Bernd Lechler: "Glam: Glitter Rock und Art Pop von den Siebzigern bis ins 21. Jahrhundert", so heißt das neue Buch des Pop-Historikers Simon Reynolds. Das ist der, der vor sechs Jahren mit dem 400-Seiten-Wälzer "Retromania" Aufsehen erregte - mit der These, die Popmusik bediene sich nur noch aus ihrer Vergangenheit. Bei Glamrock nun denkt man ja erst mal an die 70er Jahre, an Lacklederne Plateaustiefel, Glitzerkostüme und Acts von Bolan bis Bowie und Sweet bis Slade. Jens Balzer, wie beschreibt Simon Reynolds das Phänomen, und warum strahlt diese vergangene Popepoche offenbar doch noch ins Heute?
Jens Balzer: Ja, hallo. Das stimmt, was Sie gesagt haben. Glamrock wird erst mal mit Plateaustiefeln und so Dingen verbunden, schrillem Aussehen und einem musikalischen Stil, der in den frühen Siebzigerjahren wurzelt und dann aber auch schnell wieder verpufft ist. Also viele von den Namen - Bolan und Bowie kennt man natürlich, wie Sie sie erwähnt haben -, aber auch ganz viele von den Künstlern, die auch bei Reynolds Glam-Historie vorkommen, sind eigentlich heute weitgehend vergessen, werden vor allem von Leuten erinnert, die - ich glaube - wie wir beide damals im Kindesalter gewesen sind, vielleicht auch in Deutschland "Disco" mit Ilja Richter geguckt haben oder solche Sendungen, oder den Musikladen.
Wer geblieben ist, natürlich, David Bowie, das ist dann auch eine zentrale Figur in diesem Buch. Den Blitz, den er sich auf dem Cover von "Aladdin Sane" ins Gesicht geschminkt hat, ziert auch den Einband, jedenfalls der englischen Originalausgabe. Bei Bowie findet sich tatsächlich alles versammelt, was den Glamrock ausmacht, also, wenn man will, kann man über ihn auch so eine Definition versuchen, da ist vor allem genau diese schrille, nicht-normale, bei Bowie ja auch so außerirdische Inszenierung, das Alien, der Mann, der vom Himmel fiel. Dann der ständige Wechsel der Masken und Rollen: Reynolds beschreibt detailliert, wie Bowie eigentlich schon seit den 60er Jahren - und auch am Anfang noch sehr erfolglos - seine Masken und Rollen wechselte, bis er dann endlich die Rollen gefunden hatte, in denen er dann reüssierte Anfang der 70er.
Also diese nicht festgelegte Identität des Künstlers ist charakteristisch für den Glamrock, und dann auch die damit verbundene Behauptung, dass die Maske, das Künstliche wichtiger ist als das, was man dann vorher im Rock oder bis heute im Rock dann das Authentische oder das Natürliche nennt. Die Frage ist, ob es sowas wie eine natürliche, vorgegebene Identität überhaupt gibt. Das wird im Glamrock formuliert als Frage, und deswegen, sagt Reynolds, ist es da auch für uns heute noch interessant, weil es gewissermaßen die Geburtsstunde der Postmodernität ist. Also die Postmoderne hat eigentlich - das ist die These dieses Buches - im Pop begonnen und dauert ja in gewissen Filiationen bis heute.
Glamrock als Gegeninszenierung zu Woodstock
Lechler: Und diese schnell verpufften, anderen Bands außer Bowie, wen findet Reynolds da noch relevant?
Balzer: Ja, es geht natürlich los mit Marc Bolan - den haben wir schon erwähnt -, der in den späten Sechzigern - auch interessant, weiß auch nicht mehr jeder - ja mal in so einem Hippie-Folkduo namens Tyrannosaurus Rex reüssierte. Also der Schlagzeuger hatte sich auch so einen Tolkien-Namen nach dem "Herrn der Ringe" gegeben, das war damals ja auch noch sehr populär. Hat dann die Gruppe 'gerelauncht' gewissermaßen, den Namen auf T. Rex verkürzt und ist damit dann eigentlich der erste Glamrocker geworden, also auch der erste, der mit dieser schrillen Selbstinszenierung, in diesen schrillen Kostümen dann vor allem die jungen Leute begeisterte, und war auch - das ist auch eine interessante Beobachtung von Simon Reynolds - der erste Pop-Superstar, dessen Anhänger sich genauso anziehen wie er.
Also bei den Beatles gab es natürlich die Frisurenmode und so was, es gab immer so Vorbildfunktionen. Aber dass tatsächlich ein Kleidungsstück so charakteristisch ist und auch so zu Imitationen einlädt, das kommt von Marc Bolan. Und dann gibt es Figuren wie Alice Cooper, der tourt ja bis heute - war glaube ich gerade noch in Deutschland unterwegs -, der verbindet diese schrille Inszenierung dann mit so Horror- und Schockelementen, also wie dann heute Marylin Manson, also das Vorbild aller Horrorclowns im Pop, da gibt es dann Pyrotechnik und Spezialeffekte aller Art auf der Bühne. Also man könnte sagen, dass er den Rock zur Show gemacht hat, vor allem das Konzert zur Show gemacht hat und auch das Mittel der Provokation, das zeichnet Reynolds auch detailliert nach, Provokation der Presse und des Publikums ganz klar eingesetzt hat, um damit seine Karriere zu befördern und zu begründen.
Lechler: Das muss ja der authentischen Fraktion dann eher aufgestoßen sein, dass da der Rock zur Show wird.
Balzer: Ja, dieser ganze Glamrock gilt ja dann auch als 'Beerdigung' all dessen, wofür Woodstock, Summer of Love in den Sechzigern mal gestanden haben. Also gerade Alice Cooper - das beweist Reynolds mit zahlreichen Pressezitaten - war sozusagen die negative Symbolfigur für Woodstock und die Hippie-Generation, der hat alles verraten, wofür Woodstock stand, auch mit diesen Shows, dem Kommerziellen, und dass er die Provokation nicht aus politischen Gründen einsetzt, sondern halt nur aus Karrieregründen. Und dann gibt es natürlich auch, nachdem der Rock Ende der 60er Jahre ja sehr erwachsen geworden war, dann zum ersten Mal wieder eine große Welle an Teenie-Stars, die mit diesem Glam oder auch dem sogenannten Glitterrock, dann vor allem erst mal über England hereinbricht, also Slade, Sweet, Gary Glitter oder dann auch der vor ein paar Wochen verstorbene David Cassidy. Also da wird dann Pop wieder zum Teenie-Phänomen.
Die Geschlechterrolle im Glamrock
Lechler: Sie haben vorhin schon von den wechselnden Masken gesprochen, es wurden auch die Geschlechteridentitäten schillernd beim Glam. Wie greift Reynolds das auf?
Balzer: Ja, das ist ja das, was man auch mit Glam, vor allem auch mit dieser David-Bowie-Tradition immer so verbindet, also man hat ja, also es gab gerade noch mal diese 'David Bowie made me gay', also Historien, die sich an seine Bedeutung für die schwule Community und die schwule Emanzipationsbewegung erinnerten. Das greift er auf, aber ich finde da Reynolds sehr angenehm in dem Fall, weil er das sehr kalt und distanziert macht. Also er begreift das Coming-Out, das berühmte von Bowie in dem Interview mit dem Melody Maker 1972, vor allem als Karriere-Move. Das war der Punkt, an dem er sich so als Außenseiter stilisiert hat, dass er damit tatsächlich eine Rolle einnehmen konnte, die seine Karriere jetzt dauerhaft irgendwie befördert hat und die ihn etabliert hat.
Tatsächlich hat er ja kein schwules Leben geführt, er mag schwule Beziehungen gehabt haben, aber im Wesentlichen war er - das weiß man auch irgendwie aus zahlreichen Biografien -, ein ganz normaler heterosexueller Sexist mit ganz vielen Groupies und auch sehr – was jetzt nach und nach im Zuge dieser 'Me too'-Kampagne auch nochmal wieder rauskommt -, auch sehr unangenehme Geschichten da mit diesen Groupies. Das gilt für viele von den Künstlern in den frühen Siebzigerjahren, die zum Glamrock gehören und - sagen wir mal - in Gender-Bending Klamotten aufgetreten sind. Auch die New York Dolls - auch immer mal so ein Beispiel - kommen auch in dem Buch vor, auch in Wirklichkeit ganz patriarchal veranlagte, maskuline Sexisten.
Tatsächlich gab es eine einzige Frau in dieser Zeit, die eine Rolle gespielt hat, und das war Suzi Quatro. Und die ist ja tatsächlich eher androgyn aufgetreten, der wird dann auch noch mal ein eigenes Kapitel gewidmet von Reynolds.
Lechler: Das weiß ich tatsächlich selber auch noch, wie verwirrend und aufregend ich die fand in ihrem schwarzen Lederoutfit, so mit elf, zwölf. Und überhaupt, diese ganzen Aliens auf den Plateaustiefeln...
Balzer: Ich hatte auch das Bravo-PinUp von ihr.
Lechler: Ja. Kiss gehörten auch dazu, waren auch noch mal so ein Spezialfall.
Balzer: Ja, genau.
Fokus auf den euro-atlantischen Raum
Lechler: Sie sagten schon, da der Reynolds unser Jahrgang ist, nehme ich mal an, der wurde selber auch mit Glamrock popmusikalisch sozialisiert.
Balzer: Ja, damit führt er sein Buch auch ein, dass er dass er sich erinnert, wie er dann in den späten Sechzigern in England vor dem Fernseher saß und da so die Musiksendungen gesehen hat. Und ich finde, das macht das Buch auch sehr schön, dass so gewissermaßen, er hat ja doch tendenziell auch eher so einen akademisch-analytischen Stil. Und das wird hier ganz oft irgendwie durchwoben von Kindheitserinnerungen, da wird das dann auch ganz warm und subjektiv und so. Also, das ist insofern - also gerade auch im Vergleich zu an deren Büchern von ihm - auch wirklich ein sehr schönes Buch. Ich finde, manchmal verliert er sich dann doch wieder ein bisschen zu sehr im Detail, das war in "Retromania" auch schon so, und auch in seinem Buch über die Postpunk-Epoche '78 bis '84, also ein strengerer Lektor hätte dem ganz gut getan.
Lechler: Über 600 Seiten sind es diesmal.
Balzer: Ja, 150 Seiten weniger hätten es auch getan, finde ich, ohne dass da was verlorengegangen wäre. Und, es ist wie bei allen Büchern von Reynolds, er ist wahnsinnig detailliert, aber er hat tatsächlich immer diese britisch-amerikanische Traditionslinie im Auge, und drum herum eigentlich nichts. Es gibt da noch so ein Kapitel, dass dann nachvollzieht, wie sich der Glamrock bis in die Gegenwart weiter auswirkt, wie die Tradition fortgeführt wird. Und da fehlt nämlich einfach ein entscheidender Strang, nämlich der japanische Visual-Kei-Rock. Also, wenn irgendwie Glamrock aufgegriffen und bis in die Gegenwart Stadionrock-Größe hat, dann ist es in Japan mit Gruppen wie X Japan oder Dir En Grey, das kommt bei Reynolds nicht vor, weil er sich halt irgendwie aus dieser doch relativ engen euro-atlantischen Perspektive nicht herausbewegt.
Aber das ist Gemecker auf hohem Niveau, insgesamt ist das ein ganz tolles und lesenswertes Buch, und ich habe davon viel gelernt und noch mal wieder gestaunt, gerade, wenn man so die eigenen Kindheitserinnerungen noch mal so motiviert über eine Epoche, die uns scheinbar so fern ist und irgendwie doch wieder ganz nah.
Lechler: Jens Balzer über das neue Buch von Simon Reynolds mit dem Titel "Glam, Glitter Rock und Art Pop von den Siebzigern bis ins 21. Jahrhundert". Erschienen im Ventil Verlag. Am Montag findet in Berlin die Buchpremiere statt, 19 Uhr im HAU2 Theater.