"Entgegen landläufiger Meinung, die Geschichte der Konzentrationslager und der anderen nationalsozialistischen Zwangslager sei gründlich erforscht, gibt es noch zahllose weiße Flecken bei der Kartierung unseres Wissens über Glieder und Formen des Repressionsapparates, und zwar hinsichtlich sowohl seiner Intention wie seiner Dimension als auch seiner Funktion."
So urteilt Wolfgang Benz, Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung in Berlin. Gemeinsam mit Barbara Distel, Leiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau, hat er es sich deshalb als Herausgeber eines publizistischen Großvorhabens vorgenommen, alle Forschungsergebnisse zu einer Gesamtgeschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager zusammenzuführen. Jedes KZ mit den jeweiligen Außen- und Nebenlagern soll dargestellt werden. Insgesamt planen die Herausgeber sieben Bände; der letzte soll im Frühjahr 2008 erscheinen. Den Auftakt bildet der nun vorliegende Sammelband, in dem 24 Autoren einleitend "Die Organisation des Terrors" beschreiben, in knappen, sämtlich fundierten Beiträgen. Hier geht es noch nicht um einzelne Lager, sondern um die Strukturen des Lagersystems, um die Bedingungen von Verschleppung, von Bewachung und Ermordung. So schildert beispielsweise Angelika Königseder in ihrem Beitrag über die Entwicklung des KZ-Systems die unterschiedlichen Erscheinungsbilder der Lager in der Anfangszeit des Dritten Reiches:
"Frühe Konzentrationslager wurden in aufgelassenen Fabriken, ehemaligen Gefängnissen, still gelegten Zuchthäusern, Kasernen, leer stehenden Hotels oder Gewerbeanlagen, Arbeitshäusern, SA- und SS-Sturmlokalen, sogar in einer ehemaligen Benediktinerabteil (Köln-Brauweiler) oder auf einem alten Schleppkahn (Bremen-Ochtumsand) eingerichtet. Insgesamt existierten 1933/34 in Deutschland mindestens 70 Konzentrationslager und 30 "Schutzhaftabteilungen" in Justiz- und Polizeigefängnissen. Manche bestanden lediglich ein paar Wochen, andere mehrere Monate, nur wenige existierten länger als ein Jahr."
Der Terror im Land war von Willkür geprägt, und so mancher SA-Schläger beglich rasch noch eine offene Rechnung, andere nutzten die willkommene Chance zur Denunziation, um – aus politischen oder privaten Gründen – persönlich Rache zu nehmen. Von einer systematischen Verfolgung und also einer einheitlichen Struktur der Lager konnte in diesen Monaten nicht die Rede sein. Und in Preußen stritten sich Polizei und staatliche Verwaltung darüber, wer denn überhaupt die berüchtigte "Schutzhaft" und also die Einweisung in ein Lager verhängen dürfe.
"Andernorts war in diesem Zeitraum konsequent ein Modell-Konzentrationslager geplant und in die Realität umgesetzt worden, nämlich in Bayern, wo in der Nähe von München am 21. März 1933 das von Beginn an als dauerhafte Einrichtung außerhalb des staatlichen Zugriffs konzipierte Konzentrationslager Dachau entstanden war."
"Außerhalb des staatlichen Zugriffs" – das bedeutete, dass die SS die Herrschaft über die Lager übernahm und so das KZ zum dauerhaften Instrument der Verfolgung ausbaute. Das bayerische Modell setzte sich schließlich reichsweit durch, und die Lager wurden zum zentral verwalteten Terrorapparat unter dem Reichsführer SS, Heinrich Himmler. Die deutsche Öffentlichkeit wurde übrigens erstmals im März 1933 offiziell mit dem Begriff des Konzentrationslagers konfrontiert, ein Wort, das in den folgenden zwölf Jahren drohend über jeder Form politisch oder sozial abweichenden Verhaltens schwebte. Reichsinnenminister Wilhelm Frick hatte angesichts der ersten Verhaftungswelle vor allem gegen Funktionäre und Mitglieder der KPD offen mit Verhaftung und Mord gedroht:
"Wenn am 21. März der neue Reichstag zusammentritt, werden die Kommunisten durch dringende und nützlichere Arbeit verhindert sein, an der Sitzung teilzunehmen. Diese Herrschaften müssen wieder an fruchtbringende Arbeit gewöhnt werden. Dazu werden wir ihnen in Konzentrationslagern Gelegenheit geben. Wenn sie sich dann wieder zu nützlichen Mitgliedern der Nation erziehen lassen, wollen wir sie als vollwertige Volksgenossen willkommen heißen, sonst werden wir sie auf die Dauer unschädlich zu machen wissen."
Nun ist es ja nach 1945 üblich geworden, als guter Deutscher von diesen Lagern nicht gewusst zu haben. Eine kollektive Ausrede, die Jürgen Matthäus in seinem Beitrag über die Quellen zur Geschichte der Konzentrationslager nicht gelten lässt:
"Trotz nach wie vor anders lautenden Bekundungen ehemaliger Nachbarn der Lager war es keineswegs so, dass die KZ-Umgebung nichts von den Ereignissen in den Lagern mitbekommen hätte; stattdessen bestand ein vielfältiges Beziehungsgeflecht zwischen "innen" und "außen" [...]."
Zeitzeugen mögen beteuern, ahnungslos gewesen zu sein – der aufmerksame Historiker findet dagegen bei seiner Suche nach Quellen deutliche Belege:
"Akten in den jeweiligen Stadt- und Regionalarchiven belegen, wie stark ein KZ ungeachtet des Eindrucks vieler Häftlinge, es handele sich um einen hermetisch abgeschlossenen Ort jenseits etablierter Normen, mit seiner Umwelt im Alltagsbetrieb vernetzt war: Von der Ausschreibung von Bauaufträgen über die Belieferung mit Lebensmitteln bis zur Suche nach entkommenen Gefangenen hatten die KZ-Nachbarn Anteil an den Geschehnissen, in der Regel als Beobachter, nicht selten als Profiteure, bisweilen als Mittäter."
Breiten Raum nehmen in dem Sammelband die Versuche ein, sich dem Alltag in den Konzentrationslagern zu nähern. Zusammensetzung und Herkunft der Wachmannschaften werden ebenso thematisiert wie die medizinischen Experimente an den Häftlingen oder deren Zwangsarbeit vor allem in der Rüstungsindustrie. All diese Aspekte kreisen um den Begriff der "Häftlingsgesellschaft", den Kurt Pätzold in seinem Beitrag betrachtet. Danach werden die Inhaftierten als eine Zwangsgemeinschaft verstanden, für deren Zusammenleben alle ihnen vorher bekannten und vertrauten Werte und Normen außer Kraft gesetzt waren.
"Dennoch existierten in dieser Häftlingsgesellschaft – in einer Umprägung, die sie unverwechselbar macht – auch Verhältnisse, die sich in der Gesellschaft ringsum (selbst in ihrer zivilisatorischen Prägung) ebenfalls antreffen ließen. Dazu gehörten: Herrschaft und Unterordnung, Arbeit und Ausbeutung, Organisiertheit und Spontaneität, Ordnung und Chaos, Privilegien und Benachteiligungen, Sattheit und Hunger, Vorteilsnahmen und Verbrechen von Bestechung und Korruption bis zu Denunziation, Diebstahl, Körperverletzung und Totschlag, aber auch gegenseitige Hilfe, Solidarität und Widerstand."
Gerade diese Überlegungen zur Häftlingsgesellschaft werfen die Frage auf, wie sich eigentlich unser Wissen über Konzentrationslager zusammensetzt. Und obwohl sich eigene Beiträge mit den überlieferten Quellen wie den Berichten Überlebender, ja sogar mit der Kunst in Konzentrationslagern beschäftigen, tut sich hier eine Lücke auf. Was hat es etwa für Auswirkungen, wenn die Erinnerung an Auschwitz lange Zeit von jenen Überlebenden dominiert wurde, die als Kommunisten dorthin deportiert wurden und dort wichtige Aufgaben in der Lagerorganisation übernahmen? Und was bedeutet es, dass die Berichte inhaftierter Zeugen Jehovas bislang weitgehend ignoriert wurden? Ein Beitrag über Geschichtspolitik wäre hier notwendig gewesen – über das Erinnern und Vergessen aller Beteiligten. Über das kollektive Gedächtnis auch der Nachgeborenen muss sich Gedanken machen, wer dieses Thema zeitgemäß analysieren und präsentieren will.
Dennoch ist der Wert des geplanten Werkes nicht zu unterschätzen: Die siebenbändige Dokumentation dürfte – soweit sich dies nach dem ersten Band übersehen lässt – einen unverzichtbaren Beitrag für unsere Annäherung an die Geschichte des Dritten Reiches bilden. Im Herbst wird der zweite Band erscheinen, dann mit den Analysen über die frühen Lager, über die viel zu wenig bekannt ist, sowie über das Modell-KZ Dachau. Man wird diese Beiträge dann auch daran messen können, inwieweit sie die Geschichte nach der Geschichte – also das Erinnern an den jeweiligen Ort des Terrors – berücksichtigen.
Tilmann Bendikowski über die Aufsatzsammlung "Die Organisation des Terrors". Der Band wird von Wolfgang Benz und Barbara Distel herausgegeben und leitet ein auf insgesamt sieben Bände ausgelegtes publizistisches Großprojekt ein, das unter dem Titel "Der Ort des Terrors" die – so auch der Untertitel - "Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager" erzählen will. Die Edition erscheint im Münchner Beck Verlag. Der jetzt erschienene erste Band hat 394 Seiten und kostet 59,90 Euro. Immerhin gewährt der Verlag bis zum 1. Juli einen Subskriptionspreis in Höhe von 49,90 Euro.