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"Geschichte wird vor allem von den Unzufriedenen und Frustrierten gemacht"

Dass es um die Welt schlecht bestellt ist, das ist vielen von uns schon eine ganze Weile klar. Wenn aber einer wie Jeremy Rifkin ins Spiel kommt, dann entsteht daraus meistens ein Bestseller. Der Amerikaner gilt als Visionär, Politiker lassen sich gerne von ihm beraten, seine Bücher werden in mehrere Sprachen übersetzt. Nun ist sein neuestes Werk erschienen.

Von Stefan Maas |
    Die erfreuliche Nachricht: Der Mensch ist gut. Wer bisher an der gewalttätigen Natur des Menschen verzweifelt ist, an Weltkriegen, Völkermorden, an Opfern, die zu Tode getreten werden, wenn sie schon am Boden liegen, der kann aufatmen, wenn er die Empathische Zivilisation von Jeremy Rifkin liest. Denn für Rifkin ist diese Verzweiflung nur Ausdruck eines sehr eingeengten Blicks auf die Geschichte der Menschheit. Der martialische Aspekt wird überbetont, weil, und das ist die schlechte Nachricht, der Mensch - als Individuum und als Gesellschaft - noch nicht wirklich oder nur ansatzweise verstanden hat, dass er eigentlich gut ist.

    "Geschichte wird vor allem von den Unzufriedenen und Frustrierten, den Zornigen und den Rebellischen gemacht - von jenen, die daran interessiert sind, Macht zu gewinnen. Unsere normale Welt ist anders. Unser Umgang miteinander ist, kurz gesagt, weitgehend getragen von wechselseitiger Empathie - und zwar aus dem einfachen Grund, weil dies unserem eigentlichen Wesen entspricht."

    Die Empathie macht es möglich: Wir können uns in unsere Umwelt: Menschen, Tiere und Natur einfühlen. Ihre Freude, Ängste, Sorgen verstehen, die Bedrohung durch eine mögliche Zerstörung begreifen. Für die wissenschaftliche Untermauerung dieser These nimmt sich Rifkin viel Zeit und zitiert ausgiebig Experimente und Beobachtungen aus Psychologie, Erziehungswissenschaften und Zoologie. Von so vielen Beweisen eingelullt in das Bewusstsein, ein guter, ein empathischer Mensch zu sein, fragt sich der Leser, wie es eigentlich sein konnte, dass die Menschen so lange brauchten, um das zu erkennen. Die Gründe liegen für Rifkin zunächst in der Geschichte der menschlichen Zivilisation, denn:

    "Die empathische Entwicklung geht Hand in Hand mit der Entwicklung des Ich-Bewusstseins und mit den immer komplexeren gesellschaftlichen Strukturen, die unsere Reisestationen kennzeichnen."

    Bis die gesellschaftlichen Strukturen so sind, wie wir es zur idealen Entwicklung dieses Ich-Bewusstsein brauchen, vergehen die Jahrtausende und fast ein Drittel des Buches. Der Leser landet in den 1960er-Jahren als Gruppentherapien, Selbsthilfegruppen und das Sensitivitätstraining es ermöglichen, dass sich die Menschen einander völlig öffnen können. Und nicht zuletzt durch die Globalisierung, durch Medien wie das Internet wurde das empathische Bewusstsein weltumspannend. Als Beweis dafür dient Rifkin hier die große Hilfsbereitschaft nach der Tsunamikatastrophe 2004 - und der Tod der Prinzessin von Wales 1997.

    "Bei Prinzessin Dianas Tod und Begräbnis trauerten 40 Prozent der Menschheit gemeinsam. Durch die weltweite elektronische Umarmung hatte sich das zentrale Nervensystem der Menschheit "geoutet"."

    Es sind solche Beispiele die dazu führen, dass man sich als Leser mehr als einmal den Süßstoff aus den Augen reiben muss. Für Rifkin aber ist es Beweis genug, dass der Mensch kurz vor dem Höhepunkt seiner Empathiefähigkeit steht. Rifkin fragt sich sogar:

    "Sollte es tatsächlich möglich sein, dass ehedem tabuisierte empathische Bande zwischen Mensch und Tier innerhalb weniger Jahrzehnte das menschliche Bewusstsein maßgeblich verändern?"

    Dazu schweigt die ansonsten so ausgiebig zum Beweis zitierte Wissenschaft. Und Rifkin muss sich auf ...

    "... neue Entwicklungen im Internet…"

    …stützen, die, so schreibt er, nahelegen,…

    "... dass ein Paradigmenwechsel vorstellbar ist und es keine Generation mehr dauern könnte, bis die Wende zum biosphärischen Bewusstsein erreicht ist."

    Aber Rifkin wäre nicht Rifkin, der visionäre Wachrüttler, wenn es ihm nur darum ginge, seine Leser einfach so benommen vor Mitderweltgefühligkeit zurückzulassen. Denn sobald er sie auf die höchste Klippe der empathischen Erkenntnis geführt hat, von wo aus sie die ganze Welt vor ihrem inneren Auge sehen und sich mit ihr verbunden fühlen können, macht Jeremy Rifkin seine Leser auf den Abgrund aufmerksam, der sich direkt zu ihren Füßen auftut:

    "Das ist also die Ironie der Geschichte: In dem Moment, in dem wir dem globalen empathischen Bewusstsein so nahe sind, stehen wir auch vor der Vernichtung unserer Spezies."

    Denn Empathie braucht einen hohen Grad an Zivilisation, die wiederum einen hohen Bedarf an natürlichen Ressourcen hat, um zu funktionieren. Doch die Lösung dieses Problems liegt für Rifkin so nahe: Er nennt es "Die dritte industrielle Revolution". Die Geburt eines neuen Wirtschaftssystems. Kurz gesagt: Das Ende des Materialismus, denn Materialisten haben keine Empathie, und deshalb führt Materialismus zur Verachtung der Umwelt. Das Energieproblem wird durch Dezentralisierung gelöst, Wissen und die damit verbundenen Werte werden nicht mehr von Firmen gehortet, sondern allen zur Verfügung gestellt. Und wenn die Menschen wirklich so empathisch sind, wie Rifkin hofft, dann wird die Welt gerade noch rechtzeitig gerettet. Das alles klingt gut, irgendwie überzeugend, irgendwie wissenschaftlich untermauert. Doch ob es wirklich an der Zeit ist, die Geschichte neu zu schreiben - es bleiben Zweifel, auch nach der Lektüre. Denn es beschleicht einen schnell das Gefühl, dass etwas fehlt. Die andere Seite nämlich. Rifkins wissenschaftliche Beweise sind handverlesen einseitig - und einfach Geschichte auszublenden, über Kriege, Völkermord und andere Grausamkeiten -, auch in der so hochzivilisierten Neuzeit - fast stillschweigend hinwegzugehen, weil es nicht so recht ins Bild der empathischen Gesellschaft passen mag, ist mehr als eine lässliche Sünde. Vor allem aber: Es fehlt die Vision in der Vision. Vielmehr scheint es so, als sei Rifkin auf alle Moden gesprungen, die sich im und außerhalb des Internets finden lassen. Steigendes Bewusstsein für Probleme unserer Umwelt ist zumindest teilweise Realität - und liegt im Trend. Die Olympischen Spiele in Vancouver sollen die grünsten in der Geschichte sein. Al Gore fährt wie mittlerweile halb Hollywood mit dem Ökoauto und seinem Friedensnobelpreis auf dem Rücksitz zur Premiere des Blockbusters Avatar, bei dem es um das Leben im Einklang mit der Natur geht. Dass es schlecht um die Natur steht, ist nicht neu, dass wir umdenken müssen, weil die Ressourcen nicht unendlich sind, auch nicht. Und zu Zeiten einer Finanzkrise ist es nicht wirklich visionär, zu fordern, ein neues Wirtschaftssystem zu schaffen, dem Materialismus den Rücken zu kehren. Und so bleibt der Leser irgendwie fasziniert zurück - es ist ja immer wieder gut, darüber zu reden - zumal so eloquent und faktenreich wie Rifkin - aber unbefriedigend ist es doch, weil es so wenig neu ist und nicht richtig überzeugend. Bleibt nur der Trost: Der Mensch ist gut - eigentlich.

    Jeremy Rifkin: Die empathische Zivilisation - Wege zu einem globalen Bewusstsein. Campus Verlag, 480 Seiten, Euro 26,90 (ISBN 978-3-593-38512-9).