Sechs Sänger sitzen im kleinen Kreis. Jeder von ihnen wählt einen eigenen Ton. Mal halten sich die Sänger Ohren zu, mal reagieren sie auf andere, mal formen sie mit den Händen einen Resonanzraum. Nach kurzen Durchläufen geht es um Beschreibungen: Was verändert sich, wie hören die Sänger sich selbst? Ist ihr Ton eher körnig, wird er heller, dunkler? Hat er bei geschlossenen Ohren mehr oder weniger Obertöne? Uta von Kameke-Frischling leitet die Arbeitsgruppe "Vom tätigen Untätigsein beim Singen". Ihre stimmliche Klangarbeit sieht sie als Ergänzung eines traditionellen Gesangsunterrichts:
"In dem Moment, wo ich mich selber als klingend erlebe, als klingendes Instrument erlebe beim Singen, ist die Bahn frei für angenehme Wahrnehmung. Glücksgefühle wäre jetzt schon hoch gegriffen, aber es kann natürlich so weit gehen zu so Highs, körperlichen Peak-Experiences. Das geht teilweise so weit, dass die Leute, die einsteigen in diese Klangarbeit für sich auch entscheiden, nicht mehr musikalisch tätig zu sein, weil ihnen das reicht, auf einzelnen Klängen zu tönen. So weit würde ich nicht gehen. Für mich ist immer noch das Musizieren, auch das Musizieren mit anderen zusammen auch eine wichtige Motivation, weswegen ich das eigentlich erlernt habe, das Singen. Aber das kann auf jeden Fall dazu beitragen."
Vielfältig sind die Perspektiven solch einer körperbasierten Unterrichtsmethode. Uta von Kameke-Frischling warnt in ihrem gelungenen Vortrag vorm Misslingen. Fragwürdigen Unterrichts-Standards und einem nicht seltenen musikalischen Leistungsdruck stellt sie den fernöstlichen Buddhismus entgegen: das um etwas Kreisende dem Teleologischen, dem Zielgerichteten westlicher Industriegesellschaften. – Durchaus lässt sich das Bild übertragen auf die Essener Tagung "Gelingendes Leben und Musik". Umkreist wird das große Thema, von verschiedenen Seiten beleuchtet. Einem resoluten Zugriff entziehen sich große, schwer zu bestimmende Wörter wie "gelingen", "Leben" und "Musik" - gleichsam wie Puddings, die man an die Wand nageln will. Natürlich kann Musik glücklich machen. Aber führt das zu einem "gelingenden Leben"? Musikalische Wirkungen sind schwer auf einen Nenner zu bringen. Manch ein Vortrag musikpädagogischer Hochschul-Professoren scheitert, selbst nach (oder gerade wegen) aufwändiger Kategorienbildung an einer Buntheit namens Realität.
Wo ist Musik heute besonders wichtig?
Was sich im Rahmen der Tagung herausschält, sind Fragen danach, wo Musik heute besonders wichtig ist, wo sie gebraucht wird zu einem individuellen oder kollektiven Gelingen. Die zunehmend multikulturelle Lebenswirklichkeit spielt eine besondere Rolle. Peter W. Schatt beschäftigt sich mit einer musikalischen Praxis als Teilhabe am immateriellen kulturellen Erbe. Der verdiente, 70-jährige Musikpädagoge betont die besondere Fähigkeit von Musik, Identität, auch Identitäten im Plural zu schaffen auf der Basis offener Angebote. Doch auch hier bleiben, so Schatt, weitere Fragen:
"Offenheit für Andere ist ja etwas sehr Schönes. Aber entscheidend ist eigentlich, was in dem Prozess der Offenheit mit dem Anderen passiert. Wir haben ja in der vergangenen Zeit zum Beispiel den Exotismus. Denken sie ans 'Alla turca'. Natürlich: Türkische Musik mit offenen Armen aufgenommen, aber in diesen Armen ist sie dann zerdrückt worden. Man hat sich darüber lustig gemacht. Also Offenheit führt nicht unmittelbar dazu, dass das Leben gelingt, kann also auch andere ausgrenzen und Grenzen ziehen. Von daher war gestern auch die Frage, ob in einer Identität im Übergang, wie Wolfgang Welsch es nannte oder eine transkulturelle Identität wünschenswert ist, ob sie gewissermaßen als pädagogische Norm gesetzt werden kann. Und wir waren der Meinung, dass man dazu gar nichts sagen kann, weil der Begriff der Transkulturalität schwierig ist, insofern, als eine solche Kulturalität gar keinen Ort hat. Die ist irgendwo im Trans oder ist immer im Anderen verortet."
Musik als Unterstützung zum Spracherwerb
Eindrücke aus einer anderen Arbeitsgruppe: Hier präsentiert Birgit Jeschonneck, Grundschullehrerin aus Kassel, mit Verve und mitreißender Leidenschaft ihre Unterrichtsmethoden. Jeschonneck hat viel mit sogenannten Problemkindern zu tun, auch mit Flüchtlingskindern und Kindern mit Migrationshintergrund. Auf Basis eines Klassenlehrer-Prinzips, wo ein Grundschullehrer verschiedene Fächer unterrichtet, benutzt sie Musik als Unterstützung des Spracherwerbs. Birgit Jeschonneck:
"Aber nur auch. Ich mache schon einen Musikunterricht, wo es um musikimmanente Themen geht, wo die Handlungsfelder Musikhören, Musik und Bewegung und was es noch alles gibt, im Vordergrund stehen. Ich benutze Musik aber auch als Vehikel, weil Kinder eben Freude an Musik haben und weil es mir die Varianz der Verstetigung ermöglicht, indem man etwas ganz oft wiederholt, was oft wiederholt werden muss. Man muss halt mit Grundschulkindern gerade mit den sprachlichen Voraussetzungen, die ich vorfinde, sehr viel wiederholen und darf die Kinder dabei nicht langweilen und das gelingt mir halt über Spiel und mit Musik."
In einer Übung lernen Musikpädagogen ein Parodieverfahren in pädagogischer Lesart. Birgit Jeschonneck benutzt bekannte Kinderlieder und lässt sie auf andere Wörter singen. So bekommen die Schüler ein Gefühl für Sprache, für Silben, für Wörter, aber auch für musikalische Rhythmen. Dann geht Jeschoneck mit ihrer Kleingruppe an einen Flügel. Im Flügelinneren streichen die Teilnehmer über die Saiten und imitieren manche Befindlichkeiten:
"Das kann ein Winseln sein, ein Wimmern ein Jammern, ein Seufzen, ein Kreischen. Das sind Wörter, die die Kinder nicht unbedingt kennen, die wir dann vokal nachgeahmt haben und dann ein bisschen auch am String Piano übertragen haben und dann war das Banshee-Gedicht, was sie Worten geschrieben haben – mit Jammern, Seufzen, Klagen – der Bauplan für die Komposition. Wo man genau hingehört hat: Wie ist der Klang? Passt das wirklich zu diesem Inhalt? Und das ist dann auch ein ganz intensives Hinhören."
"Es ist eine Möglichkeit, das Leben zu bereichern"
Birgit Jeschonneck ist keine Esoterikerin - sie glaubt nicht an besondere Seelen-Heilkräfte der Musik, stellt sie gleichberechtigt neben Fächer wie Mathematik, Sport oder Deutsch. Musik muss nicht sein, so ein Konsens bei der Essener Tagung "Gelingendes Leben und Musik. Aber sie sollte, meint auch Peter W. Schatt – und spricht jedem aus dem Herzen, den Musik immer wieder in einen schwer fassbaren Bann zieht:
"Es ist eine Möglichkeit, das Leben zu bereichern. Es gibt wunderbar gelingende Leben, glückliche Menschen, zufriedene Menschen, die mit Musik gar nichts am Hut haben. Die weder Musik hören noch Musik machen. Es ist keine Notwendigkeit. Aber wenn man es tut, dann eröffnet man dem Kind oder man eröffnet sich selber später auch im Alter sogar – für viele ältere Menschen ist es ja wunderbar, in einem Chor zu singen, nicht nur, weil sie da in einer Gemeinschaft aufgehoben sind, sondern weil sie im Vollzug von Musik etwas erleben, wo ich mich wohlfühle. Es ist eine von vielen Möglichkeiten, zu einem gelingenden Leben beizutragen. Und ich meine, man sollte nicht zögern, einem Kind diese Möglichkeit zu eröffnen."