Ukraine bedeutet „Grenzland“. Der Name beschreibt ganz treffend ein Land, dessen Grenzen seit dem Mittelalter ständig verschoben wurden. Die Ukraine wurde in ihrer langen Geschichte oft zerrieben zwischen Großmächten, die ihr Territorium erweitern wollten. Sie gehörte mindestens 14 verschiedenen Staaten an: darunter Polen im Westen, Russland im Osten.
Seit 1991 ist die Ukraine offiziell unabhängig. Doch Russlands Präsident Putin will das nicht akzeptieren. 2014 besetzten russische Truppen die Krim. Wenige Tage vor der russischen Invasion 2022 argumentierte Putin in seiner Rede an die Nation, dass die Ukraine historisch bedingt ein Konstrukt Russlands sei, also kein souveräner Staat mit einer eigenen Geschichte und einer eigenen Kultur.
Tatsächlich werden dieselben historischen Ereignisse in Russland und der Ukraine sehr unterschiedlich interpretiert und für politische Zwecke instrumentalisiert. Ein Überblick.
Gemeinsame Gründungsgeschichte: Was war die Kiewer Rus?
Das heutige Gebiet der Ukraine war oft Teil anderer Staatsgebilde. So etwas wie ein zusammenhängend verwaltetes Territorium beginnt sich im 9. Jahrhundert auszubilden: die Kiewer Rus. Ukrainer, Russen und Belarussen leben dort zusammen. Das Großfürstentum Kiew bildet das Zentrum und nicht etwa Moskau. Diese Stadt existiert damals noch gar nicht. Die Kiewer Rus umfasst mehrere Fürstentümer. Feste Grenzen gibt es in dem Territorialstaat nicht. Als die Mongolen 1240 Kiew stürmen, zerfällt das Kiewer Reich.
Mit der Kiewer Rus begründet Russland heute die angestrebte Einheit von Russen, Belarussen und Ukrainern. Die Ukraine hingegen versteht die Kiewer Rus als frühe Form von Staatlichkeit und einen Vorläufer des ukrainischen Staates.
Folgenschweres Bündnis mit russischem Zaren
Im 14. Jahrhundert fällt ein Großteil des Gebietes der heutigen Ukraine an Polen und Litauen. Ukrainer und Belarussen leben mehrere Jahrhunderte lang unter westlicher Fremdherrschaft. Die östlichen Gebiete, in denen vor allem Russen siedeln, stehen unter mongolischer Herrschaft.
1648 zettelt der Kosakenführer Hetman Bohdan Chmelnyzkyj einen Volksaufstand an, um die Ukraine von der polnischen Herrschaft zu befreien. Viele Polen und Juden werden getötet oder vertrieben. Zugleich wird ein eigener Herrschaftsverband gegründet, das Hetmanat. Allerdings währt die Unabhängigkeit nur wenige Jahre.
Die Kosaken brauchen einen Partner, um sich gegen Polen und Litauen zu behaupten. Daher leisten sie 1654 dem russischen Zaren einen Treueeid, der als Vertrag von Perejaslaw in die Geschichte eingeht. Die Kosaken wollen dadurch ihr Land, ihr Heer und ihre politische Macht sichern. Zwar garantiert ihnen der Zar Schutz, aber sie begeben sich gleichzeitig in die Abhängigkeit von Russland. 13 Jahre später zerstreiten sich die Kosaken und die Ukraine wird zwischen Polen-Litauen und Russland aufgeteilt.
Aus heutiger russischer Sicht ist der Vertrag von Perejaslaw ein Symbol der Wiedervereinigung beider Länder und gilt als Beleg dafür, dass beide Länder zusammengehören. Unter russischer Führung versteht sich. In der Ukraine hingegen gilt das Hetmanat als Ursprung des ukrainischen Nationalstaats. Die Erinnerung an die freien und starken Kosaken spielt bis heute eine große Rolle in der Nationalerzählung. Einige ihrer Anführer werden bis heute als Nationalhelden verehrt.
Leib und Seele geben wir für unsere Freiheit hin, und wir werden zeigen, Brüder, dass wir vom Stamm der Kosaken sind!
Refrain der ukrainischen Nationalhymne
Ukrainische Volksrepublik: Kurze Phase der Unabhängigkeit
Im 19. Jahrhundert entwickelt sich im Zuge der europäischen Nationenbildung auch eine ukrainische Nationalbewegung. Im Osten fordert sie zunächst gar keinen eigenen Staat, sondern Autonomie innerhalb des russischen Reichs. Diese gewährt Russland nicht. Stattdessen versucht das Zarenreich alles Ukrainische zu unterdrücken. Ukrainisch darf nicht mehr öffentlich gesprochen werden. Auch Publikationen auf Ukrainisch werden zeitweise verboten.
An den Universitäten in der Westukraine, die unter der Herrschaft der Habsburgermonarchie steht, schließen sich ukrainische Intellektuelle zusammen. Sie lesen ukrainische Literatur, schreiben auf Ukrainisch, setzen sich mit der Geschichte der Ukraine auseinander und beginnen, sich in Parteien und Vereinen politisch zu engagieren.
Im Ersten Weltkrieg kämpfen Ukrainer noch gegeneinander, weil sie von Österreich-Ungarn und von Russland ins Feld geschickt werden. Nach dem Ersten Weltkrieg enden die Herrschaften der Habsburger und des Zaren. Nun ist der Weg frei für die Ukrainische Volkrepublik. Der erste ukrainische Nationalstaat wird 1917 gegründet.
Es ist der erste moderne Staat auf dem Gebiet der heutigen Ukraine. Deshalb ist die Volksrepublik bis heute wichtig für das Selbstverständnis der Ukrainer – obwohl sie scheiterte. Die Ukrainer hätten gar keine Chance gehabt auf ihrem Territorium unter friedlichen Umständen organisch eine Staatsgewalt aufzubauen, erklärt die Historikerin Anna Veronika Wendland.
Das große Land kann nicht kontrolliert werden, kann den Bürgern keine Rechtssicherheit geben. Russen, Briten, Franzosen und Deutsche versuchen die Ukraine zu unterwerfen. Am Ende setzen sich die russischen Bolschewiki durch und rufen die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik aus.
Obwohl die unabhängige Ukrainische Volkrepublik nur kurz überdauerte, prägte sie das ukrainische Nationalbewusstsein enorm. Die blau-gelbe Flagge, der Trysub (der Dreizack auf dem Wappen), die Nationalhymne und die Währung von damals werden noch heute von der Ukraine verwendet.
Holodomor: Völkermord an Millionen Ukrainern
1922 wird die Ukraine Teil der Sowjetunion und fällt damit wieder unter Russlands Führung. Zunächst geht das gut. In den 1920er-Jahren wird Ukrainisch Schul- und Amtssprache, die Industrialisierung im Südosten der Ukraine wird vorangetrieben und das kulturelle Leben erfährt einen Aufschwung. Es entstehen futuristische Theaterstücke, Avantgardekunst und experimentelle Lyrik. Das ändert sich mit dem sowjetischen Diktator Josef Stalin, der 1927 an die Macht kommt. Er führt die Sowjetunion mit eiserner Hand. Die Ukraine, die als „Kornkammer Europas“ gilt, wird ausgebeutet, Millionen Menschen verhungern.
In der Ukraine wird der Holodomor als Genozid eingestuft. Auch der Deutsche Bundestag hat die von Stalin herbeigeführte Hungersnot inzwischen als Völkermord anerkannt. In der Sowjetunion wurde über den Holodomor geschwiegen. Bis heute behauptet Russland, dass es den Genozid nicht gegeben habe.
Vom Zweiten Weltkrieg zur Unabhängigkeit
Die Ukraine ist einer der Hauptschauplätze des Zweiten Weltkriegs. Schätzungsweise sieben Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer sterben. Das ist mehr als ein Fünftel der Bevölkerung. Als die deutsche Wehrmacht 1941 die Sowjetunion überfällt, besetzen deutsche und verbündete rumänische Truppen die Ukraine. Bis 1944 befreite die Rote Armee das Gebiet der heutigen Ukraine. Erst mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion wird die Ukraine 1991 zu dem selbstständigen Staat, den sie heute gegen russische Angriffe verteidigt.*
In der russischen Geschichtsschreibung ist der „Große Vaterländische Krieg“, der mit dem Sieg über das faschistische Hitler-Deutschland endet, eine Heldengeschichte. Er ist bis heute enorm wichtig für das russische Selbstverständnis und gilt, ungeachtet der schätzungsweise 27 Millionen Opfer auf sowjetischer Seite, als Beleg für die Überlegenheit des Sozialismus und den konsequenten Einsatz gegen den Faschismus. Auch den aktuellen Krieg gegen die Ukraine begründet die russische Führung damit, dass sie die Ukraine vom Faschismus befreien müsse. Das ist falsch.
Zwar gilt manchen Ukrainern der Nationalist Stephan Bandera als Nationalheld. Er wollte die Ukraine im Zweiten Weltkrieg von der polnischen und russischen Herrschaft befreien, um einen souveränen ukrainischen Staat zu gründen und kollaborierte dafür auch mit den deutschen Nazis. Aber nichtdestotrotz ist die Ukraine heute ein freiheitlicher, demokratischer Staat, in dem rechte Parteien keine politische Macht haben.
*) Redaktioneller Hinweis: Eine Formulierung zu einem historischen Vorgang wurde korrigiert und konkretisiert.
rey