Wer hätte gedacht, dass sich das höchste deutsche Gericht seine verbriefte Unabhängigkeit erst erkämpfen musste? Im Bonner Justizministerium habe man die "Roten Roben" anfangs in obrigkeitsstaatlicher Tradition für weisungsgebunden gehalten, schreibt Rolf Lamprecht.
"Mit der neuen Verfassung kam der Rechtsstaat, wie er heute existiert, nicht etwa über Nacht. Die Republik war wie eine Klasse von ABC-Schützen, die das demokratische Alphabet buchstabieren lernte. Auch Richter und Beamte brauchten Zeit, um zu begreifen, dass sich Prioritäten, die sie aus dem Studium kannten, total verändert hatten. Die Verfassung hatte Vorrang, das einfache Recht kam erst danach."
Der damalige FDP-Justizminister Thomas Dehler ärgerte sich so über einen ihm unbequemen Beschluss des Gerichts, dass er kurzerhand die Rechtslage ändern wollte. Die Verfassungsrichter gingen mit einer gemeinsamen Erklärung an die Öffentlichkeit und wiesen darauf hin, dass sich auch der Justizminister ihren Entscheidungen zu unterwerfen habe. Ihre Haltung sei von der gesamten Presse unterstützt worden, so der Autor.
"Dehlers Irrglaube wirkte eine ganze Weile fort. Auch Politiker mussten erst lernen, wie und wo die für Deutschland fremde Instanz einzuordnen war."
Die Presse war immer auf der Seite des Karlsruher Gerichts. Lamprecht, gelernter Verfassungsrechtler, hat als Berichterstatter die Rechtsprechung des höchsten deutschen Gerichts von Anfang an begleitet, allein 30 Jahre lang für den "Spiegel". Seine Geschichte des Gerichts erzählt er als Geschichte der Amtszeiten der bisher neun Präsidenten. Facettenreich und unterhaltsam zeichnet er Porträts ganz unterschiedlicher Charaktere. Jede Persönlichkeit wird biografisch in ihre jeweilige Zeit eingeordnet.
"Wes Geistes Kind einer war, spielte für das Binnenklima eine ebenso große Rolle wie für die Außenansicht. In der Person jedes Einzelnen spiegeln sich die Höhenflüge des Gerichts, aber auch manche Talfahrt. Hier verzeichnen die Annalen Irrungen und Verwirrungen, die dem Hohen Haus nicht zum Ruhm gereichen."
Lamprecht geht auf die Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts als moralische Instanz ein. Die Unterordnung der Familie unter den Mann, Einschränkungen der Berufswahl, Diskriminierung von unehelichen Kindern und die Pönalisierung von vorehelicher oder gleichgeschlechtlicher Sexualität blieben lange im Wertesystem der Bundesrepublik verankert, auch mithilfe höchstrichterlicher Entscheidungen.
"Kommunisten geächtet, Pazifisten schikaniert, Homosexuelle verfemt – Vorurteile dieses Kalibers erhielten in den Anfangsjahren den Segen der Karlsruher Richter. Die Zeugnisse eines kleinkarierten Bewusstseins erinnern daran, dass Karlsruhe nicht von Anfang an ein Hort der Freiheit war."
So wurde auch darüber verhandelt, ob Flüchtlingen aus der Ostzone generell die Aufenthaltsgenehmigung verweigert werden durfte. DDR-Flüchtlinge blieben nur geduldet. Erst der Mauerbau beendete das unschöne Kapitel deutsch-deutscher Geschichte, als der Flüchtlingsstrom versiegte. Teilweise dauerte es Jahrzehnte bis die Auslegung der Grundrechte freiheitliche Rechtsauffassung etablierte, so der Journalist. Oft sei die Gesellschaft vorangegangen, viel öfter jedoch habe sich das Gericht an die Spitze des Fortschritts gestellt.
"Diese kontinuierliche Pflege der Grundrechte zählt zu den Kulturleistungen der Nachkriegsepoche. Wenn Bürger das Gefühl haben, es lohne sich, in diesem Staat zu leben, dann meinen sie auch jene Freiheiten, die sie der Obrigkeit mithilfe des Gerichts abgetrotzt haben."
Lamprecht erläutert die wichtigsten Entscheidungen in ihrem politisch-historischen Kontext. Dabei ist er erfrischend meinungsstark und erinnert sich an feinste Nuancen der großen öffentlichen Debatten. Urteile seien zu Lektionen in Staatsbürgerkunde geworden. Rekapituliert werden alle großen Verfahren etwa um Abtreibungsrecht, Parteispenden, den Einsatz der Bundeswehr, Kruzifix bis hin zur Sicherungsverwahrung im Mai 2011. Die übersichtlich aufgebaute, gut verschlagwortete und mit vielen Literaturhinweisen versehene Arbeit von Lamprecht ist spannend und abwechslungsreich geschrieben und nimmt auch Leser ohne akademisches Vorwissen mit. Als fundierte wissenschaftliche Einführung ist der Band ebenfalls empfehlenswert. Auch der von Michael Stolleis betreute Sammelband ergründet das Verhältnis der Deutschen zu ihrem höchsten Gericht. Der Herausgeber, emeritierter Professor für Öffentliches Recht, bis Ende 2009 Direktor des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte, will die Gesellschaft als Resonanzraum des Gerichts zu Wort kommen lassen, wie er schreibt. Prominente Autoren wie die Journalisten Heribert Prantl und Robert Leicht sind ebenso vertreten wie die Historiker Norbert Frei und Hans-Ulrich Wehler. Beiträge aus Ungarn, Polen und Frankreich ergänzen den Blick von außen. Der ehemalige ungarische Staatspräsident Laszlo Solyom etwa beschreibt mit Humor und profunder akademischer Analyse, wie das Vorbild des Bundesverfassungsgerichts bei den Nachahmern zu ganz eigenen Verfassungskulturen führte. Seine Zukunftsvision für das deutsche Gericht ist beinahe ein höflicher Abgesang:
"Das zukünftige Bild des Bundesverfassungsgerichts wird wahrscheinlich weniger durch die Eigenleistung bestimmt, als eher durch seine innerhalb des europäischen Zusammenspiels der Verfassungskulturen erlangte Rolle."
Die verfassungsrechtlichen Auswirkungen von europäischer Integration und Globalisierung sind Hauptschwerpunkte der Analysen. Besonders anregend macht die Lektüre, dass die Beiträge im Perspektivwechsel zueinander in Beziehung stehen. Prantl liefert ein überzeugendes Votum für das politische Gestaltungsrecht des Gerichts – hergeleitet aus der Befreiungsbewegung des 19. Jahrhunderts. Andere Autoren diskutieren aus konstitutioneller Sicht politisch konnotierte Urteile als latent Demokratie gefährdend. Die intellektuelle Spannung gegenteiliger Ansichten macht – neben der Fülle an Argumenten – auch diesen Band zu einem Lesevergnügen.
Rolf Lamprecht: Ich gehe bis nach Karlsruhe. Eine Geschichte des Bundesverfassungsgerichts, DVA, 350 Seiten, 19,99 Euro, ISBN: 978-3-421-04515-7
Michael Stolleis (Hg.): Herzkammern der Republik. Die Deutschen und das Bundesverfassungsgericht, C.H. Beck, 297 Seiten, 29,95 Euro, ISBN: 978-3-406-62377-6
"Mit der neuen Verfassung kam der Rechtsstaat, wie er heute existiert, nicht etwa über Nacht. Die Republik war wie eine Klasse von ABC-Schützen, die das demokratische Alphabet buchstabieren lernte. Auch Richter und Beamte brauchten Zeit, um zu begreifen, dass sich Prioritäten, die sie aus dem Studium kannten, total verändert hatten. Die Verfassung hatte Vorrang, das einfache Recht kam erst danach."
Der damalige FDP-Justizminister Thomas Dehler ärgerte sich so über einen ihm unbequemen Beschluss des Gerichts, dass er kurzerhand die Rechtslage ändern wollte. Die Verfassungsrichter gingen mit einer gemeinsamen Erklärung an die Öffentlichkeit und wiesen darauf hin, dass sich auch der Justizminister ihren Entscheidungen zu unterwerfen habe. Ihre Haltung sei von der gesamten Presse unterstützt worden, so der Autor.
"Dehlers Irrglaube wirkte eine ganze Weile fort. Auch Politiker mussten erst lernen, wie und wo die für Deutschland fremde Instanz einzuordnen war."
Die Presse war immer auf der Seite des Karlsruher Gerichts. Lamprecht, gelernter Verfassungsrechtler, hat als Berichterstatter die Rechtsprechung des höchsten deutschen Gerichts von Anfang an begleitet, allein 30 Jahre lang für den "Spiegel". Seine Geschichte des Gerichts erzählt er als Geschichte der Amtszeiten der bisher neun Präsidenten. Facettenreich und unterhaltsam zeichnet er Porträts ganz unterschiedlicher Charaktere. Jede Persönlichkeit wird biografisch in ihre jeweilige Zeit eingeordnet.
"Wes Geistes Kind einer war, spielte für das Binnenklima eine ebenso große Rolle wie für die Außenansicht. In der Person jedes Einzelnen spiegeln sich die Höhenflüge des Gerichts, aber auch manche Talfahrt. Hier verzeichnen die Annalen Irrungen und Verwirrungen, die dem Hohen Haus nicht zum Ruhm gereichen."
Lamprecht geht auf die Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts als moralische Instanz ein. Die Unterordnung der Familie unter den Mann, Einschränkungen der Berufswahl, Diskriminierung von unehelichen Kindern und die Pönalisierung von vorehelicher oder gleichgeschlechtlicher Sexualität blieben lange im Wertesystem der Bundesrepublik verankert, auch mithilfe höchstrichterlicher Entscheidungen.
"Kommunisten geächtet, Pazifisten schikaniert, Homosexuelle verfemt – Vorurteile dieses Kalibers erhielten in den Anfangsjahren den Segen der Karlsruher Richter. Die Zeugnisse eines kleinkarierten Bewusstseins erinnern daran, dass Karlsruhe nicht von Anfang an ein Hort der Freiheit war."
So wurde auch darüber verhandelt, ob Flüchtlingen aus der Ostzone generell die Aufenthaltsgenehmigung verweigert werden durfte. DDR-Flüchtlinge blieben nur geduldet. Erst der Mauerbau beendete das unschöne Kapitel deutsch-deutscher Geschichte, als der Flüchtlingsstrom versiegte. Teilweise dauerte es Jahrzehnte bis die Auslegung der Grundrechte freiheitliche Rechtsauffassung etablierte, so der Journalist. Oft sei die Gesellschaft vorangegangen, viel öfter jedoch habe sich das Gericht an die Spitze des Fortschritts gestellt.
"Diese kontinuierliche Pflege der Grundrechte zählt zu den Kulturleistungen der Nachkriegsepoche. Wenn Bürger das Gefühl haben, es lohne sich, in diesem Staat zu leben, dann meinen sie auch jene Freiheiten, die sie der Obrigkeit mithilfe des Gerichts abgetrotzt haben."
Lamprecht erläutert die wichtigsten Entscheidungen in ihrem politisch-historischen Kontext. Dabei ist er erfrischend meinungsstark und erinnert sich an feinste Nuancen der großen öffentlichen Debatten. Urteile seien zu Lektionen in Staatsbürgerkunde geworden. Rekapituliert werden alle großen Verfahren etwa um Abtreibungsrecht, Parteispenden, den Einsatz der Bundeswehr, Kruzifix bis hin zur Sicherungsverwahrung im Mai 2011. Die übersichtlich aufgebaute, gut verschlagwortete und mit vielen Literaturhinweisen versehene Arbeit von Lamprecht ist spannend und abwechslungsreich geschrieben und nimmt auch Leser ohne akademisches Vorwissen mit. Als fundierte wissenschaftliche Einführung ist der Band ebenfalls empfehlenswert. Auch der von Michael Stolleis betreute Sammelband ergründet das Verhältnis der Deutschen zu ihrem höchsten Gericht. Der Herausgeber, emeritierter Professor für Öffentliches Recht, bis Ende 2009 Direktor des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte, will die Gesellschaft als Resonanzraum des Gerichts zu Wort kommen lassen, wie er schreibt. Prominente Autoren wie die Journalisten Heribert Prantl und Robert Leicht sind ebenso vertreten wie die Historiker Norbert Frei und Hans-Ulrich Wehler. Beiträge aus Ungarn, Polen und Frankreich ergänzen den Blick von außen. Der ehemalige ungarische Staatspräsident Laszlo Solyom etwa beschreibt mit Humor und profunder akademischer Analyse, wie das Vorbild des Bundesverfassungsgerichts bei den Nachahmern zu ganz eigenen Verfassungskulturen führte. Seine Zukunftsvision für das deutsche Gericht ist beinahe ein höflicher Abgesang:
"Das zukünftige Bild des Bundesverfassungsgerichts wird wahrscheinlich weniger durch die Eigenleistung bestimmt, als eher durch seine innerhalb des europäischen Zusammenspiels der Verfassungskulturen erlangte Rolle."
Die verfassungsrechtlichen Auswirkungen von europäischer Integration und Globalisierung sind Hauptschwerpunkte der Analysen. Besonders anregend macht die Lektüre, dass die Beiträge im Perspektivwechsel zueinander in Beziehung stehen. Prantl liefert ein überzeugendes Votum für das politische Gestaltungsrecht des Gerichts – hergeleitet aus der Befreiungsbewegung des 19. Jahrhunderts. Andere Autoren diskutieren aus konstitutioneller Sicht politisch konnotierte Urteile als latent Demokratie gefährdend. Die intellektuelle Spannung gegenteiliger Ansichten macht – neben der Fülle an Argumenten – auch diesen Band zu einem Lesevergnügen.
Rolf Lamprecht: Ich gehe bis nach Karlsruhe. Eine Geschichte des Bundesverfassungsgerichts, DVA, 350 Seiten, 19,99 Euro, ISBN: 978-3-421-04515-7
Michael Stolleis (Hg.): Herzkammern der Republik. Die Deutschen und das Bundesverfassungsgericht, C.H. Beck, 297 Seiten, 29,95 Euro, ISBN: 978-3-406-62377-6