"Die Arawak - Männer und Frauen, nackt, braungebrannt und voller Neugier - kamen aus ihren Dörfern heraus an den Inselstrand gelaufen und schwammen hinaus, um das fremde, große Schiff aus der Nähe zu betrachten. Als Kolumbus und seine Seeleute an Land kamen, mit Schwertern bewaffnet, liefen ihnen die Arawak zur Begrüßung entgegen und brachten ihnen Wasser, Essen und Geschenke. Er schrieb darüber später in sein Logbuch: 'Sie tauschten willig alles, was sie besaßen. Sie haben kein Eisen. Ihre Speere sind aus Schilfrohr gemacht. ...Sie würden sich gut als Dienstboten eignen. Mit fünfzig Mann könnten wir sie alle unterwerfen und sie zu allem zwingen, was wir wollen.'"
Ein Paradies auf Erden erhofften die europäischen Entdecker in Amerika zu finden, Länder voller Gold und Sklaven. Noch heute werden in den Geschichtsbüchern Kolumbus' Reisen als Heldentaten gefeiert. Natürlich nicht ohne kritische Fußnote. Doch wo gehobelt wird, da fallen Späne - nur sehr wenige Historiker nehmen bei der Darstellung der Völkermorde durch die europäischen Eroberer konsequent und ausschließlich die Perspektive der Opfer ein, der amerikanischen Ureinwohner. Einer dieser Historiker, und vielleicht der bekannteste von ihnen, ist der heute 84-jährige Howard Zinn. Seine alternativen Geschichtsstunden faszinieren viele. Sein Credo: die amerikanischen Bürger sollten sich nicht aus der herrschenden Lehrmeinung, der Sicht ihrer Herrscher, ihrer Geschichte erinnern:
"Wir sollten die Erinnerung der Staaten nicht als unsere eigene hinnehmen dürfen. Nationen sind keine Gemeinschaften und waren es nie. Die Geschichte jedes Landes, die uns als Geschichte einer Familie präsentiert wird, verbirgt bittere Interessenkonflikte (die manchmal ausbrechen, meistens aber unterdrückt werden) zwischen Eroberern und Eroberten, Herren und Sklaven, Kapitalisten und Arbeitern, rassisch oder sexuell Dominierten und Dominierenden. Und in einer solchen Welt der Konflikte, einer Welt von Opfern und Henkern, ist es, wie Albert Camus gesagt hat, die Aufgabe der denkenden Menschen, nicht auf der Seite der Henker zu stehen."
Eine offen parteiliche Geschichtsschreibung? - Mit diesem Bekenntnis hat sich Zinn natürlich Feinde gemacht. Die Zunft der Historiker schwört zumeist, objektiv - nur den Quellen verpflichtet und strengen Zitierregeln folgend - ihr Handwerk zu betreiben. Wer den Kollegen abspricht, wertfrei zu arbeiten, nicht Geschichte erzählen zu können, ohne werten zu müssen, gilt noch immer als Nestbeschmutzer und Außenseiter.
Im großen Wissenschaftsstreit um die Möglichkeit oder Unmöglichkeit objektiver Erkenntnis, im Wettstreit von Marxismus, Positivismus und manch anderem Ismus, verkündet Howard Zinn demonstrativ, er könne nicht objektiv sein und wolle es deshalb auch gar nicht erst versuchen. Wenn Zinn in seinem epischen Geschichtswerk beispielsweise von der Verfassung des neuen Staates erzählt, tut er dies aus der Sicht der Sklaven. Berichtet er vom Krieg mit Mexiko, fokussiert er darauf, wie die gemeinen Soldaten und Deserteure ihn erlebten. Aus dieser Sicht erscheint Geschichte nicht länger als das Ringen einiger großer Männer um Staatsgrenzen, um das Schlachtenglück und um Parlamentsmehrheiten. Sondern sie erscheint schmutzig und düster, denn die Taten der Männer, die Geschichte machten, hatten für die meisten Menschen verheerende Folgen. Die amerikanische Geschichte ist in der Zinnschen Lesart eine der Ausbeutung und der Gewalt - bis auf Ausnahmen, und gerade die haben es dem Historiker angetan: die (in der Regel gescheiterten) Versuche der Armen und Entrechteten, sich das zu nehmen, was ihnen verweigert wird: die Chance, ihr Glück zu machen - den amerikanischen Traum zu leben ...
"Wenn Geschichtsschreibung kreativ sein soll, wenn sie eine mögliche Zukunft vorwegnehmen soll, ohne die Vergangenheit zu verleugnen, dann sollte sie, meine ich, neue Möglichkeiten aufzeigen, indem sie die verschollenen Gelegenheiten aus der Vergangenheit aufdeckt, bei denen, wenn auch nur in einem kurzen Aufzucken, Menschen ihre Macht gezeigt haben, Widerstand zu leisten, sich zusammenzuschließen, und gelegentlich sogar zu gewinnen. ... Das ist, so offen wie möglich gesagt, meine Herangehensweise an die Geschichte der Vereinigten Staaten. Der Leser sollte dies ruhig gleich zu Beginn wissen.
Das können ihm selbst seine schärfsten Kritiker nicht absprechen: Howard Zinn schenkt seinen Lesern reinen Wein ein, nach dem Motto: Ich werde parteiisch schreiben und - mit mir ist kein Staat zu machen. Zudem muss man ihm eines lassen: Wenn Zinn die "Geschichte des amerikanischen Volkes" erzählt, dann ist er ein großer Geschichtenerzähler. Der Hochschulprofessor schreibt in einer klaren, fließenden Sprache, ohne zu holpern und ohne zu schachteln. Insbesondere europäische Historiker verstecken sich mitunter in einem Fachjargon, einem Slang, den eine eingeweihte Elite pflegt, um sich von der Masse abzuheben. Davon ist bei Zinn keine Rede. Zinn schreibt ja nicht nur über das Volk, auch für das Volk: Er will auch akademisch nicht vorgebildete oder nicht verbildete Menschen erreichen. Sein Anspruch, die Geschichte in Form der Geschichten der kleinen Leute darzustellen, birgt die Versuchung, die großen Linien nicht mehr nachzuzeichnen, in denen die Politik verlief, und statt dessen ellenlang bloß Einzelschicksale aneinanderzureihen. Dieser Versuchung hat Zinn widerstanden. Natürlich bebildert er seinen Blick auf die Geschichte dadurch, dass er Elend und Gewalt anekdotisch schildert. Doch ufert dies keineswegs aus, Quellenwiedergaben sind nie exzessiv, sondern in den Überblick aus der Distanz gut integriert. Und wenn Zinn aus Korrespondenzen und zeitgenössischen Berichten zitiert, dann hat er wirklich ein Händchen dafür, durch geschickte Montagen Emotionen subtil zu schüren:
"'Die Indianer', berichtete Kolumbus, 'sind so naiv und großzügig mit ihrem Eigentum, dass niemand, der es nicht gesehen hat, es glauben würde. Wenn man um etwas bittet, das sie besitzen, sagen sie nie nein. Im Gegenteil, sie bieten jedem an zu teilen.' Er schloss seinen Bericht mit der Bitte um etwas Hilfe von Seinen Majestäten; im Gegenzug würde er ihnen von seiner nächsten Reise 'so viel Gold' mitbringen, 'wie sie brauchten ... und so viele Sklaven, wie sie wünschten'. Er strotzte vor religiösem Gerede. 'So gewährt der ewige Gott, unser Herr, Triumph denen, die seinem Weg folgen, mag er auch unmöglich scheinen'."
"Eine Geschichte des amerikanischen Volkes" erzählt Howard Zinn. Ein Buch, das eingesteht, ideologisch befangen zu sein, aber keineswegs als Traktat daherkommt, sondern als ein Werk, das Geschichte einmal erfrischend anders erzählt als gewohnt, das belehren möchte, aber auch intelligent unterhält.
Daniel Blum über Howard Zinn: "Eine Geschichte des amerikanischen Volkes", Verlag SchwarzerFreitag, 689 S., 28,80 Euro.
Ein Paradies auf Erden erhofften die europäischen Entdecker in Amerika zu finden, Länder voller Gold und Sklaven. Noch heute werden in den Geschichtsbüchern Kolumbus' Reisen als Heldentaten gefeiert. Natürlich nicht ohne kritische Fußnote. Doch wo gehobelt wird, da fallen Späne - nur sehr wenige Historiker nehmen bei der Darstellung der Völkermorde durch die europäischen Eroberer konsequent und ausschließlich die Perspektive der Opfer ein, der amerikanischen Ureinwohner. Einer dieser Historiker, und vielleicht der bekannteste von ihnen, ist der heute 84-jährige Howard Zinn. Seine alternativen Geschichtsstunden faszinieren viele. Sein Credo: die amerikanischen Bürger sollten sich nicht aus der herrschenden Lehrmeinung, der Sicht ihrer Herrscher, ihrer Geschichte erinnern:
"Wir sollten die Erinnerung der Staaten nicht als unsere eigene hinnehmen dürfen. Nationen sind keine Gemeinschaften und waren es nie. Die Geschichte jedes Landes, die uns als Geschichte einer Familie präsentiert wird, verbirgt bittere Interessenkonflikte (die manchmal ausbrechen, meistens aber unterdrückt werden) zwischen Eroberern und Eroberten, Herren und Sklaven, Kapitalisten und Arbeitern, rassisch oder sexuell Dominierten und Dominierenden. Und in einer solchen Welt der Konflikte, einer Welt von Opfern und Henkern, ist es, wie Albert Camus gesagt hat, die Aufgabe der denkenden Menschen, nicht auf der Seite der Henker zu stehen."
Eine offen parteiliche Geschichtsschreibung? - Mit diesem Bekenntnis hat sich Zinn natürlich Feinde gemacht. Die Zunft der Historiker schwört zumeist, objektiv - nur den Quellen verpflichtet und strengen Zitierregeln folgend - ihr Handwerk zu betreiben. Wer den Kollegen abspricht, wertfrei zu arbeiten, nicht Geschichte erzählen zu können, ohne werten zu müssen, gilt noch immer als Nestbeschmutzer und Außenseiter.
Im großen Wissenschaftsstreit um die Möglichkeit oder Unmöglichkeit objektiver Erkenntnis, im Wettstreit von Marxismus, Positivismus und manch anderem Ismus, verkündet Howard Zinn demonstrativ, er könne nicht objektiv sein und wolle es deshalb auch gar nicht erst versuchen. Wenn Zinn in seinem epischen Geschichtswerk beispielsweise von der Verfassung des neuen Staates erzählt, tut er dies aus der Sicht der Sklaven. Berichtet er vom Krieg mit Mexiko, fokussiert er darauf, wie die gemeinen Soldaten und Deserteure ihn erlebten. Aus dieser Sicht erscheint Geschichte nicht länger als das Ringen einiger großer Männer um Staatsgrenzen, um das Schlachtenglück und um Parlamentsmehrheiten. Sondern sie erscheint schmutzig und düster, denn die Taten der Männer, die Geschichte machten, hatten für die meisten Menschen verheerende Folgen. Die amerikanische Geschichte ist in der Zinnschen Lesart eine der Ausbeutung und der Gewalt - bis auf Ausnahmen, und gerade die haben es dem Historiker angetan: die (in der Regel gescheiterten) Versuche der Armen und Entrechteten, sich das zu nehmen, was ihnen verweigert wird: die Chance, ihr Glück zu machen - den amerikanischen Traum zu leben ...
"Wenn Geschichtsschreibung kreativ sein soll, wenn sie eine mögliche Zukunft vorwegnehmen soll, ohne die Vergangenheit zu verleugnen, dann sollte sie, meine ich, neue Möglichkeiten aufzeigen, indem sie die verschollenen Gelegenheiten aus der Vergangenheit aufdeckt, bei denen, wenn auch nur in einem kurzen Aufzucken, Menschen ihre Macht gezeigt haben, Widerstand zu leisten, sich zusammenzuschließen, und gelegentlich sogar zu gewinnen. ... Das ist, so offen wie möglich gesagt, meine Herangehensweise an die Geschichte der Vereinigten Staaten. Der Leser sollte dies ruhig gleich zu Beginn wissen.
Das können ihm selbst seine schärfsten Kritiker nicht absprechen: Howard Zinn schenkt seinen Lesern reinen Wein ein, nach dem Motto: Ich werde parteiisch schreiben und - mit mir ist kein Staat zu machen. Zudem muss man ihm eines lassen: Wenn Zinn die "Geschichte des amerikanischen Volkes" erzählt, dann ist er ein großer Geschichtenerzähler. Der Hochschulprofessor schreibt in einer klaren, fließenden Sprache, ohne zu holpern und ohne zu schachteln. Insbesondere europäische Historiker verstecken sich mitunter in einem Fachjargon, einem Slang, den eine eingeweihte Elite pflegt, um sich von der Masse abzuheben. Davon ist bei Zinn keine Rede. Zinn schreibt ja nicht nur über das Volk, auch für das Volk: Er will auch akademisch nicht vorgebildete oder nicht verbildete Menschen erreichen. Sein Anspruch, die Geschichte in Form der Geschichten der kleinen Leute darzustellen, birgt die Versuchung, die großen Linien nicht mehr nachzuzeichnen, in denen die Politik verlief, und statt dessen ellenlang bloß Einzelschicksale aneinanderzureihen. Dieser Versuchung hat Zinn widerstanden. Natürlich bebildert er seinen Blick auf die Geschichte dadurch, dass er Elend und Gewalt anekdotisch schildert. Doch ufert dies keineswegs aus, Quellenwiedergaben sind nie exzessiv, sondern in den Überblick aus der Distanz gut integriert. Und wenn Zinn aus Korrespondenzen und zeitgenössischen Berichten zitiert, dann hat er wirklich ein Händchen dafür, durch geschickte Montagen Emotionen subtil zu schüren:
"'Die Indianer', berichtete Kolumbus, 'sind so naiv und großzügig mit ihrem Eigentum, dass niemand, der es nicht gesehen hat, es glauben würde. Wenn man um etwas bittet, das sie besitzen, sagen sie nie nein. Im Gegenteil, sie bieten jedem an zu teilen.' Er schloss seinen Bericht mit der Bitte um etwas Hilfe von Seinen Majestäten; im Gegenzug würde er ihnen von seiner nächsten Reise 'so viel Gold' mitbringen, 'wie sie brauchten ... und so viele Sklaven, wie sie wünschten'. Er strotzte vor religiösem Gerede. 'So gewährt der ewige Gott, unser Herr, Triumph denen, die seinem Weg folgen, mag er auch unmöglich scheinen'."
"Eine Geschichte des amerikanischen Volkes" erzählt Howard Zinn. Ein Buch, das eingesteht, ideologisch befangen zu sein, aber keineswegs als Traktat daherkommt, sondern als ein Werk, das Geschichte einmal erfrischend anders erzählt als gewohnt, das belehren möchte, aber auch intelligent unterhält.
Daniel Blum über Howard Zinn: "Eine Geschichte des amerikanischen Volkes", Verlag SchwarzerFreitag, 689 S., 28,80 Euro.