne ein Mahnmal haben, wo dokumentiert ist, was die Regierung alles geleistet hat für die Opfer. Aber hier sagen die Opfer: Nein, über die Erinnerung wollen wir selbst bestimmen."
In Bhopal selbst ist es unmöglich, die Katastrophe zu vergessen. Dort ist inzwischen eine ganze Generation herangewachsen, die am 3. Dezember 1984 noch nicht geboren war. Doch auch für diese jungen Menschen ist das Ereignis in jener Nacht allgegenwärtig. Solange sie in Bhopal leben, können sie sich ihm nicht entziehen. Sei es, weil sie selbst missgebildet zur Welt gekommen sind. Oder weil in der näheren Umgebung schon wieder ein Mensch an den Folgen gestorben ist, was im Durchschnitt einmal täglich der Fall ist. Dass die Katastrophe nicht aufgearbeitet wurde, sondern für die Anwohner nach wie vor andauert, traumatisiert die Menschen in Bhopal bis heute. Einer von ihnen drückt es so aus: Die Unglücklichen, das sind wir. Glück hatte, wer in jener Nacht ums Leben kam.