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Geschichte der Nürnberger Prozesse
Eine historische Zäsur

Am 20. November jährt sich der Auftakt der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse zum 70. Mal. Erstmalig in der Geschichte mussten sich hochrangige Politiker und Militärs einer Diktatur wegen Verbrechen gegen die Menschheit vor Gericht verantworten. Der Journalist und Jurist Thomas Darnstädt beleuchtet den Prozess in einem Buch.

Von Niels Beintker |
    Die Hauptangeklagten (L-R) Hermann Göring, Rudolf Heß und Joachim von Ribbentrop auf der Anklagebank während der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesse am 13.02.1946 in Nürnberg.
    Die Hauptangeklagten (L-R) Hermann Göring, Rudolf Heß und Joachim von Ribbentrop auf der Anklagebank während der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesse am 13.02.1946 in Nürnberg. (picture alliance / dpa)
    Auf das Urteil der acht Richter reagierte der Angeklagte sichtbar verzweifelt. Immer wieder hatte sich Hermann Göring gegenüber der Anklage in Nürnberg als völlig unbeeindruckt gezeigt und die monatelangen Verhandlungen nicht mit Reue, sondern vielmehr mit Verachtung kommentiert. Als er schließlich am 1. Oktober 1946 als erster der 21 Angeklagten zum Tod verurteilt wurde, kehrte der vormalige Reichsfeldmarschall und selbst ernannte Nachfolger Adolf Hitlers aufgelöst in seine Zelle zurück, warf sich auf die Pritsche und bat, man möge ihn allein lassen. Die Szene ist bekannt, der amerikanische und während des Verfahrens tätige Psychologe Gustave M. Gilbert hat sie in seinen Erinnerungen geschildert. Thomas Darnstädt greift sie in seiner Darstellung der Nürnberger Prozesse auf und wertet sie als welthistorische Zäsur:
    "Hermann Göring ist der erste Mensch, der als Verbrecher verurteilt worden ist, weil er als Staatsmann sein Land in einen mörderischen Krieg geführt hat. Die persönliche strafrechtliche Verantwortung von Politikern und Militärführern für staatliches Unrecht: Das war der Blitzschlag des Völkerrechts, der am 1. Oktober über dem Saal 600 in Nürnberg niederging – und in Hermann Göring als Erstem einschlug."
    Thomas Darnstädts Buch liest sich zu großen Teilen wie ein sensationslüsterner Aufmacher für das Nachrichtenmagazin "Spiegel", für das der Journalist und Jurist seit vielen Jahren schreibt. Keine noch so kleine Anekdote darf ausgeblendet oder diskret übergangen werden, nicht der kleine technische Aussetzer der Kopfhörer von Hermann Göring während der Urteilsverkündung. Und auch nicht der quälend lange Todeskampf von Delinquenten wie Ernst Kaltenbrunner oder Joachim von Ribbentrop. Die recht flotte, dann und wann aber eben auch geschwätzige Schreibe mag der Lesbarkeit dienen. Sie bewirkt allerdings, dass Darnstädts Buch letztlich kein neues historisches Standardwerk zum Thema ist.
    Weniger schickes Geschwafel, stattdessen mehr Nüchternheit
    Das ist bedauerlich, denn seine eigentliche, unbedingt wichtige These hätte durchaus eine fundiertere und auch durch die historischen Quellen genau belegte Argumentation verdient – weniger schickes Geschwafel, stattdessen mehr Nüchternheit.
    Die Nürnberger Prozesse, so zeigt Thomas Darnstädt, markieren einen umfassenden Bruch mit der bisherigen völkerrechtlichen Tradition. Und das eben nicht nur in den pathetischen Vorstellungen des amerikanischen Chefanklägers Robert Jackson;
    "Das Tribunal von Nürnberg war nicht ein Besatzergericht für Besatzungsjustiz – es sollte ein internationales Gericht sein, eine Gewalt, die eben über dem Recht der Staaten steht und darum die Rechtsmacht hat, staatliche Akte wie einen Angriffskrieg zu verurteilen. Das war ja die Idee, die nach dem Willen Robert Jacksons das Völkerrecht verändern sollte: Wenn es ein Recht gibt, das als Recht der Völker unabhängig vom Willen der Staaten existiert, dann muss es auch eine gerichtliche Instanz geben, die solches Recht den Staaten gegenüber durchsetzen kann."
    Der Wert von Thomas Darnstädts Darstellung liegt nicht zuletzt im zeitlichen Bogen, in den er die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse, vor allem den ersten, gegen die sogenannten Hauptkriegsverbrecher, einordnet. Das Buch, gestützt auf viele historische Dokumente, Tagebücher und Prozessprotokolle, reicht bis in unsere Gegenwart hinein, schildert die lange Nachgeschichte der völkerrechtlichen Revolution bis zur Gründung des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag.
    Beginn im Frühjahr 1942
    Ebenso beginnt es nicht erst mit den eigentlichen Prozessvorbereitungen, sondern im Frühjahr 1942 mit dem Beschluss einiger Exilregierungen in London, die nationalsozialistische Führung für ihre Verbrechen juristisch belangen zu wollen – damals ein kühner Vorschlag, der von den Außenamtschefs in London und Washington brüsk zurückgewiesen wurde: Das Völkerrecht, so zeigt Darnstädt, sah seit dem Westfälischen Frieden von 1648 die Ahndung von Verbrechen gegen die eigene Bevölkerung eines Landes überhaupt nicht vor. Erst am Ende des immer brutaleren deutschen Vernichtungskrieges fanden Völkerrechtler der Alliierten, darunter auch aus der Sowjetunion, eine Formel, um ein völlig neuartiges Verfahren zu legitimieren. Um die Verbrechen gegen die Menschlichkeit strafrechtlich zu ahnden, verwendeten die in Nürnberg tätigen Juristen, gestützt auf die gerade verabschiedete Charta von London, neue Kategorien wie die Verschwörung und die Planung eines Angriffskrieges:
    "'Das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit zwischen den Nationen', hatte (Robert) Jackson gefordert, müsse an die Stelle des alten westfälischen Gewaltprinzips der Fortsetzung der Politik mit den Mitteln des Krieges treten – und dazu gehöre auch, dass man die Verantwortlichen des besiegten Gegners vor ein faires Gericht stelle."
    Das klingt aus der Rückschau so einfach. Im Sommer 1945 waren diese Gedanken keineswegs selbstverständlich, sondern provozierend und revolutionär. Mit Blick auf das damals geltende Völkerrecht sei diese Definition einerseits ein Rechtsbruch gewesen, schreibt Thomas Darnstädt. Andererseits eben – mit Blick auf die Geschichte seit 1945 – eine völkerrechtliche Großtat.
    Immer wieder thematisiert der in den juristischen Debatten versierte Autor dieses letztlich philosophische Spannungsfeld. Die grundlegende Frage – darf man nach einem neu definierten Straftatbestand zurückliegendes Unrecht bestrafen – beschäftigte die in Nürnberg tätigen Juristen der Alliierten während des gesamten Verfahrens. Noch während Abfassung der Urteile stritten die Richter – von jeder Siegermacht jeweils zwei – über diese grundsätzliche Problematik:
    "Sie schrien sich an, immer wieder liefen sie ratlos auseinander, mehrfach erreichten die Juristen aus den vier so unterschiedlichen Rechtsordnungen nur knapp einen Kompromiss, der weniger vom Recht geprägt war, als von der unbedingten Pflicht, im ersten internationalen Strafprozess der Weltgeschichte schlussendlich ein Urteil abliefern zu müssen."
    Interessante Einführung in die Geschichte
    Thomas Darnstädts Buch bietet eine interessante Einführung in die Geschichte des ersten Nürnberger Prozesses und einer entscheidenden Neubestimmung im Völkerrecht. Der Autor schildert viele Details des großen und für die strafrechtliche Ahndung völkerrechtlicher Vergehen entscheidenden Verfahrens. Er vermittelt einen guten Eindruck der intensiven Prozesstage, etwa davon, wie Robert Jackson, ein ehrgeiziger, akribisch vorgehender Jurist, bei seinem Kreuzverhör Hermann Görings grandios scheiterte.
    Schließlich sensibilisiert dieses Buch für neue historische Forschungsergebnisse, etwa zur bislang eher unterschätzten Rolle der sowjetischen Beteiligten am Prozess. Und es stellt die Frage nach den dunklen Stellen dieser juristischen Neubestimmung. Etwa mit Blick auf die Weigerung der Alliierten, mögliche eigene Vergehen gegen die Menschlichkeit im Zweiten Weltkrieg zu ahnden. Erschöpfend und umfassend ist diese Geschichte der Nürnberger Prozesse keinesfalls. Immerhin bietet sie ein stabiles Gerüst für die weitere Auseinandersetzung mit einer tatsächlich dramatischen Geschichte.
    Buchinfos:
    Thomas Darnstädt: "Nürnberg. Menschheitsverbrechen vor Gericht", Piper-Verlag München, 415 Seiten, Preis: 24,99 Euro