"D, E, ... so, bald sind wir an der Stelle, R, S, T ... kurz zurück." Franziska Kuschel starrt angestrengt auf den kastenförmigen Monitor. Vergilbte Karteikarten rauschen über den Bildschirm. Sie stammen aus der Mitglieder-Kartei der NSDAP, wurden einzeln abfotografiert und lagern heute als Mikrofilme im Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde. Kuschel sucht in diesen Karteikarten nach Namen von Mitarbeitern des Innenministeriums der DDR. Die Historikerin möchte wissen, ob sie vor 1945 in der NSDAP waren. "Altdeutsche Schrift, aber das ist zumindest der richtige Vorname, jetzt gleiche ich noch das Geburtsdatum ab." Kuschel gehört zum Team der acht Wissenschaftler, das seit einigen Wochen die Geschichte des Bundesinnenministeriums aufarbeitet.
NS-Belastung in DDR und BRD untersucht
In dieser ersten Phase des Forschungsprojekts wollen sie herausfinden, wie hoch die NS-Belastung unter den Mitarbeitern der 50er-, 60er- und 70er-Jahre war. Dass sich die Historiker dabei nicht nur dem westdeutschen Innenministerium widmen, sondern auch dem der DDR, ist ungewöhnlich. Die meisten anderen Kommissionen dieser Art konzentrieren sich ausschließlich auf die Behörden der Bundesrepublik. Wie viele Nationalsozialisten im DDR-Innenministerium saßen, wissen die Forscher noch nicht. Zwei Dinge sind aber abzusehen, sagt Frank Bösch, Direktor des Potsdamer Zentrums für Zeithistorische Forschung und einer der Leiter der Studie: "Generell können wir davon ausgehen, dass die NS-Belastung in der DDR geringer war als in der Bundesrepublik. Hier zählte natürlich viel stärker eine kommunistische Vergangenheit oder sozialistische Vergangenheit. Aber, was sich auch schon abzeichnet, ist, dass die NSDAP-Belastung im Innenministerium der DDR deutlich höher war, als wir das bisher kennen."
Und für das BRD-Innenministerium spricht Bösch sogar von einer "markanten" NS-Belastung in vielen Bereichen. Ganz anders klang das noch vor zehn Jahren aus dem Mund des damaligen Innenministers Otto Schily von der SPD. Außenminister Joschka Fischer hatte gerade die Aufarbeitung der Geschichte des Auswärtigen Amtes veranlasst. Schily erkannte darin kein Vorbild: "Ich habe keine Veranlassung, eine historische Untersuchung vorzunehmen, die dem Eindruck dann Vorschub leistet, dass es hier eine Kontinuität gibt; dann wird wieder unterstellt, als ob die Bundesministerien eine nationalsozialistische Vergangenheit hätten."
Nachzügler: Geschichte vieler Ministerien bereits aufgearbeitet
Als der Bericht fürs Auswärtige Amt vorlag, gab es tatsächlich einigen Ärger. Diplomaten fühlten sich an den Pranger gestellt, sprachen gar von Verleumdung. Seitdem ist viel passiert: Fast alle wichtigen Bundesministerien und sogar die Geheimdienste lassen inzwischen die Archive durchforsten. Die Ergebnisse sind unterschiedlich. Im Justizministerium arbeiteten sehr viele Nazis. Und das hatte Folgen: So konnten Kriegsverbrecher, die im Ausland strafrechtlich verfolgt wurden, mit intensiver Hilfe aus dem Ministerium rechnen. Beim Verfassungsschutz hingegen entdeckten die Historiker keinen prägenden Einfluss früherer Nationalsozialisten.
Das Innenministerium hinkte in Sachen Aufarbeitung lange hinterher, obwohl es eines der Schlüsselministerien der jungen Bundesrepublik war. Historiker Frank Bösch: "Das Innenministerium hatte damals noch eine viel größere Kompetenz als es heute der Fall ist. Es war zum Beispiel auch für die Gesundheitspolitik, für die Sozialpolitik verantwortlich, aber auch beispielsweise für die Medienpolitik, also die Fragen der Filmzensur und schließlich für Bereiche, die nach 1945 besonders zentral waren und besonders sensibel zu behandeln waren, wie zum Beispiel die sogenannten Belange des Judentums." So entschied das Innenministerium über Entschädigungen für Juden und andere Verfolgte im Rahmen der sogenannten Wiedergutmachungspolitik.
Erste Ergebnisse für November erwartet - Kanzleramt fehlt noch
Politiker der Opposition begrüßen diese Aufarbeitung, deren erste Ergebnisse im November vorliegen sollen. Doch finden Linke und Grüne, eine ganz wichtige Behörde fehle noch: das Bundeskanzleramt. "Das Kanzleramt war natürlich die Schaltstelle der Bundesrepublik, in der damals entschieden wurde, dass eine Rückkehr der alten Eliten aus Wirtschaft, Staat, Polizei und Justiz gewollt ist. Deswegen ist das Kanzleramt eigentlich, wenn wir die Institutionen und Ministerien kritisch aufarbeiten wollen, in gewisser Weise ein Schlusspunkt, weil es die zentrale Stelle damals gewesen ist, wo diese Politik entschieden, flankiert und durchgesetzt wurde," sagt Jan Korte, Vize-Vorsitzender der Linken im Bundestag. Seine Fraktion verlangt eine unabhängige Historikerkommission auch für das Kanzleramt. Das allerdings schweigt bislang zu dieser Forderung.
Die Aufarbeitung der NS-Lasten nach 1945 in BRD und DDR, die Suche nach ehemaligen Nazis in den Ministerien beider Staaten, sie hat noch lange kein Ende gefunden. Das zeigt das mühsame Schaffen von Franziska Kuschel im Bundesarchiv: "Ja, also jetzt sehen wir hier, der Betreffende hat keinen Treffer in der Datenbank, das heißt, mit hoher Wahrscheinlichkeit war er nicht in der NSDAP." Heute ist die Historikerin nicht fündig geworden. Auf ihrer Liste setzt sie hinter den Namen des gesuchten Mitarbeiters des DDR-Innenministeriums das Wörtchen "nein". Einen hat Kuschel damit abgehakt, hunderte weitere warten noch auf sie.