Die Mitte der Welt liegt irgendwo im Iran oder im Irak. Das ist für den Hobbyhistoriker Tamim Ansary ganz selbstverständlich, erhob sich doch im Westen einst das Römische Reich, im Osten das Kaiserreich China und dazwischen das Islamische Kalifat. Ganz unverständlich ist für ihn allerdings, dass ausgerechnet diese Mitte der Welt in den meisten westlichen Universalgeschichten kaum berücksichtigt wird.
Der Autor wird folglich von einem zentralen Manko der Geschichtsschreibung getrieben: Die Vergangenheit nicht bloß durch die eigene kulturelle oder nationale Brille zu betrachten und zu erzählen. Dabei besteht sein persönliches Ziel darin, die eurozentrische Sicht des Westens aufzubrechen. Und so hat er sich an die Arbeit gemacht, eine "Globalgeschichte aus islamischer Sicht" zu erzählen, wie es im Untertitel heißt. Doch tut er das wirklich – "aus islamischer Sicht" erzählen? Nein.
Tamim Ansary, 1948 in Afghanistan geboren, siedelte Anfang der 60er-Jahre in die USA über, wo er bis heute lebt. Er ist im Grunde ein Kind des Westens. Er schreibt nicht aus der Innenperspektive eines in jener Mitte der Welt sozialisierten Bürgers. Er ist ein Außenstehender, der die Geschichte jener Landstriche beschreibt, in denen Muslime die Mehrheit stellen. Das haben Scharen von Islamwissenschaftlern und Orientalisten zuvor auch schon getan. Und trotzdem ist sein Buch lesenswert. Es legt in Zeiten der Islamkritik den Fokus der Öffentlichkeit auf die für die heutige internationale Politik so zentrale Region, ohne dabei die islamistische Terrorbekämpfung oder die islamisch-fundamentalistischen Auswüchse im Sinn zu haben.
Was wir vorfinden, ist eine politisch weitgehend neutrale Skizze der islamischen Geschichte - gemeinverständlich, flüssig und durchaus fesselnd geschrieben. Ansary berichtet zunächst, wie sich der Islam als ursprünglich religiöse Idee unter dem gesellschaftlichen Druck der Gegner schnell zur politischen Bewegung unter dem Propheten und Staatsmann Mohammed aufschwang. Alsdann breitete sich die junge Gemeinde rasch in alle Himmelsrichtungen aus. Dynastien entstanden und erlebten ihren Niedergang. Aus dem Westen wie dem Osten brachen folgenreiche Ereignisse über die Welt der Mitte ein – die Kreuzzüge, der Mongolensturm, der Kolonialismus. Ansary blickt dabei immer wieder abwechselnd auf den arabischen, den persischen und den indischen Raum. Über den Aufstieg und Fall des Osmanischen Reichs hangelt er sich schließlich an den islamischen Reformbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts entlang in die Moderne - bis hin zum 11. September 2001.
Eine Geschichte der Welt ist immer eine Erzählung, die uns erklärt, wie "wir" zum "Hier und Jetzt" gekommen sind, erklärt Ansary. Und diesem Anspruch kommt sein Buch besonders im letzten Drittel nach, in dem es um die vergangenen rund 200 Jahre geht. Um die aktuelle Situation der islamischen Welt zu verstehen, ist diese Periode vor allen anderen entscheidend. In den Passagen über diesen Zeitraum kommt seinen Schilderungen eine echte aufklärerische Funktion zu. Der Autor zeichnet die drei Hauptströmungen der islamischen Reformbewegungen nach, die infolge des kolonialen Einfalls europäischer Mächte in die Welt der Mitte entstanden: Erstens diejenige, die die Menschen zurück zu den gesellschaftlichen Ursprüngen des Islam schicken will, zweitens die Strömung, die zum Nacheifern des Westens aufruft, und drittens jene, die eine Art Synkretismus aus westlichem und islamischem Denken propagiert. Bei der Darstellung der jüngeren Geschichte löst sich Ansary immer wieder von der reinen Erzählung, diskutiert Probleme und verschafft mehr oder weniger bekannten Theorien Beachtung. Erhellend ist das etwa am Beispiel der Reformation als Einleitung für das Zeitalter der Aufklärung: Für viele Zeitgenossen gilt es als quasi ausgemacht, dass die islamische Welt einen solchen Entwicklungsschritt noch vor sich hat. Die Grundfrage jedoch, ob sich die Geschichten des Christentums und des Islam an dieser Stelle überhaupt vergleichen lassen, wird von ihnen gar nicht mehr gestellt. Ein Versäumnis, ohne Zweifel. Also - warum gab es im Islam keinen Martin Luther? Tamim Ansary hat eine durchaus plausible Erklärung:
Zum einen, weil die Fragen, die den Reformatoren unter den Nägeln brannten, im Islam gar nicht aufkommen konnten. Protestantische Reformatoren rebellierten gegen die Kirche, doch der Islam hatte keine Kirche. Die Reformatoren griffen die Macht des Papstes an, doch der Islam hatte keinen Papst. Die Protestanten erklärten, es seien keine Priester nötig, um zwischen Gott und den Menschen zu vermitteln, doch der Islam hatte keine Priester.
Ein weiterer Denkanstoß, der im Buch aufgriffen wird, befasst sich mit einer verbreiteten Meinung: Die Moderne konnte sich nur dank der technischen Erfindungen des Westens wie der Dampfmaschine entwickeln. So mag Ansary den einen oder anderen Leser mit der Aussage überraschen:
In der muslimischen Welt gab es die Dampfmaschine schon drei Jahrhunderte bevor sie im Westen erfunden wurde. Dort löste sie allerdings rein gar nichts aus. Die Dampfmaschine wurde erfunden, um beim Festbankett eines reichen Mannes einen Drehspieß anzutreiben und ein Schaf von allen Seiten knusprig braun zu grillen; eine Beschreibung des Geräts findet sich in einem Buch des türkischen Ingenieurs Taqi al-Din aus dem Jahr 1551. Nach dem Fest fiel niemandem eine weitere Verwendungsmöglichkeit für den Apparat ein und er wurde wieder vergessen.
Freilich stellt sich auch hier die Frage nach dem Warum. Ansary erklärt:
Der technologische Durchbruch, den eine bestimmte Erfindung darstellt, ist nur eine von vielen Erfolgszutaten. Erst der gesellschaftliche Kontext entscheidet darüber, ob sie sich durchsetzt.
Angesichts des historischen Weitblicks, über den Ansary verfügt, irritiert allerdings die fehlende Distanz zu den islamischen Ursprüngen. Seine Darstellungen zu Anfang des Buchs oszillieren zwischen Sympathie und Verklärung der Ereignisse. Der Autor kündigt in der Einleitung zwar an, dass er vorherrschende Glaubenswahrheiten und nicht historisch gesicherte Erkenntnisse referieren will. Ungeachtet dessen, dass man dies auch nüchterner machen kann, nimmt er damit aber einen Bruch zur später überwiegend sachlichen Beschreibung der Fakten in Kauf. Hintergrund für diesen Bruch könnte sein, dass Tamim Ansary eine grundlegende Frage nicht diskutiert: Was heißt eigentlich "Islam"?
Tamim Ansary: Die unbekannte Mitte der Welt - Globalgeschichte aus islamischer Sicht. Erschienen bei Campus, 360 Seiten kosten 24,90 Euro, ISBN 978-3-593-38837-3. Besprochen hat das Buch Thorsten Gerald Schneiders.
Der Autor wird folglich von einem zentralen Manko der Geschichtsschreibung getrieben: Die Vergangenheit nicht bloß durch die eigene kulturelle oder nationale Brille zu betrachten und zu erzählen. Dabei besteht sein persönliches Ziel darin, die eurozentrische Sicht des Westens aufzubrechen. Und so hat er sich an die Arbeit gemacht, eine "Globalgeschichte aus islamischer Sicht" zu erzählen, wie es im Untertitel heißt. Doch tut er das wirklich – "aus islamischer Sicht" erzählen? Nein.
Tamim Ansary, 1948 in Afghanistan geboren, siedelte Anfang der 60er-Jahre in die USA über, wo er bis heute lebt. Er ist im Grunde ein Kind des Westens. Er schreibt nicht aus der Innenperspektive eines in jener Mitte der Welt sozialisierten Bürgers. Er ist ein Außenstehender, der die Geschichte jener Landstriche beschreibt, in denen Muslime die Mehrheit stellen. Das haben Scharen von Islamwissenschaftlern und Orientalisten zuvor auch schon getan. Und trotzdem ist sein Buch lesenswert. Es legt in Zeiten der Islamkritik den Fokus der Öffentlichkeit auf die für die heutige internationale Politik so zentrale Region, ohne dabei die islamistische Terrorbekämpfung oder die islamisch-fundamentalistischen Auswüchse im Sinn zu haben.
Was wir vorfinden, ist eine politisch weitgehend neutrale Skizze der islamischen Geschichte - gemeinverständlich, flüssig und durchaus fesselnd geschrieben. Ansary berichtet zunächst, wie sich der Islam als ursprünglich religiöse Idee unter dem gesellschaftlichen Druck der Gegner schnell zur politischen Bewegung unter dem Propheten und Staatsmann Mohammed aufschwang. Alsdann breitete sich die junge Gemeinde rasch in alle Himmelsrichtungen aus. Dynastien entstanden und erlebten ihren Niedergang. Aus dem Westen wie dem Osten brachen folgenreiche Ereignisse über die Welt der Mitte ein – die Kreuzzüge, der Mongolensturm, der Kolonialismus. Ansary blickt dabei immer wieder abwechselnd auf den arabischen, den persischen und den indischen Raum. Über den Aufstieg und Fall des Osmanischen Reichs hangelt er sich schließlich an den islamischen Reformbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts entlang in die Moderne - bis hin zum 11. September 2001.
Eine Geschichte der Welt ist immer eine Erzählung, die uns erklärt, wie "wir" zum "Hier und Jetzt" gekommen sind, erklärt Ansary. Und diesem Anspruch kommt sein Buch besonders im letzten Drittel nach, in dem es um die vergangenen rund 200 Jahre geht. Um die aktuelle Situation der islamischen Welt zu verstehen, ist diese Periode vor allen anderen entscheidend. In den Passagen über diesen Zeitraum kommt seinen Schilderungen eine echte aufklärerische Funktion zu. Der Autor zeichnet die drei Hauptströmungen der islamischen Reformbewegungen nach, die infolge des kolonialen Einfalls europäischer Mächte in die Welt der Mitte entstanden: Erstens diejenige, die die Menschen zurück zu den gesellschaftlichen Ursprüngen des Islam schicken will, zweitens die Strömung, die zum Nacheifern des Westens aufruft, und drittens jene, die eine Art Synkretismus aus westlichem und islamischem Denken propagiert. Bei der Darstellung der jüngeren Geschichte löst sich Ansary immer wieder von der reinen Erzählung, diskutiert Probleme und verschafft mehr oder weniger bekannten Theorien Beachtung. Erhellend ist das etwa am Beispiel der Reformation als Einleitung für das Zeitalter der Aufklärung: Für viele Zeitgenossen gilt es als quasi ausgemacht, dass die islamische Welt einen solchen Entwicklungsschritt noch vor sich hat. Die Grundfrage jedoch, ob sich die Geschichten des Christentums und des Islam an dieser Stelle überhaupt vergleichen lassen, wird von ihnen gar nicht mehr gestellt. Ein Versäumnis, ohne Zweifel. Also - warum gab es im Islam keinen Martin Luther? Tamim Ansary hat eine durchaus plausible Erklärung:
Zum einen, weil die Fragen, die den Reformatoren unter den Nägeln brannten, im Islam gar nicht aufkommen konnten. Protestantische Reformatoren rebellierten gegen die Kirche, doch der Islam hatte keine Kirche. Die Reformatoren griffen die Macht des Papstes an, doch der Islam hatte keinen Papst. Die Protestanten erklärten, es seien keine Priester nötig, um zwischen Gott und den Menschen zu vermitteln, doch der Islam hatte keine Priester.
Ein weiterer Denkanstoß, der im Buch aufgriffen wird, befasst sich mit einer verbreiteten Meinung: Die Moderne konnte sich nur dank der technischen Erfindungen des Westens wie der Dampfmaschine entwickeln. So mag Ansary den einen oder anderen Leser mit der Aussage überraschen:
In der muslimischen Welt gab es die Dampfmaschine schon drei Jahrhunderte bevor sie im Westen erfunden wurde. Dort löste sie allerdings rein gar nichts aus. Die Dampfmaschine wurde erfunden, um beim Festbankett eines reichen Mannes einen Drehspieß anzutreiben und ein Schaf von allen Seiten knusprig braun zu grillen; eine Beschreibung des Geräts findet sich in einem Buch des türkischen Ingenieurs Taqi al-Din aus dem Jahr 1551. Nach dem Fest fiel niemandem eine weitere Verwendungsmöglichkeit für den Apparat ein und er wurde wieder vergessen.
Freilich stellt sich auch hier die Frage nach dem Warum. Ansary erklärt:
Der technologische Durchbruch, den eine bestimmte Erfindung darstellt, ist nur eine von vielen Erfolgszutaten. Erst der gesellschaftliche Kontext entscheidet darüber, ob sie sich durchsetzt.
Angesichts des historischen Weitblicks, über den Ansary verfügt, irritiert allerdings die fehlende Distanz zu den islamischen Ursprüngen. Seine Darstellungen zu Anfang des Buchs oszillieren zwischen Sympathie und Verklärung der Ereignisse. Der Autor kündigt in der Einleitung zwar an, dass er vorherrschende Glaubenswahrheiten und nicht historisch gesicherte Erkenntnisse referieren will. Ungeachtet dessen, dass man dies auch nüchterner machen kann, nimmt er damit aber einen Bruch zur später überwiegend sachlichen Beschreibung der Fakten in Kauf. Hintergrund für diesen Bruch könnte sein, dass Tamim Ansary eine grundlegende Frage nicht diskutiert: Was heißt eigentlich "Islam"?
Tamim Ansary: Die unbekannte Mitte der Welt - Globalgeschichte aus islamischer Sicht. Erschienen bei Campus, 360 Seiten kosten 24,90 Euro, ISBN 978-3-593-38837-3. Besprochen hat das Buch Thorsten Gerald Schneiders.