Stéphanie Munoz ist Geschichtslehrerin in der südfranzösischen Stadt Toulon. Sie unterrichtet dort an einer Berufsschule.
Munoz: "Es gibt dauernd Konflikte. 80 Prozent meiner Schüler sind Muslime. Manche Themen wie die Shoah kann ich mit ihnen kaum noch behandeln. Ich möchte so viel Fachwissen wie möglich besitzen, damit ich den Jugendlichen beibringen kann, selbstständig zu denken, und ihnen heikle Themen so erkläre, dass sie es nicht falsch auffassen."
Munoz sagt mehrfach, dass sie sich für ihre Aufgabe "wappnen" müsse. Deshalb hat sie gerade ihre Herbstferien abgekürzt und ist nach Paris gereist, um dort eine viertägige Fortbildung an der Pariser Holocaust-Gedenkstätte zu absolvieren.
"So bringt man Jugendliche doch nicht zum Nachdenken!"
Die Lehrerin weiß, dass viele ihrer Kollegen die Shoah vor allem auf emotionaler Ebene vermitteln. Sie selbst hält das für unangebracht.
"Da brechen manche Schüler dann in Tränen aus und alle sind tief bewegt. Aber das ist kein wissenschaftlicher Ansatz. So bringt man Jugendliche doch nicht zum Nachdenken."
Emotionen verleiten zu Amnesie, sagt auch Iannis Roder. Gefühle vergesse man rasch, weil sie von anderen Gefühlen überlagert würden. Der 48-jährige Geschichtslehrer leitet die Lehrerseminare an der Shoah-Gedächtnisstätte. Er ist auch Mitglied eines Weisen-Rates, der das Bildungsministerium in Sachen Laizismus berät.
Die Geschichte der Shoah wurde 1989 in Frankreich zum Pflichtunterricht, erklärt Roder den versammelten Lehrern. Es war eine Reaktion auf erste massive Wahlerfolge des rechtsextremen Front National. Parteigründer Jean-Marie Le Pen war damals schon für seine provokanten antisemitischen Äußerungen bekannt.
Roder: "Der Schulstoff Shoah sollte verhindern, dass die ‚dunkelsten Stunden unserer Geschichte‘ zurückkehren. Der Unterricht wurde als große Lektion in Sachen Moral und Antirassismus aufgezogen, eine Pädagogik des Schreckens unter dem Motto: Nie wieder!"
Bei der Ideologie der Nazis ansetzen
Heute steht das Thema sogar dreimal im Programm: in der fünften Klasse, in der neunten und vor dem Abitur.
Iannis Roder unterrichtet an einer Mittelschule in der Pariser Vorstadt Saint-Denis und erlebt dort, wie der Unterricht über die Judenvernichtung bei seinen Schülerinnen und Schülern ankommt. Ihre Familien sind überwiegend aus Nord- und Westafrika eingewandert. Sie haben also einen völlig anderen historischen und kulturellen Hintergrund als Franzosen ohne Zuwanderungsgeschichte.
Zu Beginn seiner Berufstätigkeit dort musste Roder häufig auf Provokationen und Bemerkungen reagieren wie "Hitler wäre ein guter Muslim gewesen". Oder: "Immer die Juden. Andere Völker leiden auch." Auch bei Schülern aus bürgerlichen Wohngegenden und Kreisen verspürt Roder einen Überdruss am Thema Judenvernichtung und an der Erinnerungskultur. Er geht das Thema Shoah deshalb unter einem rein politischen Blickwinkel an.
Roder: "Geschichtsunterricht – das heißt für mich: wir sollten bei den Tätern ansetzen, ihre Weltanschauung untersuchen. Die Shoah wurde nicht durch ungezügelten Hass ausgelöst, nicht durch barbarische Instinkte, die die Gesellschaft kollektiv erfasst hätten. Wir müssen zeigen, dass dahinter eine strukturierte Weltanschauung steht. Sie beruht auf Antisemitismus und der Idee einer angeblichen jüdischen Weltverschwörung."
Vergleich mit anderen Völkermorden
Um ihnen die mörderische Ideologie der Nazis zu verdeutlichen, spricht Roder mit seinen Schülern auch über Hitlers Tötungsprogramm zur Auslöschung von behinderten Menschen. Und er vergleicht die Verbrechen der Nazis immer mit anderen Völkermorden des 20. Jahrhunderts wie jenen an den Armeniern oder an den Tutsi. Es sei wichtig, dass im Unterricht nicht ausschließlich von den Verbrechen an den Juden gesprochen werde. Außerdem gleichen sich die Mechanismen: Die Täter maßen sich das Recht an, zu entscheiden, welche Bevölkerungsgruppe leben darf und welche nicht. Dieser Unterricht hilft den Schülern auch, die Aktualität zu begreifen, sagt Iannis Roder.
Roder: "Die Anhänger der nationalsozialistischen Ideologie sind überzeugt, dass ihr Handeln für Deutschland, für das Reich gut ist. Das gilt auch für die Islamisten, unabhängig von der Ideologie, die natürlich eine völlig andere ist. Beim Attentat auf die Redaktion der Satirezeitung Charlie Hebdo hat der Attentäter Said Kouachi zu einer Journalistin dort gesagt: ‚Dich verschone ich, weil ich keine Frauen töte. Aber was du tust, ist schlecht.‘ Dieser Satz ‚was du tust ist schlecht‘ ist von entscheidender Bedeutung: Er verstößt diese Frau in das Reich des Bösen. Sich selbst sieht der Attentäter also im Reich des Guten. Er tötet die anderen Journalisten, um Gutes zu tun und sein Seelenheil zu retten. Das ist dieselbe Logik wie bei den Nazis."
"Wie wird ein Mensch zum Massenmörder?"
Anders als viele seiner Kollegen unterrichtet Iannis Roder gerne in einer sozial benachteiligten Banlieue. Die Reaktionen seiner Schüler hätten ihn gezwungen, seine Praxis zu hinterfragen. Zusammen mit ihnen probiere er neue Ansätze aus. Roder will auch nach 21 Jahren keine Versetzung beantragen.
Roder: "Ich sehe, dass es möglich ist, heikle Themen zu unterrichten, und dass es funktioniert. Meine Schüler sind begierig, das völlig Unbegreifliche zu begreifen: Wie wird ein gewöhnlicher Mensch zum Massenmörder? Wenn wir das zusammen erörtern, verstehen sie genau, welche Macht eine Ideologie, ein Glaube entfalten kann."
Es gibt allerdings ein Problem: die Zeit. Für das enorme Kapitel Zweiter Weltkrieg und die Auslöschung von Juden, Sinti und Roma veranschlagt der Lehrplan für die neunte Klasse gerade einmal fünf Stunden.
"Der Diskurs an unserer Schule hat sich gebessert"
Die Lehrerin Stéphanie Munoz aus Toulon hat einen anderen Weg gefunden, diesen Stoff ausführlich zu behandeln. Sie hat eigens ein Projekt zum Thema Shoah organisiert, das sich über das ganze Schuljahr hinzieht, und sie reist mit ihren Schülern sogar nach Auschwitz. Dieses Programm stemmt sie allerdings nur alle zwei Jahre für jeweils eine Klasse. Die Folgen seien aber über diesen Teilnehmerkreis hinaus spürbar.
Munoz: "Es bringt die Schüler zum Nachdenken. Wir haben festgestellt, dass sich der Diskurs an unserer Schule dank dieser Projekte gebessert hat."
Die Fortbildung im Mémorial habe ihr geholfen, sagt Munoz kurz vor ihrer Abreise aus Paris. Sie habe neue Ideen gesammelt und Unterrichtsmaterialien gefunden, um mit ihren Schülern über die Gefahr von Ideologien und das schwierige Gleichgewicht von Toleranz und Respekt in einer offenen Gesellschaft zu sprechen. Zuvor will sie aber an ihren ermordeten Kollegen Samuel Paty erinnern.
Munoz: "Ich werde die Mohammed-Karikaturen wieder heraus holen und den Schülern erklären, warum man sie zeigen muss und warum unsere Meinungsfreiheit so wichtig ist."