Ganz zu Anfang sei erzählt: Das erste Treffen mit dem berühmten SPD-Politiker Egon Bahr verlief für den Ost-Kabarettisten Peter Ensikat enttäuschend. Vermittelt durch einen befreundeten Journalisten begegneten sich beide bei einer Feier. Egon Bahr wollte den Autor des Buches "Hat es die DDR überhaupt gegeben'" kennenlernen, das er mit Begeisterung gelesen hatte. Autor und Kabarettist Peter Ensikat verschlug es glatt die Sprache, als er dem Politiker Bahr gegenüber stand.
"Ich voller Ehrfurcht vor dem berühmten und - ja beliebten Politiker wusste ihm nichts rechtes zu sagen, er mir auch nicht, und es brauchte eine Weile, bis wir wirklich ins Gespräch kamen, an diesem Abend jedenfalls lief nichts."
Doch man sah sich wieder. Egon Bahr, bekennender Theater- und Kabarettliebhaber, ging häufig zu den Premieren in die berühmte Berliner "Diestel", das Kabarett an der Friedrichstraße, dessen Leiter Peter Ensikat von 1999-2004 war und dessen Texte aus seiner Feder stammten. Egon Bahr wurde ein gern gesehener Gast, auch nach den Vorstellungen.
"Danach hatten wir immer wunderbare Gespräche, haben's immer ausgewertet, und er war ja ein sehr kritischer, ein wohlwollender, aber kritischer Zuschauer, und sein Urteil war uns natürlich sehr wichtig. Gespräche mit ihm sind ja fast immer Geschichtsstunden."
"Wo fangen wir an'", fragt Egon Bahr zu Beginn des Buches, das eine Geschichtslektion werden wird, das sei an dieser Stelle schon vorweggenommen. Bahr erzählt, wie er Hitlers Machtergreifung erlebte - als Kind. Für Ensikat, 19 Jahre jünger, war die Nachricht an die Mutter, dass der Vater im Krieg gefallen war, die erste bewusste Erinnerung. Was schon am Anfang des Dialogs überaus sympathisch wirkt: Beide begegnen sich bei diesem so schwierigen Thema mit entwaffnender Ehrlichkeit und politisch unkorrekt - sozusagen.
"Egon Bahr ist ja ein sehr geradliniger Mensch, einer, der auch eigene Irrtümer sofort zugibt. Wie er selbst beschreibt, dass er nach den ersten deutschen Siegen bis 1941 sogar Stolz empfand. So was zuzugeben, das gehört sich ja eigentlich nicht. Wie sich auch nicht gehört, dass ich zugebe, dass ich Pionier war und das sogar gern und freiwillig war. Dieser direkte Umgang mit sich selbst, sich auch zu Irrtümern bekennen, das macht ja die Größe von Egon Bahr aus."
Egon Bahr erzählt sehr offen. Er muss sich nicht mehr vorsehen oder Rücksicht auf seine politische Laufbahn nehmen, in seinem Alter nicht mehr. Von seinen erfolgreichen Schachzügen in den oberen Machtetagen, ob in Moskau als Unterhändler oder als Staatssekretär im Bundeskanzleramt unter Willi Brandt, erzählt er mit diebischer Freude und von den eigenen Niederlagen, vom eigenen Scheitern mit kalter Schärfe. Man ist hautnah dabei und wagt kaum zu atmen, wenn Bahr vom Sturz Willy Brandts 1974 erzählt, wie der Bundeskanzler über den DDR-Spion Günter Guillaume stolperte. Bahr war es auch, der Brandt den Rücktritt empfahl, obwohl andere Mitstreiter die Krise aussitzen wollten.
Ich habe Brandt trotzdem den Rat gegeben zurückzutreten, und das war, glaube ich, richtig in diesem Falle, ich wollte nicht, dass der Freund beschädigt würde. Er wäre von den Gremien, der Presse, allen Medien gejagt worden, und nach vier oder sechs Wochen wäre er zerstört gewesen.
Ensikat hat in diesem kurzweiligen Dialog den Part des Zuhörenden, des Nachfragenden, des interessierten Bürgers, der damals auf der anderen Seite der Mauer aus den Medien von den Geschehnissen in der BRD und vom Schicksal seines Landes DDR erfuhr, während Bahr die große Politik mitbewegte.
"Der weiß ja Dinge aus der deutschen Geschichte, die weitgehend vergessen sind. Er war ja mal ein Macher, er hat ja die Politik mitgemacht, mitbestimmt, er war ein Strippenzieher. Bei ihm lernt man Zusammenhänge kennen, die einem so, ohne seine Schilderung, nicht so klar werden."
Die beiden Freunde versuchen Gedächtnislücken aufzufüllen, sich gegenseitig zu erzählen, wie unterschiedlich sie die Ereignisse in Ost und West wahrgenommen haben. Bahr, der in die Politik gegangen war, um den Menschen auf beiden Seiten der innerdeutschen Grenze menschliche Erleichterungen zu verschaffen, dessen Ziel immer ein deutscher Staat war. Der gewandt und listig vorgehen musste, um den politischen Gegner bei Laune zu halten. Ensikat, der die Machthabenden seines Landes bei Laune halten musste, um gleichzeitig mit seinen spitzfindigen Texten die wahre DDR auf die Bühne heben und das Volk zum Lachen bringen zu können, damit es das enge Leben ertrug. Erlebnisse greifen im Gespräch der beiden ineinander, Erfahrungen ergänzen sich, Widersprüche bleiben, entknoten sich - humorvoll.
"Ein Streitgespräch ist es nur an manchen Stellen, das sind ja meist die besten. Früher haben wir in zwei Staaten gelebt, und jetzt sind wir zwei Völker. Solche Sätze ärgern ihn natürlich, und das hab' ich ja bewusst gesagt, um ihn zu ärgern. Und wenn man sein Gesicht dazu gesehen hat..., dann wird's noch viel komischer."
Bahr und Ensikat sind aus gleichem Holz - was den Humor angeht. Beide können jeder Krise etwas abgewinnen, wenn dabei gute Witze entstehen; der eine Satiriker, der andere spitzfindiger Politiker, dieselbe Sprache sprechen sie trotzdem nicht. Die hat sich in 40 Jahren ziemlich auseinanderentwickelt, sagt Peter Ensikat, und sie ist auch nach 22 Jahren Wiedervereinigung nicht die Gleiche.
"Wir benutzen dieselben Wörter, nur die Worte haben oft ganz anderes Gewicht, bei denen drüben und bei uns hier hüben. Wir hätten uns mehr Zeit lassen sollen, wir hätten uns erstmal auseinandersetzen müssen, bevor wir uns in die Arme fielen. Das sagt Egon ja auch in dem Gespräch, dass er damit gerechnet hätte, dass es wirtschaftliche Schwierigkeiten geben werde, aber die mentalen Schwierigkeiten, die hat auch er nicht erkannt."
Und so liest sich dieser kurzweilige Dialog der beiden Intellektuellen wie ein Lehrbuch zur deutschen Geschichte und könnte ein Weg sein, das Verständnis von Geschichte zu fördern - nicht zuletzt durch die wechselnden Perspektiven. Das Buch ist daher auch eine Empfehlung für deutsche Klassenzimmer.
Egon Bahr und Peter Ensikat
Gedächtnislücken. Zwei Deutsche erinnern sich.
Aufbau Verlag, 204 Seiten, 16,99 Euro
ISBN: 978-3-351-02745-2
"Ich voller Ehrfurcht vor dem berühmten und - ja beliebten Politiker wusste ihm nichts rechtes zu sagen, er mir auch nicht, und es brauchte eine Weile, bis wir wirklich ins Gespräch kamen, an diesem Abend jedenfalls lief nichts."
Doch man sah sich wieder. Egon Bahr, bekennender Theater- und Kabarettliebhaber, ging häufig zu den Premieren in die berühmte Berliner "Diestel", das Kabarett an der Friedrichstraße, dessen Leiter Peter Ensikat von 1999-2004 war und dessen Texte aus seiner Feder stammten. Egon Bahr wurde ein gern gesehener Gast, auch nach den Vorstellungen.
"Danach hatten wir immer wunderbare Gespräche, haben's immer ausgewertet, und er war ja ein sehr kritischer, ein wohlwollender, aber kritischer Zuschauer, und sein Urteil war uns natürlich sehr wichtig. Gespräche mit ihm sind ja fast immer Geschichtsstunden."
"Wo fangen wir an'", fragt Egon Bahr zu Beginn des Buches, das eine Geschichtslektion werden wird, das sei an dieser Stelle schon vorweggenommen. Bahr erzählt, wie er Hitlers Machtergreifung erlebte - als Kind. Für Ensikat, 19 Jahre jünger, war die Nachricht an die Mutter, dass der Vater im Krieg gefallen war, die erste bewusste Erinnerung. Was schon am Anfang des Dialogs überaus sympathisch wirkt: Beide begegnen sich bei diesem so schwierigen Thema mit entwaffnender Ehrlichkeit und politisch unkorrekt - sozusagen.
"Egon Bahr ist ja ein sehr geradliniger Mensch, einer, der auch eigene Irrtümer sofort zugibt. Wie er selbst beschreibt, dass er nach den ersten deutschen Siegen bis 1941 sogar Stolz empfand. So was zuzugeben, das gehört sich ja eigentlich nicht. Wie sich auch nicht gehört, dass ich zugebe, dass ich Pionier war und das sogar gern und freiwillig war. Dieser direkte Umgang mit sich selbst, sich auch zu Irrtümern bekennen, das macht ja die Größe von Egon Bahr aus."
Egon Bahr erzählt sehr offen. Er muss sich nicht mehr vorsehen oder Rücksicht auf seine politische Laufbahn nehmen, in seinem Alter nicht mehr. Von seinen erfolgreichen Schachzügen in den oberen Machtetagen, ob in Moskau als Unterhändler oder als Staatssekretär im Bundeskanzleramt unter Willi Brandt, erzählt er mit diebischer Freude und von den eigenen Niederlagen, vom eigenen Scheitern mit kalter Schärfe. Man ist hautnah dabei und wagt kaum zu atmen, wenn Bahr vom Sturz Willy Brandts 1974 erzählt, wie der Bundeskanzler über den DDR-Spion Günter Guillaume stolperte. Bahr war es auch, der Brandt den Rücktritt empfahl, obwohl andere Mitstreiter die Krise aussitzen wollten.
Ich habe Brandt trotzdem den Rat gegeben zurückzutreten, und das war, glaube ich, richtig in diesem Falle, ich wollte nicht, dass der Freund beschädigt würde. Er wäre von den Gremien, der Presse, allen Medien gejagt worden, und nach vier oder sechs Wochen wäre er zerstört gewesen.
Ensikat hat in diesem kurzweiligen Dialog den Part des Zuhörenden, des Nachfragenden, des interessierten Bürgers, der damals auf der anderen Seite der Mauer aus den Medien von den Geschehnissen in der BRD und vom Schicksal seines Landes DDR erfuhr, während Bahr die große Politik mitbewegte.
"Der weiß ja Dinge aus der deutschen Geschichte, die weitgehend vergessen sind. Er war ja mal ein Macher, er hat ja die Politik mitgemacht, mitbestimmt, er war ein Strippenzieher. Bei ihm lernt man Zusammenhänge kennen, die einem so, ohne seine Schilderung, nicht so klar werden."
Die beiden Freunde versuchen Gedächtnislücken aufzufüllen, sich gegenseitig zu erzählen, wie unterschiedlich sie die Ereignisse in Ost und West wahrgenommen haben. Bahr, der in die Politik gegangen war, um den Menschen auf beiden Seiten der innerdeutschen Grenze menschliche Erleichterungen zu verschaffen, dessen Ziel immer ein deutscher Staat war. Der gewandt und listig vorgehen musste, um den politischen Gegner bei Laune zu halten. Ensikat, der die Machthabenden seines Landes bei Laune halten musste, um gleichzeitig mit seinen spitzfindigen Texten die wahre DDR auf die Bühne heben und das Volk zum Lachen bringen zu können, damit es das enge Leben ertrug. Erlebnisse greifen im Gespräch der beiden ineinander, Erfahrungen ergänzen sich, Widersprüche bleiben, entknoten sich - humorvoll.
"Ein Streitgespräch ist es nur an manchen Stellen, das sind ja meist die besten. Früher haben wir in zwei Staaten gelebt, und jetzt sind wir zwei Völker. Solche Sätze ärgern ihn natürlich, und das hab' ich ja bewusst gesagt, um ihn zu ärgern. Und wenn man sein Gesicht dazu gesehen hat..., dann wird's noch viel komischer."
Bahr und Ensikat sind aus gleichem Holz - was den Humor angeht. Beide können jeder Krise etwas abgewinnen, wenn dabei gute Witze entstehen; der eine Satiriker, der andere spitzfindiger Politiker, dieselbe Sprache sprechen sie trotzdem nicht. Die hat sich in 40 Jahren ziemlich auseinanderentwickelt, sagt Peter Ensikat, und sie ist auch nach 22 Jahren Wiedervereinigung nicht die Gleiche.
"Wir benutzen dieselben Wörter, nur die Worte haben oft ganz anderes Gewicht, bei denen drüben und bei uns hier hüben. Wir hätten uns mehr Zeit lassen sollen, wir hätten uns erstmal auseinandersetzen müssen, bevor wir uns in die Arme fielen. Das sagt Egon ja auch in dem Gespräch, dass er damit gerechnet hätte, dass es wirtschaftliche Schwierigkeiten geben werde, aber die mentalen Schwierigkeiten, die hat auch er nicht erkannt."
Und so liest sich dieser kurzweilige Dialog der beiden Intellektuellen wie ein Lehrbuch zur deutschen Geschichte und könnte ein Weg sein, das Verständnis von Geschichte zu fördern - nicht zuletzt durch die wechselnden Perspektiven. Das Buch ist daher auch eine Empfehlung für deutsche Klassenzimmer.
Egon Bahr und Peter Ensikat
Gedächtnislücken. Zwei Deutsche erinnern sich.
Aufbau Verlag, 204 Seiten, 16,99 Euro
ISBN: 978-3-351-02745-2