Für die beiden 9. Klassen des Kyritzer Gymnasiums ist heute kein normaler Unterrichtstag. Sie sind ins DDR-Geschichtsmuseum nach Perleberg gefahren. Ob ein nachgebauter DDR-Lebensmittelladen oder eine umfangreiche Bibliothek - kein Thema aus dem Alltagsleben der DDR ist hier ausgespart. Auch Radios, Plattenspieler, Fernseher, Stereo-Anlagen aus der DDR sind in einem Raum aufgebaut. Jannis, Maria und Meilin haben das meiste von dem, was sie bislang über die DDR wissen, in der Familie gehört:
"Also ich war schon mal im Tränenpalast in Berlin. Ich wusste, dass es da diesen Grenzübergang gab. Das mit der Mauer wusste ich auch."
"Dass es nicht so schöne Kleidung gab, nicht so viel Auswahl in den Supermärkten."
"Meine Oma hat immer gesagt, dass im Osten das Leben an sich ganz gut war, aber manchmal war es hart, also sehr schlimm."
Viel gibt es zu entdecken. Nur an einigen ausgewählten Stellen verweilt Museumsleiter Hans Peter Freimark – zum Beispiel bei den DDR-Druckerzeugnissen:
"Wir hatten ganz tolle Zeitungen. Eine Zeitung hieß ‚Der Demokrat‘. Bloß wir hatten keine Demokraten. Eine Zeitung hieß ‚Freie Presse‘. Die hat es nie bei uns gegeben."
Viele neue Fakten für Neuntklässler
Schon seit zehn Jahren kommt der Kyritzer Geschichtslehrer Thomas Settgast mit seinen Neuntklässlern in dieses DDR-Museum:
"Das ist mir ein Herzensanliegen. Weil ich mich selbst mit der DDR-Geschichte intensiv auseinandersetzen musste, weil ich Anfang 30 war, als sich die DDR in der Friedlichen Revolution sozusagen in Wohlgefallen auflöste."
Der eigene biografische Hintergrund ist Motiv für sein Engagement: Thomas Settgast gründete 1989 im Kreis Kyritz die SPD, die damals noch SDP hieß. Beim Museumsrundgang sollen die Schüler und Schülerinnen stichpunktartig einen Fragenkatalog beantworten: Was passierte am 17. Juni 1953 oder wie war das mit der Mauer? Victoria notiert schon eifrig. Nicht so leicht, die vielen neuen Fakten zu sortieren:
"Ich wusste zum Beispiel nicht, dass Deutschland in vier Staaten eingeteilt wurde. Also – eine komplizierte Geschichte. Ich verstehe es einfach nicht so ganz. Warum die Mauer erbaut wurde."
Zeitzeugen geben Erfahrungen an Jüngere weiter
In dem Raum, in dem es um die Überwachungsmethoden der Stasi geht, berichtet Zeitzeugin Gisela Freimark von eigenen Erfahrungen. Auf sie und ihren Mann, damals waren sie das Pastorenehepaar in Kyritz, wurden etliche Spitzel angesetzt. Obwohl inzwischen über 70, ist Gisela Freimark unermüdlich für das Museum aktiv, will ihre Erfahrungen an die Jungen weitergeben:
"Weil uns wirklich wichtig ist, dass junge Menschen, die überhaupt keine Vorstellung haben, wie es mal gewesen ist, das manchmal nicht mal von den Eltern hören oder von den Großeltern. und leider die Freiheit kaum noch so richtig nutzen. Sondern wie es eine Lehrerin vorhin sagte: sie fragen viel zu wenig."
Dass in ostdeutschen Familien über das Thema DDR oft geschwiegen wird, diese Erfahrung hat auch die Berliner Autorin und Regisseurin Dörte Grimm gemacht. Sie ist Jahrgang 1978 und Mitinitatorin eines "Zeitenwende-Lernportals" im Netz, das Gespräche mit Jugendlichen vermittelt. Besonders über die Umbruchzeit nach 1989. Einige solcher Gespräche hat Dörte Grimm inzwischen mit Jugendlichen geführt. Oft hatten die sich vorbereitet, auch ihre eigenen Eltern gefragt:
"Deren Eltern sind zum größten Teil jetzt in meinem Alter. Also ungefähr genau meine Generation. Und da hat sich oft herausgestellt, dass sie zum ersten Mal darüber gesprochen haben, was schon sehr verwunderlich ist."
Woher diese Zurückhaltung kommen könnte?
"Dass wenn man immer aus den Medien erfährt, dass man in einer Diktatur gelebt hat und dass Teile des Lebens, an dem man über 40 Jahre teilgenommen hat, mit einer Form von Unrecht behaftet sind, dass es dann schwerfällt, ganz locker über die Zeit im Osten zu reden."
Die jungen Leute, die im Perleberger Museum zuhören, sind kaum länger auf der Welt, als Angela Merkel Bundeskanzlerin ist. Was nehmen sie mit heute? Welche Mosaiksteinchen werden bleiben – und ihr DDR-Bild prägen? Mailin fand den Vormittag sehr anregend:
"Es ist halt so, dass wir vorher nicht so wirklich was darüber wussten. Und dass es alles ziemlich neu ist."
Auf jeden Fall sei dieser Museumsbesuch eine sehr gute Idee, meint auch die Kyritzer Geschichtslehrerin Constanze Wilke, die zum ersten Mal hier ist. Schließlich bleibe im regulären Unterricht einfach zu wenig Zeit für das Thema DDR:
"Das ist definitiv so. Also wir haben viel zu wenig Zeit im Unterricht. Und insofern ist so ein Ausflug – Unterricht am anderen Ort – die Gelegenheit, das wirklich anzufassen, zu sehen und zu spüren, wie das damals ausgesehen haben könnte. Auch wenn es nur ein Museum ist. Aber es ist ein Stück Alltag."
Für Constanze Wilke war der Museumsbesuch eine Reise in die eigene Vergangenheit. Sie ist Jahrgang 64, stammt aus Thüringen. Was ihr wichtig ist:
"Dass man die eigene Sicht mitteilt und trotzdem versucht, den Schülern eigenes Denken beizubringen. Dass sie mit diesen Erinnerungen, die wir haben, mit dem, was sie in Lehrbüchern lesen, sich ein Geschichtsbild entwickeln, was sie zum eigenen Denken veranlasst, wo sie kritisch sind, hinterfragen. Wo sie nicht alles schlucken, was ihnen vorgesetzt wird."