Weltgeschichten haben derzeit Konjunktur. Nachdem sich viele Historiker lange Zeit in Detailstudien vertieften, wenden sie sich jetzt wieder globalen Darstellungen und den großen Linien der Geschichte zu. Nach Wolfgang Reinhards "Unterwerfung der Welt" und Jürgen Osterhammels "Verwandlung der Welt" legt jetzt der englische Historiker Peter Frankopan eine "Neue Geschichte der Welt" vor. Dazu wählt er einen ungewöhnlichen Ausgangspunkt: die alten Handelswege im Osten.
"Es ist eine immense Herausforderung, eine Weltgeschichte zu schreiben. Aber ich wollte auch keine Enzyklopädie vorlegen, sondern deutlich machen, dass dieses Netzwerk, der ideale Standort ist, um die vergangene und gegenwärtige Weltgeschichte zu verstehen."
Wiege der Zivilisation
Der Historiker, Leiter des Zentrums für Byzantinische Studien an der Universität Oxford, orientiert sich in seiner Darstellung an der traditionellen Ereignisgeschichte vom Aufstieg und Niedergang großer Reiche und ihrer Herrscher. Die Sozial- und Alltagsgeschichte klammert Frankopan weitgehend aus. Er wartet aber mit einer beeindruckenden Detailfülle auf und beweist bei seinem anspruchsvollen Unternehmen den Mut zur Lücke, indem er z.B. die europäische Aufklärung oder die Geschichte Nord- und Südamerikas nur am Rande streift und den Fokus auf den Nahen und Mittleren Osten legt; eine Region, der er große Sympathien entgegenbringt.
"Diese Länder liegen nicht an der Peripherie der Weltpolitik, sondern mitten in ihrem Zentrum – und das schon seit Beginn der Geschichte. Hier finden wir die Wiege der Zivilisation. An dieser Schnittstelle von Ost und West wurden vor fast fünftausend Jahren große Metropolen gegründet, mit Zehntausenden von Einwohnern und Straßen, die über ein hochentwickeltes Kanalisationssystem miteinander verbunden waren, wie man es in Europa noch Jahrtausende später nicht kannte."
Im englischen Original erschien Frankopans Buch unter dem Titel The Silk Roads, die Seidenstraßen. Die Verkehrs- und Lebensadern betrachtet der Autor als Schlüssel zu Macht, Herrschaft und Expansion. Dank der Kontrolle über die Handelswege konnten im Osten blühende Reiche entstehen, die Europa lange Zeit überlegen waren.
Die Erfindung biologischer Kriegführung
"Zahlreiche Produkte wurden über diese Verbindungswege transportiert: Waren, Menschen, Missionare und Evangelisten, die den Islam, das Christentum und den Buddhismus verbreiteten, sowie Ideen und Sprachen, aber auch Krankheiten wie die Pest", so der Autor. Rund ein Viertel der europäischen Bevölkerung raffte die Pest im 14. Jahrhundert dahin. Aber auch im Mittleren Osten, auf der Arabischen Halbinsel und am Schwarzen Meer breitete der schwarze Tod sich rasant aus. Ein mongolisches Heer, das einen genuesischen Handelsposten auf der Krim belagerte, wurde von der Krankheit dezimiert.
"Vor dem Abzug legten die Mongolen jedoch die Leichen auf Wurfmaschinen und ließen sie in die Stadt Kaffa hineinkatapultieren, damit sie dort alle an der unerträglichen Pest zugrunde gehen sollten. Dabei war der Pestgestank noch das kleinste Übel, vielmehr breitete sich die hochansteckende Krankheit in der Stadt aus. Unwissentlich hatten die Mongolen biologische Kriegführung eingesetzt, um ihren Gegner zu besiegen."
Westliches Kurzzeitdenken
Trotz ihres mitunter blutrünstigen Auftretens bescheinigt Peter Frankopan den Mongolen klare strategische Ziele, eine kluge Bündnispolitik und eine großzügige Verteilung von Wohltaten. Entlang der Seidenstraße seien längere Kriege, anders als in Europa, eher die Ausnahme gewesen. Die Handelswege übertrugen nicht nur die Pest, auf ihnen florierte auch der Sklavenhandel, der Venedig im Mittelalter zu Reichtum verhalf. "Wenn man heute in Venedig in ein Café geht, einen Cappuccino bestellt und zum Kellner 'ciao' sagt, denkt niemand darüber nach, was das eigentlich bedeutet. 'Ciao' kommt aus dem Venezianischen 'schiavo', ich bin dein Sklave."
Mit einigem Recht betrachtet Peter Frankopan in seiner anregenden und unterhaltsamen Darstellung den Nahen und Mittleren Osten als einen Mittelpunkt der Weltgeschichte. Nicht ohne Grund kritisiert er das westliche Kurzzeitdenken, das zum Beispiel im Fall des Irak zum Sturz Saddam Husseins führte, die Planungen für die künftige Gestalt des Landes aber vollkommen vernachlässigte. "Die Vorstellung, dass die Beseitigung Saddam Husseins den Irak zu einem Land machen würde, in dem Milch und Honig fließen, war ein Wunschdenken epischen Ausmaßes. Zehn Jahre nach dem Sturz Saddam Husseins befand sich das Land am unteren Ende aller Ranglisten, die den Übergang zu einer gesunden Demokratie anzeigen. In Bezug auf Menschenrechte, Pressefreiheit, Minderheitenrechte, Korruption und Redefreiheit schneidet der Irak nicht besser ab als unter Saddam Hussein, und in einigen Fällen sogar schlechter."
Probleme und Potenzial
Angesichts dieser verheerenden Bilanz, die im Falle Afghanistans ähnlich ernüchternd ausfällt, überrascht dann doch Peter Frankopans optimistischer Ausblick: "Langfristig haben viele dieser Länder ein großes ökonomisches Potenzial und eine junge, ambitionierte, bildungshungrige Bevölkerung. Unter den 20 wachstumsstärksten Ländern der letzten zehn Jahre ist kein einziges aus der westlichen Welt. Aus dem Osten kommen alle unsere Probleme und Herausforderungen, aber auch unsere Zukunftschancen." Schaut man in die Türkei, nach Syrien oder in den Irak, dann erscheint Frankopans Vision vom Wiederaufstieg der Seidenstraßen und einer Renaissance des Ostens allerdings reichlich gewagt.
Peter Frankopan: "Licht aus dem Osten. Eine neue Geschichte der Welt"
Rowohlt Berlin, 941 Seiten, 39,95 Euro.
Rowohlt Berlin, 941 Seiten, 39,95 Euro.