Informativ ist zumal für den deutschen Leser zweierlei: erstens, daß Dosse die politischen und durchaus auch die parteipolitischen Hintergründe der Theorieentwicklung darstellt. Ohne Stichworte wie Résistance, Algerienkrieg, Entstalinisierung und Archipel Gulag lassen sich auch noch so abstrakt scheinende Theorien nicht verstehen. Und zweitens, daß Dosse nicht nur die Heroen des Strukturalismus (also etwa Lévi Strauss, Jakobson, Barthes, Althusser, Lacan, Foucault, Genet, Todorov, Greimas, Kristeva) bedenkt, sondern auch den Figuren Gerechtigkeit widerfahren läßt, die aus Nicht-Pariser-Perspektive eher im Hintergrund stehen, dennoch aber entschieden auf die strukturalistische Theoriebildung eingewirkt haben. Geister wie der Anthropologe Georges Dumézil, der Wissenschaftstheoretiker Georges Canguilhem oder der Mathematiker Paul Henry kommen so zu ihrem Recht, einer der vielen Väter des Strukturalismus zu sein.
Wer aber über 600 Seiten durchackert, hat Anspruch darauf, nach der Lektüre nicht nur mit Pariser Genealogien vertraut, sondern auch klüger zu sein und anders zu denken als zuvor. Wer aber diese Geschichte des Strukturalismus in der Hoffnung liest, er könne danach z.B. mit den Symbolen umgehen, die Lévi-Strauss zur Analyse von Verwandtschaftsbeziehungen verwendet, er könne das semiotische Viereck von Greimas verwenden, oder er könne gar einen Lacanschen Graphen lesen, ein Diskursmathem identifizieren oder einen der Knoten lösen, die das Symbolische, das Imaginäre und das Reale ineinander verschlingen, wird bitter enttäuscht. Theoreme kondensiert und pointiert zu referieren: darauf versteht sich Dosse nicht. Seine Referate bleiben weitgehend "phony": sie machen Mut zum Mitreden. Wer sich dabei nicht verplappern will, sollte aber die Mühen nicht scheuen und das Buch von Dosse als Ermutigung zu eigener Lektüre verstehen.
Mit dem "Lichtjahr des Strukturalismus", also mit dem Jahr 1966, in dem u.a. Foucaults Buch "Les mots et les choses" ("Die Ordnung der Dinge") und Lacans "Schriften" erscheinen, schließt Dosse den ersten Band seiner Darstellung ab. Der zweite Band geht ausführlich auf die anti-ödipale, dekonstruktive bzw. postmoderne Wende des Strukturalismus (also auf die Denkfiguren von Deleuze, Derrida und Lyotard) ein. Er soll noch in diesem Jahr erscheinen. Bei allen kritischen Anmerkungen: die deutsche Übersetzung der beiden Dosse-Bände belegt, daß Deutschland und Frankreich sich nicht nur über Euro-Probleme zur Kenntnis nehmen. Die Zahl der Mißverständnisse nimmt ab. Und dazu tragen gerade auch eher narrative Hintergrundbücher wie das von Francois Dosse bei. Wer möchte nicht wissen, was in Paris so alles los war und ist.