Es sind Geschichten über die Fremdheit zwischen den Geschlechtern. In diesem knappen Satz lässt sich zusammenfassen, was in elf Erzählungen wesentlich geschieht. Gleich in der ersten, sie heißt "Serail" und spielt in Istanbul, erleben wir, wie ein kinderloses Paar in mittleren Jahren in einem gehobenen Hotel mit einem Zwischenfall konfrontiert wird: die Frau wird in der Abwesenheit des Mannes von einem Hotelbediensteten belästigt. Genau erfahren wir nicht, was geschehen ist - selbst die Möglichkeit, dass die Frau den Vorfall erfunden hat, ist nicht ganz ausgeschlossen - , aber die seltsam indifferente Reaktion des Mannes offenbart auf beiläufige und subtile Art und Weise das Dilemma, in dem das Paar sich befindet. Der Urlaub wird panisch abgebrochen, ohne dass diese Maßnahme irgendetwas zur Klärung der Beziehung beitragen könnte. Ein anderes, viel jüngeres Paar begegnet uns in der Erzählung "Tunnel". Die beiden jungen Leute haben sich im ersten romantischen Liebesrausch in einer sommerlichen Londoner Wohnung verschanzt; nackt tanzen sie durch die Zimmer und führen ein sorgloses Bohèmeleben. Doch bald werden Risse im Gefüge sichtbar. Das Mädchen hat sein ganzes Interesse auf eine zu erwartende Erbschaft gerichtet, die das Glück materiell absichern soll; der junge Mann dagegen ist fasziniert von einer völlig zweckfreien Aktion, die er aus dem Fenster beobachtet: Halbwüchsige graben auf einem verlassenen Grundstück gegenüber einen Tunnel unter einer Mauer hindurch, als wären sie Gefangene und wollten sich so befreien. Die Anmut dieser Anstrengung und die Freude der Beteiligten über das Gelingen, von der sich auch der Zuschauer anstecken lässt, bilden einen eigentümlichen Kontrast zu der kühlen Zweckrationalität des Mädchens und lassen, ohne dass dies ausgesprochen würde, erahnen: Diese Liebe hat keine Zukunft.
Gewissermaßen paradigmatisch wird das Modell der Entfremdung in jener Geschichte durchgespielt, die dem Band den Titel gegeben hat: "Schwimmen lernen". Ihr erster, programmatischer Satz lautet: "Dreimal hatte Mrs. Singleton daran gedacht, ihren Mann zu verlassen." Wieder eine Urlaubssituation. Mr. Singleton versucht seinem sechsjährigen Sohn Paul, der das Wasser fürchtet, das Schwimmen beizubringen. Mrs. Singelton liegt träge am Strand und denkt nach: über ihren Mann, über sich selbst, über ihre Ehe.
Mrs. Singleton hatte sich für ein schüchternes, unerfahrenes, ängstliches Mädchen gehalten. Über Nacht fand sie heraus, dass dies gar nicht stimmte.
An der Universität haben die beiden sich kennen gelernt: die dem Musischen zugetane junge Frau und er, der Homo faber, künftiger Ingenieur, ein verschlossener, wortkarger, ja geradezu abweisender Mann, dessen mit Verbissenheit betriebene Pubertäts-Leidenschaft einst das Schwimmen war.
Wenn er mit seiner Frau schlief, dann war ihm ihr Körper im Weg - er wollte durch sie hindurchschwimmen.
Das Schwimmen wird zur Metapher für die Vereinsamung der Partner; deshalb wünscht Mrs. Singleton nicht, dass Paul das Schwimmen lernt. Obwohl es im Salzwasser leichter ist, wie Mr. Singleton meint.
Mrs. Singleton hoffte, ihr Sohn würde nicht schwimmen, so dass sie ihn, wenn er aus dem Wasser kam, noch in das große gelbe Badetuch wickeln und ihn trocken- und warmreiben und zuschauen konnte, wie ihr Mann mit leeren Händen abseits stand.
Das Kind wird zum Instrument und zur Projektionsfigur der elterlichen Rivalität; das Kind, das ja das Produkt der gemeinsamen Sexualität der Eheleute ist, wird zum Inbild des Misslingens und Scheiterns dieser Gemeinschaft.
Wenn Mrs. Singleton ihren Mann begehrte, konnte sie nicht anders. Sie streckte sich dann auf dem Bett aus und schlug das Laken zurück, so dass sie einem hingebungsvollen Akt von Modigliani glich. Das sollte einen Mann froh stimmen, dachte sie. Mr. Singleton stand am Fuß des Bettes und blickte auf sie herab. Er sah aus wie einer jener starken, keuschen Ritter aus der Gralssage. ( ... ) Ihr Körper wurde dann zu Stein. In solchen Augenblicken, wenn sie die lastende Kälte missbrauchten Glücks empfand, dachte Mrs. Singleton am ehesten, dass sie mit Mr. Singleton fertig war. Sie dachte: Er hält sich für hart, unabhängig, aber er will nicht sehen, was ich ihm anbiete, er sieht nicht, dass ich diejenige bin, die ihm helfen kann.
Das ist die Quintessenz dieser Erzählungen von Graham Swift: Die Menschen, die sich zu lieben meinen, sehen einander nicht; und selbst wenn sie sich gegenseitig helfen könnten, würden sie es nicht sehen. Mrs. Singleton schreckt nicht einmal davor zurück, den kleinen Paul mit Schokoladeneis zu bestechen:
Mrs. Singleton dachte: Er ist aus mir rausgekrochen, und jetzt muss ich ihn mit Eiscreme zurücklocken.
Hier finden wir die ganze Tragik des menschlichen Lebens in einem Satz zusammengefasst; versehen mit jener unschätzbaren Prise Humor, die das Ganze vielleicht doch noch so eben erträglich macht.
Graham Swift: Schwimmen lernen
Erz. Aus dem Englischen von Barbara Rojahn-Deyk
Hanser Verlag München, 19,90 Euro
Gewissermaßen paradigmatisch wird das Modell der Entfremdung in jener Geschichte durchgespielt, die dem Band den Titel gegeben hat: "Schwimmen lernen". Ihr erster, programmatischer Satz lautet: "Dreimal hatte Mrs. Singleton daran gedacht, ihren Mann zu verlassen." Wieder eine Urlaubssituation. Mr. Singleton versucht seinem sechsjährigen Sohn Paul, der das Wasser fürchtet, das Schwimmen beizubringen. Mrs. Singelton liegt träge am Strand und denkt nach: über ihren Mann, über sich selbst, über ihre Ehe.
Mrs. Singleton hatte sich für ein schüchternes, unerfahrenes, ängstliches Mädchen gehalten. Über Nacht fand sie heraus, dass dies gar nicht stimmte.
An der Universität haben die beiden sich kennen gelernt: die dem Musischen zugetane junge Frau und er, der Homo faber, künftiger Ingenieur, ein verschlossener, wortkarger, ja geradezu abweisender Mann, dessen mit Verbissenheit betriebene Pubertäts-Leidenschaft einst das Schwimmen war.
Wenn er mit seiner Frau schlief, dann war ihm ihr Körper im Weg - er wollte durch sie hindurchschwimmen.
Das Schwimmen wird zur Metapher für die Vereinsamung der Partner; deshalb wünscht Mrs. Singleton nicht, dass Paul das Schwimmen lernt. Obwohl es im Salzwasser leichter ist, wie Mr. Singleton meint.
Mrs. Singleton hoffte, ihr Sohn würde nicht schwimmen, so dass sie ihn, wenn er aus dem Wasser kam, noch in das große gelbe Badetuch wickeln und ihn trocken- und warmreiben und zuschauen konnte, wie ihr Mann mit leeren Händen abseits stand.
Das Kind wird zum Instrument und zur Projektionsfigur der elterlichen Rivalität; das Kind, das ja das Produkt der gemeinsamen Sexualität der Eheleute ist, wird zum Inbild des Misslingens und Scheiterns dieser Gemeinschaft.
Wenn Mrs. Singleton ihren Mann begehrte, konnte sie nicht anders. Sie streckte sich dann auf dem Bett aus und schlug das Laken zurück, so dass sie einem hingebungsvollen Akt von Modigliani glich. Das sollte einen Mann froh stimmen, dachte sie. Mr. Singleton stand am Fuß des Bettes und blickte auf sie herab. Er sah aus wie einer jener starken, keuschen Ritter aus der Gralssage. ( ... ) Ihr Körper wurde dann zu Stein. In solchen Augenblicken, wenn sie die lastende Kälte missbrauchten Glücks empfand, dachte Mrs. Singleton am ehesten, dass sie mit Mr. Singleton fertig war. Sie dachte: Er hält sich für hart, unabhängig, aber er will nicht sehen, was ich ihm anbiete, er sieht nicht, dass ich diejenige bin, die ihm helfen kann.
Das ist die Quintessenz dieser Erzählungen von Graham Swift: Die Menschen, die sich zu lieben meinen, sehen einander nicht; und selbst wenn sie sich gegenseitig helfen könnten, würden sie es nicht sehen. Mrs. Singleton schreckt nicht einmal davor zurück, den kleinen Paul mit Schokoladeneis zu bestechen:
Mrs. Singleton dachte: Er ist aus mir rausgekrochen, und jetzt muss ich ihn mit Eiscreme zurücklocken.
Hier finden wir die ganze Tragik des menschlichen Lebens in einem Satz zusammengefasst; versehen mit jener unschätzbaren Prise Humor, die das Ganze vielleicht doch noch so eben erträglich macht.
Graham Swift: Schwimmen lernen
Erz. Aus dem Englischen von Barbara Rojahn-Deyk
Hanser Verlag München, 19,90 Euro