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Geschichte der europäischen Expansion
Gegen die postkoloniale Zerknirschung

Der deutsche Historiker Wolfgang Reinhard legt mit der Neuauflage "Die Unterwerfung der Welt" ein umfassendes Werk zur Geschichte der europäischen Expansion von 1415-2015 vor. An einigen Stellen wird seine historische Deutung jedoch heikel, meint unsere Rezensentin - etwa dann, wenn er erklärt, dass Ethnozentrismus und auch Rassismus menschliche Instinkte seien.

Von Philine Sauvageot |
    Europa auf einem geografischen Globus
    Glaubt man dem Historiker Reinhard expandiert Europa nach wie vor. (picture-alliance / dpa / Felix Hörhager)
    Wolfgang Reinhard hat schon in den 1980er Jahren das unangefochtene Standardwerk zur europäischen Expansion veröffentlicht. Das machte ihn damals zum Pionier auf seinem Gebiet. Die vier Bände, aus heutiger Sicht längst verstaubt, hat der emeritierte Historiker jetzt neu geschrieben. In nur einem Band verdichtet er 600 Jahre Weltgeschichte. 1.600 Seiten dick beginnt "Die Unterwerfung der Welt" im Jahr 1415 bei den Entdeckungsfahrten der Portugiesen und endet bei der heutigen EU.
    "In gewisser Hinsicht ist das größenwahnsinnig. Aber naja, man muss mal was riskieren."
    Die Neuauflage: deutlich kompakter als ihr Vorgänger, und aktueller, auf den neuesten Forschungsstand gebracht. Reinhards Ausgangsthese:
    "Kolonialismus besteht im Grunde darin, dass die Kolonialherren ein Bündnis mit den einheimischen Eliten eingehen zur Ausbeutung der einheimischen Unterschichten. Schluss aus. Das ist kräftig formuliert, überzogen, aber falsch ist es nicht."
    Aber eben auch nicht ganz richtig, denn:
    "Aus theoretischen wie empirischen Gründen ist es unmöglich, wissenschaftliche, das heißt nachprüfbare Aussagen darüber zu machen, ob der europäische Kolonialismus für die Welt als Ganzes oder auch nur einen Teil von ihr gut oder schlecht gewesen ist, selbst wenn völliges Einvernehmen darüber bestünde, was man jeweils für gut oder schlecht halten soll."
    Kolonialismus und Imperialismus meidet Reinhard als "Schimpfworte"
    So schreibt es Reinhard in "Die Unterwerfung der Welt" - und darum spricht er hier, wie schon in den 80er- Jahren, möglichst neutral von "Expansion". Nicht nur die Ausweitung nach Übersee ist gemeint, auch diejenige innerhalb der Kontinentalgrenzen. Wenn er kann, meidet Reinhard "Kolonialismus" und "Imperialismus" als, wie er sagt, "Schimpfworte".
    "Entweder war das so, ganz früher, dass man sagte: Wir sind stolz auf unsere kolonisatorischen Leistungen. Wir haben die Neger von den Bäumen geholt, daran gehindert sich aufzufressen und so weiter und so fort. Und dann hieß es auf einmal: Das sind ja die Opfer der bösen Kolonisatoren. Heute wissen wir, dank der Psychologie und vieler anderer Wissenschaften, dass die Welt nun mal nicht bipolar organisiert ist und nicht auf Binome zu reduzieren."
    Nach der radikal kolonialkritischen Wende ab 1945 und der Dependenztheorie der 70er-Jahre ist heute herrschende Lehrmeinung, dass die Kolonisierten sehr wohl "handlungskompetent" waren.
    "Insgesamt ist eine Tendenz zur Ausbeutung und Verelendung der indianischen Unterschichten des spanischen Reiches nicht zu verkennen. Dennoch wurden die Indígenas keineswegs zu hilflosen Opfern weißer Willkür, denen nur der Koka- oder der Alkoholrausch als Trost verblieb. Oberhalb eines derartigen Eskapismus gab es vielerlei Möglichkeiten, mit der Kolonialmacht umzugehen, darunter die ausgesprochen kreative Mitgestaltung der neuentstehenden Kolonialgesellschaft von unten."
    Dass die Kolonialherrschaft immer nur mit "Kollaboration" von Einheimischen funktionierte, ist keine neue Deutung. Roland Robinson stellte sie 1972 auf.
    "Nun ist Kollaboration ein Schimpfwort, weil es sich auf den Zweiten Weltkrieg bezieht. Es ist eine unglückliche Wortwahl. Denn was gemeint ist, ist nicht etwa, dass da irgendwelche Leute ihr Vaterland verraten und mit den Feinden kollaborieren. Sondern sie hatten gar kein Vaterland. Sie haben nach den besten Interessen ihrer Ethnie oder ihrer Familie gehandelt und in den Kolonisatoren geeignete Bündnispartner gefunden."
    Diese Deutung relativiert die Schuld der Kolonialherren nicht. Aber sie erklärt, wie zum Beispiel die spanischen Konquistadoren - obwohl zahlenmäßig deutlich unterlegen - trotzdem in Mexiko Fuß fassen konnten. Nämlich nicht nur aufgrund einer wirtschaftlich-militärischen "Entwicklungsdifferenz".
    "Heute nimmt man zum Beispiel an, dass Cortés es niemals geschafft hätte, die Azteken-Hauptstadt Tenochtitlan zu erobern, wenn er nicht indianische Verbündete gehabt hätte, die durchaus keineswegs seine blinden Anhänger waren, sondern eigentlich aus ihrer Sicht in ihrem eigenen Interesse gehandelt haben und diesen fremden Menschen mit seinen tollen Waffen benutzt haben für ihre Zwecke."
    Reinhard relativiert das Interesse der Kolonialmächte. Die Briten in Indien sollen kein langfristiges imperiales Konzept verfolgt, sondern mittelbar nach nationaler Größe und wirtschaftlichem Profit gestrebt haben. Für einen Historiker beachtlich, dass Reinhard keinen Verlegenheitsbegriff scheut. Nicht alles kann er eindeutig erklären. Er gibt dem Zufall Raum.
    "Inzwischen ist klar, dass es nicht um historische Verdienste irgendwelcher Völker geht, denen wir zufälligerweise angehören, sondern um ein Geflecht von Voraussetzungen, Rahmenbedingungen und Impulsen einerseits, um die Akkumulation von Zufällen andererseits, durch die Europa seine weltgeschichtliche Rolle zugewiesen wurde."
    Die Quellen sind auf 300 Seiten alphabetisch sortiert. Ein bestimmtes Detail nachzuverfolgen ist beinahe unmöglich. Daher ist die "Unterwerfung der Welt"kein Nachschlagewerk im herkömmlichen Sinne, eher eine Geschichte aus einem Guss. Und Reinhard - der Erzähler.
    "Ich muss ganz ehrlich sagen, ein Buch dieses Kalibers kann man nicht nach den Quellen schreiben. Ich habe also Schlüsseldokumente selbstverständlich berücksichtigt. Aber was gewissermaßen auf Massenauswertung von Akten beruht, das kann ich nicht machen. Da muss ich mich auf andere verlassen."
    Nur wenige Quellen kommen von Seiten der Kolonisierten
    Das Werk fußt also auf Forschungsergebnissen Dritter. Und auf einer problematischen Quellenlage, die Reinhard kaum ausgleichen kann. Spärliche Dokumente für die Seite der Kolonisierten; ein Übergewicht der westlichen Perspektive. Hier liegt die Deutungshoheit: Die wichtigsten Forschungszentren für die Geschichte Lateinamerikas und Afrikas befinden sich bis heute in den USA und in Großbritannien.
    "Und manchmal wurde auch nicht bloßeinseitig dokumentiert, sondern auch manipuliert. Zum Beispiel habe ich ganz gegen Ende meiner Arbeit herausgefunden, dass die Briten bis 2012 tausende von Akten, die Repression und Folter betreffen, aus all ihren Kolonien diskret haben verschwinden lassen."
    Es sind Quellen, an deren Sprache sich Reinhard orientiert. Eigenwillig übernimmt er ihre anstößigen Vokabeln. Von "Negern", wie sie noch in den 80er-Jahren auftauchten, spricht er zwar heute nicht mehr. Aber…
    "Zum Beispiel habe ich mich geweigert, die Indianer auf 'First Nations' zu reduzieren, weil das scheint mir im Deutschen überflüssig zu sein. Dank Karl May hat 'Indianer' bei uns eine positive Konnotation."
    Auch Begriffe wie "Mischling" und "Mulatte" setzt der Autor nicht in Anführungszeichen. Sein Werk ist damit selbst ein historisches Dokument, das die aggressive Sprache, die weiße Dominanz der Kolonialmächte illustriert. Mit dem fragwürdigen Vokabular bildet Reinhard nun aber nicht gerade den neuesten Forschungsstand ab - sein eigentlich erklärtes Ziel. Besonders heikel wird es, wenn er erklärt, dass Ethnozentrismus und auch Rassismus menschliche Instinkte seien.
    "Es handelt sich nicht nur um ein anthropologisches, sondern sogar um ein biologisches Universalphänomen, denn selbst Populationen ein und desselben Bakteriums, die sich nur durch ein einziges serologisches Merkmal unterscheiden, sondern sich auf dem Objektträger unter dem Mikroskop sorgfältig voneinander ab. Geschichte erweist sich wieder einmal als Fortsetzung der Biologie."
    In diesem Kontext schreibt Reinhard von "Menschenrassen" - ein biologisches Konzept, das in der Zoologie zugunsten einer dynamischen Sicht menschlicher Vielfalt längst aufgegeben wurde. Reinhard aber hält wenig von Begriffspurismus und politischer Korrektheit.
    "Da stütze ich mich unter anderem auf Ausführungen von Lévi-Strauss, der als Ethnologe und als Jude nun wahrhaftig einer war, der was zu sagen hatte in der Hinsicht. Aber es ging ihm vor allem eben darum zu zeigen, dass von Natur aus Gruppen immer denken, sie sind besser als andere. Dass das normal ist, dass ohne diesen Sachverhalt Kultur nicht existiert. Und dass es darauf ankommt, wie man damit umgeht und nicht, dass man es wegdefiniert."
    Keine Antworten auf aktuelle Fragen
    Im Schnelldurchlauf blickt Reinhard im letzten Kapitel auf die "globale Unordnung" unserer Tage, zum Beispiel auf die Flüchtlingskrise.
    "Sie können also im Fernsehen in Afrika sehen, wie herrlich wir leben. Und dann meinen die Leute natürlich: Da will ich hin."
    Ob die Flüchtlingskrise eine Ursache in der alten Expansion haben könnte, bleibt unerwähnt.
    "Das tue ich deswegen nicht, weil sich natürlich aktuelle Ereignisse nie hundertprozentig aus der Geschichte ableiten lassen. Das ist das, was ich mit Kontingenz meine: Man kann’s nie vorher wissen."
    Dieser eigenen Aussage widerspricht er, wenn er an einer Stelle die Zweistaaten-Lösung sowie die Furcht vor einer neuen Shoah als inzwischen "erledigt" bezeichnet. Für einen Historiker lehnt er sich hier weit aus dem Fenster und vermischt Analyse mit Meinung und Prognose. Neu ist vor allem eine Grundthese: Europa selbst war und ist bis heute per se expansiv.
    "Das liegt einfach daran, dass es ein plurales Gebilde war, schon rein geografisch. Es gibt keine Halbinsel Asiens, die dermaßen komplex und zerfasert ist wie Europa. Dieser Pluralismus hat eine ungeheure Dynamik hervorgebracht."
    Eine Dynamik der europäischen Expansion, die bis heute anhalte. Allerdings nicht mehr auf religiöse, politische oder gewaltsame Weise, sondern hauptsächlich in wirtschaftlicher Hinsicht.
    "Die EU kann ja den Hals nicht voll kriegen, wenn ich das so brutal sagen darf. Und in der Ukraine haben sie auch die Quittung dafür gekriegt jetzt erstmal. Die Kandidaten der EU stehen schon vor der Tür, obwohl die Briten jetzt gerade raus sind. Andere warten nur darauf."
    Die alte europäische Expansion habe die heutige Welt in weiten Teilen vereinheitlicht. Infolge von Globalisierung: Globalität. Auch wenn von Globalisierung die Rede ist: Die seitenlangen Handelsstatistiken der 80er-Jahre-Fassung sind heute in schlanke Sätze gekleidet. Weniger Wirtschaft, mehr Sozial- und Kulturgeschichte, auch wenn Jazz und Blues als Innbegriffe fruchtbarer Musikkontakte leider nur beiläufig erwähnt werden. Reinhard schließt mit Goethe:
    "Geschichte schreiben ist eine Art, sich das Vergangene vom Halse zu schaffen."
    Paradox - schreibt der Autor doch die Geschichte nieder, um auf sie aufmerksam zu machen. Aber offensichtlich auch, um sich gegen die Kultur des Erinnerungszwangs aufzulehnen. Versucht er den Westen von Schuldgefühlen zu befreien? Von der "postkolonialen Zerknirschung", wie Reinhard sie an einer Stelle nennt? Nach der ersten Auflage der 80er-Jahre ist EDie Unterwerfung der Welt" jetzt ein Comeback, das die Wissenschaft bereichert. Denn mit einem solch universalgeschichtlichen und interdisziplinären Anspruch hat noch kein Historiker die europäische Expansion zu Papier gebracht. Begrenzen sich alle anderen Abhandlungen zum Thema doch auf eine Nation oder eine Epoche. Auch wenn noch immer in Bezug auf Sprache und Kulturverständnis an vielen Stellen verstaubt, ist das Werk moderner denn je. Es ist die Summe seines Schaffens. Und Reinhard weiterhin der Pionier auf seinem Gebiet.
    Wolfgang Reinhard: "Die Unterwerfung der Welt. Globalgeschichte der europäischen Expansion 1415 - 2015"
    München, C.H. Beck, 2016, 1648 Seiten.