Halle an der Saale ist einer der Orte Deutschlands, in denen vor mehr als zwei Jahrhunderten Psychiatrie als Wissenschaft entstand. Verbunden ist er mit dem Badearzt, Philosophen und Universitätsprofessor Johann Christian Reil. Kur statt Kette, so lautete sein Credo: Er forderte die Abkehr von der gefängnisartigen Zwangsunterbringung und den Aufbau von Heilanstalten. So geschah es auch am Rande von Halle, und das auf sehr großzügige Weise, sagt Dr. Frank Pillmann, leitender Oberarzt an der psychiatrischen Klinik der Hallenser Uni.
"In den 90er-Jahren des 19. Jahrhunderts war es dann soweit, dass sich die Universität eine eigene psychiatrische Klinik bauen konnte. Also eine Klinik, die der Versorgung der Kranken in der Stadt und vor allem auch dem Unterricht und der Forschung gewidmet war."
Im Mittelpunkt stand die Hirnforschung, die Kartierung der Hirnareale: Der Franzose Paul Broca hatte 1862 in der Großhirnrinde das Zentrum der Sprachproduktion entdeckt; der Deutsche Carl Wernicke 1874 das Areal des Sprachverständnisses. Wernicke gehörte zu jenen Wissenschaftlern, die früh ihre maßgebliche Entdeckung machten.
"Und dann sind sie nach Halle gekommen, weil es damals durchaus üblich war, auf die psychiatrischen Lehrstühle Persönlichkeiten zu berufen, die sich gerade in der Hirnforschung besonders ausgewiesen haben.
Man ist Anfang des 20. Jahrhunderts dazu übergegangen, die Frage der Hirnforschung, der Neuropathologie, etwas zurückzustellen und mehr nach den Symptomen, dem Langzeitverlauf der Erkrankung zu schauen und Erkrankung zu beschreiben und einzuteilen."
Ein Einschnitt für die Psychiatrie
Der Erste Weltkrieg wurde zu einem Einschnitt in der Geschichte Europas, aber auch für die Psychiatrie. Nicht allein durch die vielen Kopf- und Hirnverletzungen, sagt Frank Pillmann.
"Gerade während und nach dem Ersten Weltkrieg gab es eine sehr intensive Diskussion darüber, ob entsprechende Krankheitsbilder eher organisch oder eher psychisch bedingt waren; wie man die behandeln sollte, ob man die Betroffenen wieder zurückschicken soll an die Front oder ob man sie als Patienten behandeln soll. Unter dem Begriff der traumatischen Neurose, wie das damals hieß, war das leider ein sehr, sehr wichtiges psychiatrisches Feld."
Von diesen sogenannten Kriegszitterern gab es Abertausende; den wenigsten konnte geholfen werden.
In den Jahren danach differenzierte sich die Psychiatrie weiter aus. Auch in Bezug auf die Einstufung der Patienten, sagt der Historiker Dr. Harald Jenner aus Hamburg.
"Man hatte also drei Kategorien: Einmal die, bei denen man eine Heilung möglich hielt, einmal jene, von denen man sagte: Die sind es wert, gepflegt zu werden – diese Kategorie war zuerst größer, wurde in der Praxis nachher immer kleiner. Und dann die, wo man nach den Erblehren meinte, es lohne nicht. Die haben schwere erbliche Dispositionen, da hatte schon einen Onkel als Säufer – naja, da ist die Sache doch ganz klar: Aus dem kann auch nichts mehr werden."
Eine Befragung mit fatalen Folgen
Eine tragische Rolle kam dem sächsischen Kinderanstaltsarzt Ewald Meltzer zu: Als Entgegnung zur aufkommenden Meinung, lebensunwertes Lebenzur Vernichtung freizugeben, stellte er 1925 eine eigene Untersuchung an. Er befragte die Eltern seiner 250 Schützlinge und erhoffte sich von ihnen eine ebenso ablehnende Haltung.
"Nein: Ein Großteil der Eltern sagte: Eigentlich habt ihr Recht. Unser Kleiner quält sich ja doch nur. Wenn man eine Methode hätte, ihn schmerzlos von seinem Leiden zu erlösen, wie es euphemistisch nannte, dann sollte man das doch machen."
Die Befragung wurde später von den Nazis als Legitimation für die Euthanasiemorde missbraucht; nur jedes zehnte Kind seiner Anstalt überlebte. Dennoch, so Harald Jenner:
"Es gibt beides. Es gibt Leute, da sind die Angehörigen oder Freunde noch in die Tötungsanstalt gefahren und haben die wieder herausgeholt. Und es gibt andere Fälle, da haben sich Eltern bei den Regierungsstellen gemeldet und haben gesagt: Wir haben Gerüchte gehört, könnt ihr nicht unsere beiden Kinder abnehmen, die sind sowieso völlig geschädigt. Die sagten: Nein, so was gibt es natürlich nicht. Aber Sie können sie ja mal Doktor soundso vorstellen."
Einige jener Soundso hatten sich zu verantworten, als nach dem Zweiten Weltkrieg das verbrecherische Ausmaß der Tötungsaktionen offenbar wurde.
"Ihnen war schon klar: Sie müssen sich am Ende des Dritten Reiches kritisch gegenüber der NS-Zeit positionieren, um selbst weiterhin als Ärzte praktizieren zu können."
Sagt der Historiker Martin Kiechle, Doktorand an der Jenaer Universität.
"Das funktionierte aber nach einem ganz spezifischen Muster: das war meistens eine nach außen hin getragene Kritik, die im Pathos der Selbstkritik daherkam, tatsächlich aber eine kleine Minderheit an Ärzten gewissermaßen als NS-Dämonen stilisierte, um sich selbst mit der eigenen Vergangenheit nicht auseinandersetzen zu müssen."
Speziell erforscht er die Geschichte der Jenaer Psychiatrie, darunter die Rolle von Rudolf Lemke. Als junger, aufstrebender Forscher hatte er die gängigen Auffassungen verinnerlicht, dass erbliche Ursachen für psychische Krankheiten über Umwelteinflüsse zu stellen seien. Das änderte sich etwas, als er psychisch erkrankte Soldaten behandelte.
"Nach 1945 stellte er es zumindest so dar, als ob in dieser Zeit ein Umdenken stattgefunden habe. Tatsächlich ist er aber schnell dabei, das wieder in die Erblehre der deutschen Psychiatrie umzuleiten. Und eigentlich gießt er nur alten Wein in neue Schläuche."
Weil es die verhängnisvolle, aus den 1920er, 30er-Jahren stammende Position gewesen sei. Zunächst als belastet eingestuft, konnte Lemke nach dem Urteil eines sowjetischen Militärgerichtes weiterarbeiten und erwarb sich in Jena große Verdienste in der Kinder- und Jugendpsychologie.
Stolz auf Militärkarriere trotz traumatischer Erlebnisse
Einen Bogen in die jüngere Vergangenheit schlug Dr. Frank Usbeck, Inhaber einer Professur für Literatur Nordamerikas an der TU Dresden. Wie wurden und werden amerikanische Soldaten mit traumatischen Erlebnissen fertig?
"Ich habe viel mit Memoiren aus den Irak-, Afghanistan-Kriegen und auch früheren Kriegen gearbeitet, wo ganz oft davon die Rede ist: Zu Militär zu gehen ist für mich die Gelegenheit etwas zu tun, was größer ist als ich selbst. Diesen Begriff larger than yourself trifft man immer wieder, und für mich persönlich ist es schwer nachzuvollziehen, dass die Leute keine andere Möglichkeit sehen."
Was nicht zuletzt damit zu tun habe, dass Militär und Krieg in den USA eine ganz andere Rolle spielen als hierzulande.
"Weil hier in Deutschland aufgrund der Historie die Zivilgesellschaft ein völlig anderes Verhältnis zum Militär hat. Und in der amerikanischen Gesellschaft, die sich ja selbst immer als individualistisch feiert, ist das was Besonderes Leute zu treffen, die sich für die Gesellschaft einsetzen."
So ein Treffen findet auch organisiert in den Heimatgemeinden statt, ähnlich einer Gruppentherapie: der Heimkehrer berichtet von seinen traumatisierenden Erlebnissen. Dann erklären sich seine Nachbarn, wenn sie Mitschuld an seiner Situation empfinden.
"Was haben wir unseren Soldaten angetan, indem wir sie dahingeschickt haben und dann allein gelassen haben? Was an sich ja schon ein kulturelles Konstrukt ist. Aber dieser Grundgedanke kehrt immer wieder ."
Und zwar seit dem verlorenen Vietnamkrieg, der die amerikanische Gesellschaft erschüttert hat. Dieser Austausch, sagt Frank Usbeck, sei manchmal wirksamer als die konventionellen Behandlungen der posttraumatischen Belastungsstörungen.