Archiv


Geschichte eines Scheiterns

Das Buch des Autorenduos Joachim Radkau und Lothar Hahn erzählt die Geschichte einer Technologie, die in Deutschland letztlich gescheitert ist. Eine, die vielleicht sogar scheitern musste. Auch weltweit dürfte sie ihre besten Zeiten hinter sich haben.

Von Dagmar Röhrlich |
    Donnerstag, der 30. Juni 2011, 13.20 Uhr: Der Deutsche Bundestag besiegelte das Schicksal der Kernenergie: 2022 wird das letzte Atomkraftwerk vom Netz gehen. 513 Abgeordnete stimmten für das neue Atomgesetz, 79 mit Nein, es gab acht Enthaltungen, und 20 Abgeordnete fehlten. Das war das Ende einer Ära, die mit einer Bombe begann:

    Die überraschende Nachricht vom Abwurf der Atombombe auf Hiroshima am 9. August 1945 rief bei den damals im britischen "Farm Hall" internierten deutschen Atomphysikern zwiespältige Empfindungen hervor: Manche äußerten Erleichterung darüber, dass man nicht selber diese furchtbare Waffe entwickelt hatte, aber stärker war doch die Betroffenheit über die überwältigende Überlegenheit der amerikanischen Forschung und auch die Sorge, dass man selbst nunmehr in aller Augen als Versager dastünde.

    Zu den Gründen ihres Scheiterns hätten damals mangelnde Kooperation und Koordination gezählt: zwischen den Wissenschaftlern, aber auch zu Industrie und Politik, analysiert der Bielefelder Historiker Joachim Radkau. Und dieser Mangel ziehe sich auch durch die Geschichte der "friedlichen Nutzung" der Kernenergie. Eine Nutzung, die zunächst eigentlich nur die Wissenschaftler wollten. Dabei war Deutschland der Reaktorbau offiziell verboten. Die Forscher ließen nicht locker, und 1952 begann die Politik, die Idee voranzutreiben. Allmählich kam die Sache in Fahrt - irgendwie:

    "Für mich war in den 70er-Jahren, als ich so an die Akten herangelassen wurde, die verblüffendste Entdeckung, wie wenig großen Plan es in der ganzen Entwicklung gab. Dass die ganzen sogenannten Atomprogramme der Bundesregierung, die bis dahin auch von Gegnern so ernst genommen waren, bloßes Papier waren, und die reale Entwicklung doch mehr oder weniger planlos verlief."

    Joachim Radkau und Co-Autor Lothar Hahn arbeiten in ihrem Buch "Aufstieg und Fall der deutschen Atomwirtschaft" dieses Stück Zeitgeschichte auf. Und Radkau ist Wiederholungstäter: 1983 war sein Buch "Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft 1945–1975" als kritische Analyse des Geschehens ein großer Erfolg. Nun konnte er - ein Traum für jeden Historiker - die Geschichte vollenden. Diesmal hat er sich mit einem Insider zusammengetan: mit Lothar Hahn, der unter anderem Kernenergieexperte des Ökoinstituts Darmstadt war und Geschäftsführer der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit. So erfährt der Leser, dass es in den 50er- und 60er-Jahren noch eine große Fülle von alternativen Reaktorkonzepten gab:

    "Aber ein überlegter Ausleseprozess in dieser Vielfalt von Alternativen hat überhaupt nicht stattgefunden. Es hat sich mehr oder weniger auch durch Zufall dann der Leichtwasserreaktor durchgesetzt, vor allem deshalb, weil er einfach am frühesten erprobt gewesen war."

    Denn die Energieerzeuger waren zunächst nur mäßig interessiert, und sie wollten möglichst preiswerte Anlagen. Aber Forschung und Politik drängten. Aus dieser Gemengelage heraus entwickelte sich die Kernkraft erstaunlicherweise zum Hoffnungsträger Nachkriegsdeutschlands. Lothar Hahn:

    "Wir können uns erinnern, dass in den 50ern und insbesondere in den 60er-Jahren eine Euphorie herrschte, dass Vorstellungen geherrscht haben, die völlig unrealistisch waren, und dass man glaubte, mit der Kernenergie alle Energieprobleme der Menschheit lösen zu können."

    Das "friedliche" Atom sollte Wahrzeichen eines neuen Zeitalters sein: "Wehe aber der Nation, die jetzt den wissenschaftlich-technischen Anschluss verpasst", rief Nuklearexperte Leo Brandt 1956 auf dem Parteitag der SPD. Die Kernenergie: alternativlos für den Fortschritt. Die Bevölkerung jedoch blieb vorsichtiger. Wie Radkau und Hahn recherchiert haben, fiel in Umfragen 1958 zwei Drittel der Befragten beim Stichwort Atomenergie spontan die Bombe ein, in einer anderen Umfrage waren nur acht Prozent vorbehaltlos pro Atom:

    "Vor diesem Hintergrund bekommt die Atomeuphorie einen Abwehrcharakter. Manche Übersteigerungen mögen sich aus der Allgegenwart einer anders gesonnenen schweigenden Mehrheit erklären - aber auch aus der Allgegenwart der Angst vor der Atombombe."

    Und so begann die Zeit der geplatzten Träume. Weil Kernkraftwerke zu teuer für die Wirtschaft waren, übernahm der Staat die Schlüsselrolle bei der Finanzierung. Lothar Hahn:

    "In den 70er-Jahren kam dann der erste Widerstand auf in der Bevölkerung und auch aus der Politik, und gleichzeitig erreichte die Kernenergie in Deutschland zumindest ihren Höhepunkt, was den Ausbau der Reaktoren angeht. Das war so zwischen 1975 und 1985."

    Da lief der Niedergang bereits. Es gab mindestens ebenso große Zweifel an der Sicherheit wie an der Wirtschaftlichkeit der Atomenergie:

    "Ende der 80er-Jahre und Anfang der 90er-Jahre scheiterten große Projekte und Strategien, der Brüter kam nicht ans Netz, der Hochtemperaturreaktor erfuhr dann sein endgültiges Aus, die Wiederaufarbeitung scheiterte, der Brennstoffkreislauf wurde nicht geschlossen, die Hanauer Betriebe scheiterten, usw., usw. Es war eine Vielzahl von Rückschlägen zu verzeichnen, die dann letztendlich Meilensteine waren auf dem Weg zum endgültigen Aus."

    Der Niedergang der Atomwirtschaft war ein kontinuierlicher Prozess mit vielen Faktoren. Die Analyse der Autoren:

    "Die Reaktorkatastrophen von Tschernobyl und Fukushima haben den Niedergang praktisch besiegelt. Aber man sollte nicht verkennen, dass die Atomwirtschaft selbst zu ihrem Niedergang beigetragen hat - insbesondere durch ihre Informationspolitik und durch strategische Fehlentscheidungen und Fehleinschätzungen."

    Ein kluges Resümee. "Der Aufstieg und Fall der deutschen Atomwirtschaft" ist eine spannende Analyse der vergangenen 60-Jahre - und erzählt sehr viel mehr über den Zustand der Republik, als es das Thema zunächst vermuten lässt. Präzise, kenntnisreich, voller Details und sachlich, ohne unangenehmen Furor, ist es höchst lesenswert. Und keineswegs ein reines Geschichtsbuch: Denn noch ist nicht alles vollkommen vorbei, der Rückbau wird noch Milliarden kosten, und die Endlagerfrage ist offen.

    Joachim Radkau und Lothar Hahn: Aufstieg und Fall der deutschen Atomwirtschaft. Oekom Verlag, 413 Seiten, 24,95 Euro.