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Geschichten über Lesen und Leser

Rund 200 Verlage aus 18 Ländern präsentierten sich dieses Jahr auf der Jerusalemer Buchmesse. Das Publikum kommt vor allem aus der Stadt selbst und sucht Bücher in all den Sprachen, die hier zum Alltag gehören.

Von Natascha Freundel |
    " Natürlich ist das hier nicht Frankfurt, es ist Jerusalem","

    so die israelische Schriftstellerin Zeruya Shalev.

    ""Aber die Messe ist doch sehr wichtig für uns. Schließlich sind wir das einzige Land auf der ganzen Welt, in dem Hebräisch geschrieben und gesprochen wird."

    Doch die Jerusalemer Buchmesse ist weniger ein Fest der hebräischen Sprache mit internationalen Zaungästen als vielmehr ein Melting Pot der israelischen Sprachenvielfalt. Rund 200 Verlage aus 18 Ländern präsentierten sich dieses Jahr in den vier Hallen des Veranstaltungszentrums im Westen der Stadt. Das Publikum kommt vor allem aus Jerusalem selbst und sucht Bücher in all den Sprachen, die hier zum Straßenalltag gehören. Ilana Shmueli, eine ehemalige Gefährtin Paul Celans, wurde 1924 in Czernowitz geboren:

    "Als ich kam, '44, bis zum Befreiungskrieg gerade, da war eine viel größere Bewegung und ein viel stärkeres Bemühen um eine eigenständige israelische Kultur. Darüber ist lange zu sprechen. Das ist verwässert, wenn überhaupt. Das ist alles globalisiert jetzt, wie alles andere auch. Und die Sprachkultur auch."

    Israelische, amerikanische und britische Verlage teilen sich die ersten drei Messehallen. Vormittags und nach Feierabend wird es ein wenig eng hier: Freier Eintritt, großzügige Öffnungszeiten von 10 Uhr morgens bis 10 Uhr abends und reduzierte Buchpreise locken die Leser. Ilana Shmueli:

    "Eigentlich habe ich Buchmessen gar nicht so gerne. Wenn ich viele Bücher sehe, wird mir schwindlig. Massenbetriebe sind überhaupt für mich etwas schwer zu ertragen "

    Gleich am Eingang, beim kleinen Jerusalemer Carmel Verlag, liegt die erste hebräische Wolfgang-Koeppen-Übersetzung aus: der Roman "Tauben im Gras", der hier vor knapp zwei Monaten als kleine Sensation aufgenommen wurde. Auch die deutsch-hebräische Liedsammlung "From Haydn to Hindemith" am selben Stand verkauft sich gut. Ilana Shmueli aber zieht es in die vierte, die europäische Halle, vorbei an hohen Stapeln etwa mit einem dickleibigen Werk: "Richard and Adolf", das sich der Frage widmet, ob Richard Wagner Adolf Hitler zum Holocaust bewegt habe, vorbei an "The Jewish Love Affair with Chinese Food", vorbei am bescheidenen Stand des drusischen "Asia Publishing House" und vorbei an den großen, verlockend aufwendigen Judaica-Bänden.

    "Im Grunde genommen, bin ich in keiner Sprache zu Hause. Was Celan als Muttersprache empfunden hat und die einzige Sprache, in der er schreiben konnte. Er hat sich damit auseinandergesetzt, über das Deutsch schreiben. Ich bin auch aufs Deutsche zurückgekommen. Allmählich bin ich aufs Deutsche zurückgekommen. Auf jeden Fall ist Sprache und wirkliches verwurzelt sein in einer Kultur, das ist hier sehr problematisch. Da bin ich nicht allein, das ist unerhört problematisch."

    In Halle vier geht es etwas ruhiger zu, aber längst nicht so still wie bei den Verlagen aus Nahost auf der Frankfurter Buchmesse. Hier wird Französisch, Italienisch, Polnisch, Rumänisch, Litauisch, Ungarisch, Österreichisch, Deutsch und - etwas lauter - Russisch gesprochen. Besonders ältere Besucher schauen sich neugierig und mit leuchtenden Augen um. Tobias Voss, Projektmanager am Kollektivstand der Frankfurter Buchmesse:

    "Ich hab schon hier zu Kollegen gesagt, man sollte die Buchmesse nennen, wie sagte ich? Stories, written and oral. Weil: Man kriegt hier so viel Geschichten mit, das ist der Wahnsinn, jeder kommt an den Stand, erzählt entweder, I have written a book, oder erzählt die Lebensgeschichte. Also das erlebe ich auf keiner Messe so wie hier in Jerusalem, das ist auf der einen Seite ist das fantastisch, und auf der anderen Seite, es bindet sehr viel Zeit, man kann die Leute nicht einfach wegschicken."

    Jerusalem, hatte der israelische Vizepremier Shimon Peres zur Eröffnung der Messe gesagt, Jerusalem ist eine Bibliothek der Menschen und der Bücher. Jeder hier beherberge in sich eine Geschichte, die darauf warte, zum Buch zu werden, so Peres. Am Stand der Holtzbrinck-Verlagsgruppe lässt sich Gabriele Shettle müde aufs Sofa fallen:

    "Es ist endlos schwierig, ob man jetzt auf der London Bookfair oder auf der Frankfurt Bookfair oder auf der Jerusalem Bookfair ist, das eine Problem wird immer sein, dass Menschen mit verstohlenen Händen hinter dem Rücken zu einem kommen, wo nämlich ein Manuskript liegt in diesen Händen. Die Hände kommen nach vorne und die Frage kommt: Can you help me to find a publisher?"

    Shettle, persönliche Referentin der S.-Fischer-Verlegerin Monika Schoeller, hält der Buchmesse in Jerusalem seit 1991 die Treue. Sie vermisst die alten Geschichten, die Geschichten der aus Deutschland eingewanderten Juden:

    "Es gab in Israel viele, viele deutsche Buchhandlungen, als die Einwanderer noch die Nordeuropäer waren, viele, viele große Buchhandlungen, alles ist verschwunden, alles ist weg. Natürlich ist es für uns traurig, diese lieben Menschen zu verlieren, diese alten Einwanderer, diese Jeckes mit ihrer Kultur, die uns in Deutschland für immer und ewig fehlen wird. Berlin, dieses Kulturloch, wird nie mehr zu stopfen sein, und diese Menschen sterben so langsam aus. Ich besuche inzwischen nicht mehr die Buchhändler in Haifa, sondern deren Gräber.""

    Bei Holtzbrinck, beim Kollektivstand der Frankfurter Buchmesse und bei Suhrkamp mit dem Jüdischen Verlag richtet man sich nun auch an die nächste Generation. Katharina Hackers Buchpreis-Gewinner "Die Habenichtse" - der rote Umschlag fällt sofort ins Auge am Suhrkamp-Stand - soll demnächst auf Hebräisch erscheinen. Und hinter dem Regal zu "Jüdischer Geschichte und jüdischem Leben heute" am Frankfurter Messestand sind unter anderem Bücher von Kookbooks, Tropen und Verbrecher Verlag zu finden. Bei Holtzbrinck werden Joachim Fests Autobiografie und, ganz frisch, Ernst Klees "Kulturlexikon des Dritten Reiches" immer wieder in die Hand genommen. Daniel Kehlmanns Bestseller "Die Vermessung der Welt" dagegen staubt ein.

    Im zugigen Seitenfoyer will eine Ausstellung des Goethe-Instituts mit dem Titel "Herzlich Willkommen" zur Bekanntschaft mit der deutschen Sprache einladen. Da können verschieden farbige Boxen betreten, Knöpfe gedreht, Kopfhörer aufgesetzt oder Filmausschnitte betrachtet werden, etwa aus "50 Jahre Werbung in Deutschland" oder aus Doris Dörries Komödie "Männer". Deutschland, lustig Wirtschaftswunderland. Nun suchen vielleicht nicht alle hier wie Ilana Shmueli nach einer kulturphilosophischen Analyse der deutschen Universitäten von heute. Doch man sieht auch nur wenige Kinder auf der Buchmesse in Jerusalem. Deutschland - noch vor Amerika der größte Abnehmer für hebräische Literatur - hält sich in Halle vier bescheiden zurück. Anders als der riesige russische Stand direkt daneben. Die Leiterin Galina Shetinina erklärt, für die russischen Verlage sei Israel weniger als Marktplatz interessant denn als Kulturlandschaft:

    "In Israel leben mittlerweile eine Million russischsprachiger Menschen, die mit der russischen Kultur aufgewachsen sind. Und diese Bildung lässt man offenbar nie zurück."

    Zum ersten Mal trat Russland auf der Buchmesse in Jerusalem so stark auf, mit dem größten Stand in Halle vier, an dem pausenlos gelesen wurde und wo die erstaunlichsten Druckerzeugnisse auslagen, etwa Zeitschriften der Russischen Akademie der Wissenschaften zur Molekularbiologie oder über Traktoren und andere Landwirtschaftsmaschinen. Zudem präsentierte ein Literaturfestival in ganz Israel 21 Autoren aus beiden Ländern, darunter Dmitri Prigov, Dina Rubina, Vladimir Sorokin und Ljudmila Ulitzkaja. Die Moskauerin Ulitzkaja konnte sich vor Autogrammbitten kaum retten, und das auf der so ruhigen, so kleinen Jerusalemer Buchmesse:

    "Die Buchmesse in Frankfurt mag ich am allerwenigsten, weil da so ein Gedränge herrscht, so ein Chaos, aber ich kann eigentlich Buchmessen sowieso nicht ausstehen. Deshalb finde ich Jerusalem großartig, hier ist es beinah menschenleer, hier wird nicht gearbeitet, hier passiert gar nichts, es ist ein stiller, ruhiger Ort.

    Außerdem sind hier viele Juden, meine Freunde, die ich so viele Jahre nicht gesehen habe. Heute hab eich meine ehemalige Deutschlehrerin getroffen, mein Gott, sie hat mich vor 40 Jahren unterrichtet. Sie hat die Todeslager überlebt, und ich habe sie immer sehr geliebt. Und jetzt nach 40 Jahren sehr ich sie zum ersten Mal wieder, meine Knie fingen an zu zittern. Also dieses Israel gibt einem immer so ein Gefühl, immer."