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Geschlossene Gesellschaft

In Luis Bunuels Film "Der Würgeengel" übernachten die Gäste einer Party im Haus der Eheleute Nobile – und stellen am nächsten Morgen fest, dass sie den Raum nicht mehr verlassen können. Nicht, dass es Fenster und Türen nicht mehr gäbe - es funktioniert einfach nicht. Nun hat Martin Wuttke diese skurrile Szenerie auf die Theaterbühne gebracht.

Von Hartmut Krug |
    Eine Abendgesellschaft, versammelt in einer Sofalandschaft, lauscht einer Frau. Es ist die Souffleuse, die am langgezogenen Esstisch im Hintergrund einen Text über das Erzählen vorliest, über die Rezitation, die alle nach einer 0pernpremiere in einer Villa zusammenkommen ließ. Und so bleiben diese "Schiffbrüchigen von der Straße der Vorsehung" aus Luis Bunuels Film aus dem Jahr 1962 im Wien des Jahres 2012 stets Rezitatoren und Dozenten ihrer Gedanken- und Sinnwelten, während auf den auseinandergezogenen Seitenwänden eines Paravents, der mit einer Wolkenkratzerstadt und mit einer Felsenhöhle im Wald bemalt ist, Projektionen von wilden Bildern und Zeichen in traumhaft langsamer Bewegung vorbeiziehen.

    Die Menschen in dieser Inszenierung zeigen uns wenig von ihrem Leben, aber sie erzählen uns unendlich viel Grundsätzliches über den Sinn des Lebens, über Realität und Traum, über Liebe und Tod. Bei Bunuel können die Menschen den Raum nicht verlassen, obwohl die Türen offen sind und die Bediensteten sie verlassen, weil sie gefangen in ihrer Denk- und Lebenswelt sind. Sie leiden, so Bunuel, an der "unerklärlichen Unmöglichkeit, eine ganz einfache Lust zu befriedigen." Regisseur Martin Wuttke hält sich mit einer Erklärung dafür, warum diese Menschen bleiben und sich wie bei Bunuel entzivilisieren, nicht auf. Während der Regisseur und Dramatiker Karst Woudstra in den 90er-Jahren in seiner Bühnenversion des Films eine aktuelle Gesellschaftsanalyse bot, - sie wurde unter anderem am Staatsschauspiel Dresden und an der Schaubühne gespielt -, will Martin Wuttke im Kasino des Burgtheaters mehr: seine Abendgesellschaft existenziell vereinsamter, sehnsüchtiger Menschen ist weder sozial noch individuell oder gar zeitlich verortet. Ihr Lebensraum ist die Kunstwelt der Oper. Wuttke geht es nicht um Gesellschaftskritik, sondern um Grundsätzliches. Also um das Leben und das Theater: Sein kühnes Denkspiel, das er "Nach der Oper. Würgeengel. Eine masochistische Komödie" nennt, womit die Bezugsebenen benannt sind, versucht eine Übermalung des Filmplots mit Musik von Wagner und Schönberg, - und eine Unterfütterung mit den Thesen von Slavoj Žižek, die dieser in seinem Buch "Der zweite Tod der Oper" entwickelt hat. Es ist ein respektheischender und großer Aufwand, den Wuttke hier betreibt: intellektuell wie materiell. Mit einem Orchester, vier 0pernsängern und 19 Schauspielern, mit philosophischen und poetischen Traktaten von Nancy, Blanchot, Dolar, Wagner und – natürlich – Houellebecq.

    Und stets geht es um die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Mythen, - vor allem mit dem des Liebestods. Deshalb kommen die Menschen aus der Oper, haben Wagners "Tristan und Isolde" gesehen, dessen Musik Bunuel 1930 in "L'age d'or" verwandte. Wuttkes fast dreistündige, pausenlose Inszenierung wird durchtost von der Musik des letzten Aktes von "Tristan und Isolde":

    Was Wuttke versucht, ist eine Art analytisches Gesamtkunstwerk. Liebestod und Selbstauflösung, der Tod, der seine Sinnhaftigkeit in der Gemeinsamkeit findet, das Ich und seine Darstellbarkeit, Theater und Leben, Spiel und Authentizität: all das wird besprochen, befragt und untersucht. Doch leider in einer szenisch wenig lebendigen Weise. Wo zum Beispiel bei Schlingensief das Ungeordnete modellhafte Sinnlichkeit bekam, da bleibt es bei Wuttke in seiner dramaturgischen Ordnung und szenischen Steifheit lähmend unspielerisch. Erstaunlich, dass Wuttke keine Spielsituationen gestaltet, zu gestalten weiß, dass die Figuren nicht gegen oder miteinander in sichtbare Beziehungen gesetzt werden. In dieser Inszenierung wird vor allem herumgestanden und gesessen. Und es wird aufgesagt, oftmals mit starker Unterstützung der Souffleuse, ohne dass die komplizierten Texte vom Schauspieler Leben eingehaucht bekämen:

    "Aus einem tiefen Abgrund in den Eingeweiden der Erde drangen gewisse Geräusche, gleichmäßig und bestimmt, wie ich ihresgleichen noch nie gehört hatte. Dass sie uralt und eindeutig zeremoniell waren, empfand ich fast intuitiv."

    Bewegung bringen allein eine dramatische Lichtregie und die bedeutungsschwangeren Dauerprojektionen mit ihren stummfilmhaften und Blut-Bildern als Assoziationsangeboten. Die Parallelisierung von Wagner und Bunuel, so, wenn ein junges Paar sich zum Selbstmord verabredet, geht szenisch fast unter.

    Trotz des hervorragenden jungen Orchesters unter Leitung von Arno Waschk, trotz überzeugender Gesangssolisten und trotz manch großer Namen im vielköpfigen Schauspielensemble: dieser konzeptionell klug gedachte, aber szenisch unsinnliche Abend war von lähmender Bedeutsamkeit. Das schnell erschlaffte Publikum schenkte dem Ensemble und seinem Regisseur zwar respektvollen Beifall, doch vollzählig war es beim späten Schlussapplaus nicht mehr.