Die Bibel kennt mehr Geschlechter als nur Mann und Frau, sagt Stefan Schorsch, Professor für Bibelwissenschaft an der Uni Halle. Schließlich heiße es im zweiten Kapitel der Genesis:
"Da machte Gott der Herr den Menschen aus Staub von der Erde und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen."
Erst als Gott dem Wesen eine ganze Seite entnimmt - und nicht nur eine Rippe wie meist übersetzt wird - und erst da entstehen Mann und Frau, oder wie Luther es übersetzt "Mann und Männin". Das Wesen vorher war offenbar zwittrig, androgyn oder intersexuell.
Rabbiner kannten "Androgynos"
Doch legen wir damit fälschlicherweise Sichtweisen von heute in Texte, die vor Jahrtausenden entstanden sind? Nein, meint Charlotte Fonrobert von der Stanford University: Rabbinische Texte zeigen, dass man durchaus wusste, dass es Menschen gibt, deren Geschlecht nicht eindeutig ist. Diese wurden mit dem griechischen Wort "Androgynos" bezeichnet.
Fonrobert: "Es gibt zwei verschiedene Kontexte, in denen der Begriffs selber ins Spiel kommt. Einmal der theologische Zusammenhang mit der Interpretation des Schöpfungsmythos. Und der andere ist aber der konkrete sozialrechtliche Zusammenhang, in dem der Mensch vorgestellt wird als nicht nur Mann oder Frau. Und in dem Zusammenhang wird ganz klar aus den Gesetzestexten, dass die Rabbiner im Sinn haben einen Menschen, der zweigeschlechtlich ist, also das war wir heute als Intersex bezeichnen würden. Und dann wird diskutiert, ob ein solcher Mensch einen Mann oder eine Frau heiraten darf."
Nun entstanden die Texte des alten Testaments nicht im luftleeren Raum, sondern griffen teilweise ältere orientalische Erzählungen und Mythen auf.
Doch bei denen spielt die Schaffung von Mann und Frau keine Rolle, sagt die Koblenzer Alttestamentlerin Michaela Bauks. Wohl aber beschreibt man Homoerotik und Homosexualität.
Bauks sagt: "Homoerotische Tendenzen lassen sich zum Beispiel im Epos von Gilgamesch in der Beziehung von Gilgamesch und Enkidu finden, so ähnlich wie bei David und Jonathan. Das sind ja die beiden Erzählungen, die häufig für homoerotische Beziehungen zu Rate gezogen werden und das ist auch durchaus plausibel. Aber ja es gibt keine Bewertung, keine Qualifizierung, wie damit umzugehen ist, sondern das sind Dinge, die beobachtet man, die gibt es."
Jesus als neues Rollenmodell
An anderen Stellen in der Bibel gibt es schon Bewertungen, da wird die Liebe zwischen Männern verdammt. Auch die Rabbiner erlauben die Ehe zwischen einem Andrgynos und einem Mann aus diesem Grunde nicht, sagt Charlotte Fonrobert. Die auch darauf hinwies, das Jesus und seine Jünger ein neues Rollenmodell verkörperten:
"Man muss gar nicht so weit gehen, zu sagen, das Jesus selber, die Person Jesus selber queer oder schwul oder homosexuell war, aber einfach das Phänomen, dass hier ein jüdischer Mann mit seinen 12 Jüngern durch die Gegend, durch Galiläa pilgert, fällt ja auch aus dem normativen sozialen Rahmen."
Mit dem Christentum entstanden neue Rollenmodelle jenseits tradierter Männlichkeits/Weiblichkeitsnormen betonte die Neutestamentlerin Annette Weißenrieder in ihrem Vortrag über "Jungfrauen und Eunuchen im Neuen Testament". Beide Begriffe wurden vor 2.000 Jahren nicht geschlechtsspezifisch verwendet, Jungfrauen konnten auch asketisch lebende Männer sein. Und Galen verwendet den Begriff "Eunuchen"in einem medizinischen Traktat auch für Frauen. Auch Matthäus weiß, das ein Mann nicht ein Mann sein muss, wenn er schreibt:
"Denn es gibt Verschnittene, die von Geburt an so sind; und es gibt Verschnittene, die von den Menschen verschnitten worden sind; und es gibt Verschnittene, die sich selbst verschnitten haben um des Himmelreiches willen. Wer es fassen kann, der fasse es!"
Fluide Wesen
Durch Jungfrauenschaft, Zölibat oder gar Kastration den Leib rein erhalten, um so das Himmelreich zu erlangen, ist ein neuer Umgang mit dem Körper, der durch das Christentum entsteht. Mit weitreichenden Folgen sagt Professorin Weissenrieder.
"Also eine Frau konnte durchaus eben die Gemeinde leiten. Wie auch ein Mann eine Rolle übernehmen konnte, die möglicherweise nicht vorgesehen war, nämlich sich zurückzuziehen aus diese Welt. Also einfach diese Möglichkeit, andere Geschlechterrollen einzunehmen, nicht anderes Geschlecht. Und ich denke dieser Eunuchenbegriff geht in diese Richtung."
Bei genauer Lektüre und vor allem wenn man andere Texte aus der Zeit der Bibelentstehung einbezieht, ergibt sich ein durchaus differenziertes Bild, was die Texte über Geschlecht, Geschlechterrollen und Modelle aussagen. Andererseits gibt es durchaus klare Aussagen zur Homosexualität oder das Gott Mann und Frau schuf. Stefan Schorch forderte in seinem Vortrag dann auch, man müsse das Gespräch suchen über die Interpretation dieser Stellen und dürfe sie nicht, wie heute oft geschieht, aus ihrem textlichen und historischen Zusammenhang lösen. Dann werde man erkennen - die Geschlechtermodelle der Bibel sind durchaus fluid.