Michael Böddeker: Die Krawalle von Abiturienten in Köln haben bundesweit für Schlagzeilen gesorgt und womöglich geht es damit bis zum Ende der gerade laufenden Mottowoche auch noch weiter. Die Polizei zumindest bereitet sich darauf vor, wie wir ja gerade eben gehört haben. Was uns jetzt interessiert: War es eigentlich schon immer so extrem wie jetzt oder hat sich da vielleicht etwas verändert? Darüber spreche ich jetzt mit Dr. Katrin Bauer. Sie ist Kulturwissenschaftlerin im LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte und hat sich schon lange, bereits in ihrer Magisterarbeit, mit Abi-Scherzen und -Ritualen beschäftigt. Guten Tag, Frau Bauer!
Katrin Bauer: Hallo, guten Tag!
Böddeker: Ja, war es immer schon so extrem wie jetzt aktuell oder wie haben sich Abiturrituale und Streiche über die Jahre entwickelt?
Bauer: Ja, also, so schlimm oder so eine Eskalation wie heute gab es vor einigen Jahren noch nicht. Das ist eine Entwicklung, die wir seit zwei, drei Jahren beobachten können. Allerdings muss man sagen, dieses Element, über die Stränge zu schlagen oder eben auch mal Grenzen auszutesten, ist eigentlich was, was wir bei Abi-Ritualen schon seit den 1970er-Jahren kennen.
Böddeker: Aber hat sich das Ausmaß, mit dem über die Stränge geschlagen wird, verstärkt?
Bauer: Das Ausmaß hat sich auf jeden Fall verstärkt. Wenn man sich die Abi-Scherze früher anguckt, waren das vielleicht Lehrerautos, die mit Kaugummi zugeschmiert wurden, oder Lehrerzimmer, die verbarrikadiert wurden. Dann in den 1990er-Jahren die großen Abi-Gags und Abi-Shows, die sich da irgendwie etabliert haben. Und jetzt diese Eskalation, dass man auch ein Stück weit gegeneinander oder Schulen so einen Wettkampf, Wettstreit machen, das ist was Neues.
Böddeker: Und das Ganze hat sich ja auch zeitlich etwas verändert. Im Moment gibt es die Mottowoche und das auch schon, bevor man das Abitur in der Tasche hat, oder?
Bauer: Genau, da haben Sie recht. Also, die Abiturientenscherze früher waren eigentlich immer erst, wenn man das Abitur in der Tasche hatte, wenn man sein Zeugnis hatte, also vor den Sommerferien. Heute hat sich das alles verlagert. Und die Mottowoche ist ein Element, was eigentlich erst seit den letzten zehn Jahren ungefähr dazugekommen ist, dass man eben die letzte Schulwoche, wo man eben das letzte Mal als Stufengemeinschaft irgendwie zur Schule geht, dass man die auch noch rituell begeht.
Böddeker: Haben Sie eine Erklärung dafür, warum sich das alles so gewandelt hat?
Bauer: Ja, es hängt sicherlich mit einem Wandel der Gesellschaft zusammen. Der Druck durch zwölf Jahre Abitur ist sicherlich erhöht worden und so dieses Kollektiv noch mal zu spüren, eine Stufengemeinschaft zu bilden, die dann auch identitätsstiftend wirkt, ist glaube ich ein ganz, ganz wichtiger Gesichtspunkt.
Böddeker: Das heißt, wenn ich Sie richtig verstanden habe: Auch der Druck auf die Schüler hat vorher zugenommen und das bricht sich dann womöglich Bahn in solchen Aktionen?
Bauer: Genau, ich würde schon sagen, dass das so eine Kanalisation ist, eben dieses Über-die-Stränge-Schlagen, auch Alkohol hat schon immer eine Rolle gespielt. Dass jetzt Gewalt dazukommt, ist natürlich sehr, sehr bedauerlich.
Böddeker: Im Moment gibt es diese extremen Vorfälle in Köln oder auch in Nordrhein-Westfalen. Gibt es da regionale Unterschiede oder Besonderheiten?
Bauer: Wir können schon beobachten, dass es in Köln extrem ist, was vielleicht damit zusammenhängt, dass hier eben auf kleinem Raum sehr, sehr viele Schulen aufeinanderstoßen, die sich dann eben gegenseitig auch abgrenzen wollen. Allerdings haben wir auch schon vor ein paar Jahren zum Beispiel in der Region Aachen so ein Über-die-Stränge-Schlagen gehört, wo eben dann Schüler sich irgendwie als Terroristen verkleidet haben und wo es auch zu so Grenzen … Grenzen überschritten wurden, wo es nicht mehr so schön war.
Böddeker: Dann lassen Sie uns mal historisch noch viel weiter zurückschauen, Sie haben da ja einen guten Überblick. Anfang des vergangenen Jahrhunderts sah es deutlich anders aus, was gab es da für Rituale bei den Abiturienten?
Bauer: Genau. So um 1900 war natürlich die Zahl der Abiturienten noch viel, viel geringer, das war wirklich die Elite des Landes. Damals hat man eigentlich kaum Abi-Scherze oder so was gekannt. Man hat Abiturpostkarten verschickt an Freunde, Bekannte, die Zeugnisverleihung war da etwas, was sehr rituell begangen wurde, sehr feierlich begangen wurde. Wenn wir dann ein bisschen weiter gucken, so in den 1960er-Jahren wurde eigentlich jede Feierei abgelehnt, da hat man gar nichts gemacht, das Zeugnis wurde zugeschickt. Und dann im Laufe der 70er-, 80er-Jahre hat sich das eben immer weiter professionalisiert und da kamen dann eben diese Abi-Gags langsam auf.
Böddeker: Professionalisierung ist auch noch ein gutes Stichwort. Das Ganze ist ja wirklich im großen Rahmen, das kostet mitunter auch Geld. Wie organisieren die Schüler das eigentlich?
Bauer: Die fangen schon mindestens ein Jahr vor dem Abitur an, bilden einzelne Komitees, die dann für Abi-T-Shirt, Abi-Ball, Abi-Gag, Abi-Motto und so weiter zuständig sind. Es wird eine Menge Geld investiert, also, der Abi-Ball ist sehr, sehr teuer und dafür muss eben bei so Vor-Abi-Partys Geld gesammelt werden, und das ist auch ein hohes finanzielles Risiko, was die Schüler eingehen.
Böddeker: Dann lassen Sie uns mal noch versuchen, in die Zukunft zu schauen. Was glauben Sie, wie sich dieser Trend bei Abi-Feierlichkeiten weiterentwickeln wird, ist da was abzusehen?
Bauer: Ich könnte mir vorstellen, dass wir jetzt gerade an so einem Höhepunkt angelangt sind. Es gibt schon einige Tendenzen, Schüler oder Abiturienten, die sagen, nein, wir wollen eben diese Professionalität nicht mehr und wir machen es klein und wir machen vielleicht eher irgendwie ein Spielefest für die ganze Schule. Also, ich glaube, es ist im Moment so ein Schnittpunkt und wir müssen mal abwarten, wie sich das entwickelt.
Böddeker: Sagt Katrin Bauer vom LVR-Institut für Landesgeschichte und Regionalgeschichte. Mit ihr habe ich über die Feierrituale von Abiturienten gesprochen, die in Köln in den vergangenen Nächten etwas aus dem Ruder gelaufen sind. Vielen Dank für das Gespräch!
Bauer: Danke.
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