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Geschichtsträchtiges Datum
Historiker: Der 9. November sollte nationaler Gedenktag werden

Revolution, Hitlerputsch, Pogromnacht, Mauerfall: Am "Schicksalstag" 9. November lasse sich der Sieg der Demokratie in Deutschland erzählen, aber auch wie zerbrechlich diese Errungenschaft sei, sagte der Historiker Wolfgang Niess. Im Dlf erklärt er, warum dieser Tag kein Gedenktag ist – aber einer werden sollte.

Wolfgang Niess im Gespräch mit Christoph Heinemann |
Zwei Fotos sind zu sehen: Das linke Bild zeigt eine brennende Synagoge in Frankfurt im Jahr 1938. Das linke Bild zeigt Menschen, die im Jahr 1989 die Berliner Mauer erklimmen.
Reichspogromnacht und Mauerfall: Der 9. November ist ein ambivalentes Datum der deutschen Geschichte (IMAGO/AGB Photo, picture alliance/ASSOCIATED PRESS/Anonymous)
Der 9. November und Tage davor und danach sind für die deutsche Geschichte prägend:
9. November 1918 – Ausrufung der Republik
9. November 1923 – gescheiterter Putschversuch durch Adolf Hitler
9. November 1938 – die Reichspogromnacht
8. November 1939 – Georg Elsers Anschlag auf Hitler
9. November 1989 – der Mauerfall
Der Historiker und Journalist Wolfgang Niess beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der Revolution von 1918. Er hat, ausgehend von diesem 9. November, ein Buch über dieses Datum geschrieben und über den Umgang im 20. Und 21. Jahrhundert mit diesem 9. November – Untertitel "Die Deutschen und ihr Schicksalstag". Er fordert: Der 9. November soll ein Gedenktag werden.
"In meinen Augen spiegelt sich im 9. November wie in keinem anderen Tag des Jahres der lange, von furchtbaren Rückfällen unterbrochene Kampf um die Demokratie in Deutschland", sagte Niess im Deutschlandfunk. Der Tag habe sich in der Debatte im Jahr 1990 nicht als nationaler Feiertag durchgesetzt, weil Sorgen bestanden, dass das Gedenken an die November-Pogrome durch das Gedenken an den Mauerfall verdrängt werden könne. Stattdessen habe man mit dem 3. Oktober ein "Verwaltungsdatum" gewählt. Am 3. Oktober wurde der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik rechtswirksam.
Die Bedenken gegen den 9. November als Feiertag seien "vollkommen unbegründet" gewesen, sagte Niess: "Man kann an 1938 erinnern und zugleich an 1989 und an 1918 erinnern. Beide Stränge sind in der deutschen Geschichte präsent und können gleichermaßen am selben Datum quasi in einer Rede auch erinnert werden."
Die Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 am Brandenburger Tor.
9. November als Schicksalstag - "Kitschig und auch fehlleitend"
Der 9. November hat in der deutschen Vergangenheit immer wieder eine Rolle gespielt. Vom einem Schicksalstag zu sprechen, lehnt der Historiker Ulrich Herbert aber ab. Oft seien diese Daten reiner Zufall gewesen,sagte er im Dlf.

Das vollständige Interview im Wortlaut:

Christoph Heinemann: Wieso wurde ab 1918 der Gründungstag der Republik nicht auch ihr Feiertag?
Wolfgang Niess: Es gab schlicht keine Mehrheit in der Nationalversammlung. Die nationale und monarchistische Rechte war von Anfang an gegen diese Republik. Selbst unter den Parteien, die die erste Regierung gestellt haben, war der 9. November als Datum umstritten, denn es war nicht nur der Tag, an dem die Republik ausgerufen wurde, sondern auch der Tag, an dem in Deutschland eine Revolution gesiegt hatte, und damit hatte vor allem die Zentrumspartei, die Partei der Katholiken große Probleme. Die gottgewollte Obrigkeit war von Menschenhand beseitigt worden. Das Zentrum bekannte sich zwar trotzdem zur Republik am Ende, aber den 9. November dann auch noch zum Feiertag zu machen, das ging doch zu weit. Unterm Strich waren die Sozialdemokraten die einzigen, die sich wirklich voll und ganz zur Republik und auch zum 9. November bekannten und das auch Jahr für Jahr zum Ausdruck brachten.
Heinemann: Welche Rolle spielte der 9. November 1918 und dann auch 1923 für die Nazis?
Niess: Für Hitler war der 9. November ein rotes Tuch. Der Kampf gegen die Republik war von Anfang an sein Programm, mit dem er in München auf viel Zustimmung gestoßen ist, und der 9. November war der Tag, an dem er jedes Jahr aufs Neue die Beseitigung und Bestrafung der November-Verbrecher gefordert hat. Nach diesem dilettantisch gescheiterten Putsch gab Hitler dann dem 9. November eine ganz neue Facette. Er hat ihn zum Gedenktag für die Gefallenen der Bewegung gemacht, für die am 9. November vor der Feldherren-Halle getöteten Putschisten.
Nach 1933 wurden dann jährlich am 8. Und 9. November in München gigantische Feierlichkeiten inszeniert, die zum wichtigsten Datum im nationalsozialistischen Jahreskalender wurden. Wenn man so will hat Hitler für seine Zwecke den Tag der Revolution, den Tag der Republik geschichtspolitisch umgedeutet und in Besitz genommen, so wie er das auch mit dem 1. Mai gemacht hat.
Heinemann: Dazu gehörte zum Beispiel die Blutfahne.
Niess: Absolut! Blutfahne, die damals angeblich beim 9. November 1923 getragen wurde und dann gerettet wurde – mit der wurden Fahnen und Standarten der SS und anderer Parteigliederungen damals geweiht.

1938: Reichspogromnacht

Heinemann: Herr Niess, 1938 gingen viele Bürgerinnen und Bürger auf ihre jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger los – rund 1.500 Tote, Brände, Zerstörungen. Ab wann und wie begann die Auseinandersetzung mit diesem 9. November?
Niess: Sie haben recht: Es waren viele Bürgerinnen und Bürger, die sich beteiligt haben damals. Neuere Schätzungen gehen etwa von zehn Prozent der Bevölkerung aus. Aber in erster Linie war der Pogrom von der Partei angeordnet. Die Münchener Feierlichkeiten am 9. November boten Goebbels die Möglichkeit, den in München versammelten Würdenträgern der NSDAP diese Pogrome zu befehlen, ohne dass er das explizit tat. Das Ganze sollte ja als Ausbruch von spontanem Volkszorn inszeniert werden. Diese offen gewalttätige Verfolgung war in der Nazi-Führung durchaus umstritten. Da ging die Auseinandersetzung sofort los. Und auch in der Bevölkerung haben die kritischen Stimmen deutlich überwogen – auch unter denen, die ganz grundsätzlich mit den antijüdischen Maßnahmen des Regimes einverstanden waren. Und die Gegner des Regimes im Exil haben seinerzeit den 9. Und 10. November als Zeichen gedeutet, dass hier die Grenze sichtbar geworden sei, über die hinaus das deutsche Volk den Nazis nicht zu folgen bereit sei.
Eine Überlebende der Reichspogromnacht 1938, Eve Kugler, während eines Zoom-Interviews
Zeitzeugin - Erinnerungen an das Grauen vom 9. November
Eve Kugler wurde 1938 Augenzeugin der Reichspogromnacht, in der Nationalsozialisten in Deutschland mehr als 1.400 Synagogen und jüdische Einrichtungen anzündeten und etwa 30.000 Menschen verschleppten. Das Attentat in Halle im Jahr 2019 weckt Erinnerungen.
Heinemann: Wie äußerte sich das?
Niess: Es hat beispielsweise Konrad Heiden, der erste Biograf Hitlers, das wörtlich so formuliert. Es ist auch in der sozialdemokratischen Exilpresse genauso formuliert worden.
Heinemann: Wie hat sich der Umgang mit dem 9. November nach 1945 in der Bundesrepublik entwickelt?
Niess: In der unmittelbaren Nachkriegszeit gab es noch etwas Erinnerung an die November-Revolution und vereinzelt auch Erinnerung an den Pogrom von 1938. Es gab Gerichtsprozesse wegen der Beteiligung an diesen Gräueltaten im November 1938 und die kleinen jüdischen Gemeinden haben die Erinnerung wach gehalten. Aber in dieser Phase hat man sich mit der NS-Vergangenheit nicht wirklich auseinandergesetzt. Sie wurde beschwiegen, wie wir das heute formulieren. Das hat sich erst in den 60er-Jahren zu ändern begonnen.
Eine Frau läuft in Berlin im Jahr 1938 an einem Geschäft vorbei, das von Juden geführt wurde. Die Scheiben sind zerbrochen.
Reichspogromnacht 1938 (picture alliance/AP Images/Uncredited)
Heinemann: Mit welchem Schwerpunkt dann?
Niess: Durchaus mit dem Schwerpunkt, Erinnerungsveranstaltungen für 1938 zu machen. Aus denen sind dann im Laufe der Zeit große Gedenkveranstaltungen geworden. Aber es gab erst 1978 erstmals eine zentrale Gedenkveranstaltung der Republik, bei der ein führender Repräsentant des Staates gesprochen hat. Das war damals Helmut Schmidt als Bundeskanzler in der Kölner Synagoge.
Und was die November-Revolution angeht, da gab es ein kurzes erinnerungspolitisches Feuerwerk zum 50. Jahrestag 1968. Das hat gut in die studentenbewegte Zeit gepasst. Danach verschwand sie wieder aus der Gedenkkultur.

DDR legte Schwerpunkt auf die Revolution von 1918

Heinemann: Schwerpunkt in der Bundesrepublik war die Pogrom-Nacht, das Erinnern, das Gedenken an 1938. – Wie schaute die DDR auf den 9. November?
Niess: In der DDR stand die November-Revolution ganz im Zentrum der Erinnerung. Die DDR hat ja für sich in Anspruch genommen, die historischen Lehren daraus gezogen zu haben. In der DDR, hieß es, sei verwirklicht, was die Revolutionäre von 1918 gewollt hätten. Das hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun – weder mit der der DDR, noch mit der des Jahres 1918 –, sondern diente der geschichtspolitischen Legitimierung des Staates.
An die November-Pogrome wurde in der DDR häufig nur im Zusammenhang mit der allgemeinen Verfolgung von Gegnern und Opfern des Regimes erinnert. Man hat das den jüdischen Gemeinden überlassen; Staat und Gesellschaft haben sich ernsthaft erst in den 70er- und 80er-Jahren gekümmert. Erst dann war die Staatsführung auch bereit, historische Verantwortung zu übernehmen.
Heinemann: Warum fand Georg Elsers Anschlag auf Hitler am 8. November 1939 lange Zeit kaum Beachtung?
Niess: Im Falle Elsers kam viel zusammen. Man hat sich in der Bundesrepublik ja anfangs generell schwergetan mit dem Widerstand. Selbst die Männer des 20. Juli galten ja manchen Altnazis schlicht als Vaterlandsverräter. Im Fall des 20. Juli gab es dann mächtige Interessengruppen, die sich für die Erinnerung eingesetzt haben – Adel, nationales konservatives Bürgertum. Denen war sehr daran gelegen, die Erinnerung an den Widerstand aus dem eigenen Lager zu forcieren, durchaus auch, um in Vergessenheit geraten zu lassen, wie sehr und wie lange man Hitler unterstützt hat.
Das Bild zeigt den Kopf des von Friedrich Frankowitsch geschaffenen Denkmals am Bahnhof Königsbronn.
Georg Elser - Einzelgänger unter den Widerstandskämpfern
Georg Elser war einfacher Arbeiter und Einzeltäter, der aus persönlicher Überzeugung handelte. Wegen des Attentats auf Hitler 1939 im Münchner Bürgerbräukeller wurde er vor 75 Jahren im KZ Dachau ermordet.
Das alles gab es im Falle von Elser nicht. Im Gegenteil. Ein Handwerker, ein Kunstschreiner, der schon 1939 vollständig auf sich alleingestellt ein Attentat auf Hitler plant und durchführt, das war eher irritierend und provozierend. Das hat nämlich gezeigt, was möglich war, wenn ein einzelner entschieden und klug gehandelt hat.

Niess: Pogrom steht im Mittelpunkt des Gedenkens

Heinemann: Herr Niess, überlagert der Mauerfall inzwischen den Blick zurück auf den 9. November?
Niess: Nein. Nach wie vor steht der Pogrom im November 1938 ganz im Mittelpunkt des jährlichen und vielfältigen Gedenkens. An den Fall der Mauer wird an runden Jahrestagen erinnert. Das war besonders ausgeprägt 2009 der Fall. Damals hat die Kanzlerin Akteure von 1989 und auch amtierende Staats- und Regierungschefs aus aller Welt nach Berlin eingeladen. 2019 gab es auch große Feierlichkeiten, aber nie wurde 1938 vergessen – auch nicht als 2018 dann zum ersten Mal überhaupt in der Geschichte mit einer Gedenkstunde im Bundestag an die November-Revolution erinnert wurde.
Heinemann: Was sollten Schülerinnen und Schüler über Geschichte und Demokratie am Beispiel des 9. November 1918 bis 1989 lernen?
Niess: Schwierige Frage, weil man so vieles lernen kann – zum Beispiel, dass die Demokratie in Deutschland erkämpft werden musste, zum Beispiel, dass es immer in der deutschen Geschichte auch Gegner der Demokratie gab. Demokratie ist nicht ein für allemal da, sondern kann auch wieder verspielt werden, wenn die Demokraten sich nicht entschieden für sie einsetzen. Man kann auch lernen, dass dann selbst Rückfälle in die Barbarei möglich sind, wie die NS-Verbrechen, Rückfälle, die zuvor keiner uns Deutschen zugetraut hätte. Aber man kann durch Georg Elser als Beispiel auch lernen, wo Widerstand geboten ist und wo ein Einzelner in der Lage dazu sein kann und was er alles schaffen kann. Aber ganz generell: Man kann vor allem lernen, dass es sich lohnt, für die Demokratie sich zu engagieren und für sie zu streiten.
Heinemann: Vor dem Hintergrund dieser Lektion stellt sich schon die Frage: Warum wurde der 9. November nach der Wiedervereinigung nicht zum Nationalfeiertag?
Niess: Es haben damals viele befürchtet, dass die Freude über den Fall der Mauer die Erinnerung an die November-Pogrome überlagern und auch verdrängen könnte. Wem das Gedenken an 1938 besonders wichtig war, der hat sich damals gegen den 9. November ausgesprochen. Es gab aber 1990 auch viele, die der Auffassung waren, beides, 1938 und 1989, beides zusammen sei wichtig für die deutsche Geschichte. Manche Historiker und Politikwissenschaftler haben damals auch schon 1918 mit einbezogen. Aber das alles konnte mit seinem Wunsch letztlich nicht durchdringen. Die Politik wollte 1990 auf keinen Fall an der Erinnerungskultur zu den November-Pogromen rühren. Sie wollte keinen Nationalfeiertag, bei dem manche Gruppen in der Gesellschaft vielleicht Vorbehalte haben könnten oder gar Widerspruch äußern könnten. Man hat stattdessen diesen 3. Oktober gewählt, ein Verwaltungsdatum, aber man muss heute feststellen, dass diese Befürchtungen unbegründet waren.
Ein Besucher des DDR-Museums blickt auf einen Fernseher in dem die Sendung "Der Schwarze Kanal" mit dessen Moderator Karl-Eduard von Schnitzler läuft. 
Journalismus nach dem Mauerfall - Die Medien-Wende
Der Mauerfall brachte auch für die DDR-Medien große Veränderungen. Die Konsequenzen ahnte damals kaum eine Journalistin und kaum ein Kameramann. Es folgte ein zähes Ringen um die Umgestaltung der DDR-Medien.
Heinemann: Vollkommen?
Niess: Vollkommen unbegründet waren. Ich sehe im Moment keinen Ansatz, dass 1938 aus dem zentralen Gedenkfeld der Bundesrepublik Deutschland verschwinden würde.
Heinemann: Herr Niess, Sie fordern, unser 9.11 sollte ein nationaler Gedenktag werden. Warum?
Niess: In meinen Augen spiegelt sich im 9. November wie in keinem anderen Tag des Jahres der lange, von furchtbaren Rückfällen unterbrochene Kampf um die Demokratie in Deutschland. Hitler hatte nicht recht, als er den Putschisten in München aufs Denkmal schreiben ließ, und ihr habt doch gesiegt. Eben nicht! Die Demokraten haben gesiegt und das sollten wir uns jedes Jahr in Erinnerung rufen. Der 9. November könnte zu einem Tag werden, an dem sich Deutschland jedes Jahr seiner demokratischen Traditionen ebenso bewusst wird wie seiner historischen Verbrechen und an dem es sich, wenn ich es etwas pathetisch formuliere, zu Demokratie und Menschenrechten bekennt.
Heinemann: Beider Entwicklungen kann man gleichzeitig gedenken?
Niess: Beides kann man gleichzeitig machen. Man kann an 1938 erinnern und zugleich an 1989 und an 1918 erinnern. Beide Stränge sind in der deutschen Geschichte präsent und können gleichermaßen am selben Datum quasi in einer Rede auch erinnert werden.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.