Archiv

Gesellschaft und Corona
"Gerade Pandemien haben zu sozialen Veränderungen geführt"

Kann die Corona-Pandemie eine Gesellschaft auch zum Positiven verändern? Der Zukunftsforscher Matthias Horx ist optimistisch. Schon jetzt zeige sich mehr Solidarität in der Gesellschaft. Auch in der ökologischen Frage könne man einen Wandel feststellen, sagte er im Dlf.

Matthias Horx im Gespräch mit Philipp May |
Mitglieder des Deutschen Nationaltheaters und die Staatskapelle Weimar musizieren vor dem Schauspielhaus am gemeinsamen Aktionstag unter dem Motto «Wir sind da!».
Solidarität in der Not - ein gesellschaftliches Phänomen in der Coronakrise: Mitglieder des Deutschen Nationaltheaters und die Staatskapelle Weimar musizieren am gemeinsamen Aktionstag unter dem Motto "Wir sind da!" (dpa/picture alliance/Bodo Schackow)
Mehr Höflichkeit, weniger Populismus, ein neues Wirtschaftssystem, weniger CO2-Ausstoß? Kann ein gesellschaftlicher Reset durch Corona gelingen? Mit diesen Fragen beschäftigt sich der Zukunftsforscher Matthias Horx. Er glaubt, dass Gesellschaften Krisenzeiten auch etwas abgewinnen können. Der gesellschaftliche Zusammenhalt sei stark. "Es gab noch nie so eine Zeit, seit 30 Jahren, in der die Deutschen im Grunde genommen so einverstanden mit der Politik waren", meint Horx. Es gebe viel gesellschaftliche Solidarität.
Auch in der ökologischen Frage kann er Bewegung feststellen: "Ich habe in diesem Jahr noch nie so viele große Unternehmen gesehen, die sich jetzt ernsthaft auf einen größeren Wandel in Richtung auf Änderung der Klimakrise vorbereiten."
Schon in der Vergangenheit sei es so gewesen, dass Krisen zu Fortschritt geführt hätten, meint der Zukunftsforscher. Gerade Pandemien hätten soziale Veränderungen angestoßen. Es gebe bereits viele Menschen "die in dieser Krise gewachsen sind". Man habe bisher in einer Welt der Überbeschleunigung gelebt - "diese Unterbrechung, dieser Stopp ist nun etwas, das uns auf die Zukunft hinweist."
Eine Frau in einem Schutzanzug steht am 05.12.2020 in einer Coronvirus-Teststation in Saalfelden, Österreich, vor einer grünen Wand
Wie Epidemien die Gesellschaften präg(t)en
Die politischen Maßnahmen gegen Corona ähneln denen vergangener Zeiten, sagte der Medizinhistoriker Karl-Heinz Leven im Dlf. Abschottung und Quarantäne habe es schon bei Seuchen in der Frühmoderne gegeben.

Das Interview im Wortlaut:
Philipp May: Sind Sie ernüchtert?
Matthias Horx: Ja, man ist immer ernüchtert, aber Sie haben das falsch dargestellt. Es war keine Utopie, sondern es war eine Ermutigung. Es war damals eine Zeit, in der alle auf die Hysterie rausliefen und auf die totale Depression, und ich hab einfach mal versucht zu sagen, es könnte ja auch anders sein, es könnten ja auch andere Dinge in dieser Pandemie aufkommen. Wir könnten uns anders organisieren, es könnten Menschen etwas daraus gewinnen, Gesellschaften etwas daraus gewinnen, und das würde ich heute schon sagen, dass das genau auch geschehen ist oder immer noch geschieht, auch gerade weil es so schwierig ist.
May: Aber es ist viel von dem, was ich da jetzt – also das Wording war falsch, das ist keine Utopie, Sie sagen eine Ermutigung, aber das waren ja sozusagen diese Ermutigungen, von denen Sie gesagt haben, das könnte so sein. Viel davon, was ich jetzt so beschrieben habe, das ist ja eher jetzt nicht eingetroffen, zumindest bisher noch nicht.

"Es gibt eine ganze Menge gesellschaftlicher Solidarität und Kohärenz"

Horx: Ist das so?
May: Ja, würde ich sagen.
Horx: Ja, gut, das ist eben eine Frage der Interpretation. Dass es Menschen gibt, die wütend sind und Corona leugnen, das kann man jetzt als Argument dafür nehmen, dass alles noch schlimmer wird, oder man kann darauf schauen, dass eigentlich die gesellschaftliche Kohärenz – wir kennen ja inzwischen die Zahlen –, es gab noch nie seit 30 Jahren eine Zeit, in der die Deutschen so einverstanden im Grunde genommen mit der Politik waren. Es ist schwierig, natürlich ist eine Krise immer schwierig, aber es gibt auch eine ganze Menge gesellschaftlicher Solidarität und Kohärenz und vor allen Dingen den zweiten Teil dessen, was Sie da gelesen haben, den Wertewandel, der Shift zu einer anderen Lebensweise, die Frage, wie wollen wir eigentlich leben, auch gerade in der ökologischen Frage. Ich hab in diesem Jahr noch nie so viele große Unternehmen – und wir arbeiten ja auch mit vielen großen Unternehmen – gesehen, die sich jetzt ernsthaft auf einen größeren Wandel in Richtung auf Verhinderung der Klimakrise vorbereiten. Man kann jetzt um die Details streiten, aber wie gesagt, das ist der Unterschied. Es wird immer vermutet, dass der Zukunftsforscher eine präzise Prognose macht, ich hab ja eine Regnose gemacht. Ich hab quasi die Menschen angeregt, anders über dieses Angstgeschehen, über dieses Krisengeschehen nachzudenken und sich zu überlegen, was hat das in der Historie auch für Bedeutung. Es war ja immer so, dass Krisen auch dann zu Fortschritt führten. Gerade die Pandemien haben zu sozialen Veränderungen geführt. Unser soziales System wird in vielerlei Hinsicht auf die Probe gestellt, und manchmal kann es nicht alles leisten, was es muss, das ist ja klar. Was ich nicht versprechen kann, ist eine heile und gloriose Welt, dieses religiöse Erhaltungssystem an den Zukunftsforscher, das kann ich nicht. Aber ich kann versuchen Veränderungsmöglichkeiten, Möglichkeit, Träume darzustellen.
May: Und dennoch hat die Pandemie in vielen Bereichen ja auch gnadenlos die Risse in unserer Gesellschaft aufgezeigt. Würden Sie das auch so sehen?
Horx: Ja, aber das heißt nicht, dass die Risse dann auch reißen. In Amerika würde ich Ihnen da recht geben, das hat eine Gesellschaft dort gespalten, die sowieso schon gespalten war, aber nach allem, was wir wissen – und wir wissen ja inzwischen heute auch ganz viel über die Werteveränderung, es gibt ja auch wunderbare Institute, die das auch erforschen. Wir können sehen, dass bei vielen, vielen Menschen, natürlich nicht bei allen, es wird immer wieder Menschen geben, die in so einer Wachstumspanik dann zurückkehren wollen in das alte Normale – sie machen dann noch mehr Konsum danach, Reisewut und Konsumrausch. Aber es gibt eben auch inzwischen eine erhebliche Menge von Menschen, die in dieser Krise gewachsen sind und die in dieser Krise auch letzten Endes gemerkt haben, dass es bei Zukunft nicht so sehr um Prophezeiung geht, sondern um Entscheidung. Man muss sich auch etwas entscheiden für eine Zukunft, die vielleicht besser wird, und da sind die großen Fragen der Gesellschaft auf dem Tisch: Wie machen wir das mit einer postfossilen Gesellschaft? Wie können wir andere Gesundheitssysteme entwickeln, die vielleicht ein bisschen resilienter sind? Im Grunde genommen geht es ja darum, zu sagen, okay, die Möglichkeiten dafür sind da, und ich aber als Mensch, kann ich jetzt dauernd darüber jammern und schimpfen, dass alles immer schlimmer wird. Ich glaube nicht, dass es schlimmer geworden ist.
Illustration von klatschenden Händen
Solidarität - Soziologe Jürgen Prott sucht gesellschaftlichen Kitt
Welchen Stellenwert und welche Funktion hat Solidarität in einer Gesellschaft, die eher den persönlichen Ehrgeiz und Erfolg wertschätzt? Dem geht der Gewerkschaftssoziologe Jürgen Prott auf den Grund – in seinem Buch "Konfliktfall Solidarität".

"Wir haben in einer Welt der Überbeschleunigung gelebt"

May: Woran machen Sie das fest, dass es nicht schlimmer geworden ist?
Horx: Ja, das hab ich Ihnen ja jetzt gerade gesagt. Also das, was wir sehen in den Umfragen, ist auch, es gibt zum Beispiel eine satte Zahl von 60 bis 70 Prozent von Menschen, die sagen, wir haben in dieser Krise etwas erlebt mit uns selbst und für uns selbst und mit unseren Nächsten, das wir nicht vermissen wollen. Diese Nachdenklichkeit, die ist natürlich jetzt in der zweiten Phase, wo es noch mal sehr, sehr schwierig wird, noch mal größer geworden. Wie gesagt, das übersetzt sich nicht immer in alles, aber es ist nicht die Frage der Heilserwartung, sondern es ist die Frage, ob eine Gesellschaft der neuen Realität sich stellt. Diese neue Realität ist ja, dass wir in einer Welt der Überbeschleunigung gelebt haben, vorher schon, die wir gar nicht einhalten konnten. Immer mehr Flugzeuge am Himmel, immer mehr Kreuzschifffahrten, und diese Unterbrechung, dieser Stopp, diese Disruption, die ist natürlich auch etwas, was uns auf die Zukunft hinweist, also auf eine Welt, in der wir vielleicht ein bisschen anders konsumieren, in der wir anders mit uns selbst, mit der Gesellschaft umgehen, in der wir nicht immer wütend aufeinander einfahren. Und zum Beispiel das mit dem Populismus: Ich bin in der Tat überzeugt davon, dass der Populismus in seiner reinen Wutform und Zerstörung sich auch sichtbar gemacht hat. Selbst dass Trump abgewählt worden ist, obwohl er ja immer noch so viele Wähler hat, zeigt das ja, und wie sich die AfD hier zersägt. Der Populismus zum Beispiel hat eine ganz andere Bedeutung in einer Krise, wo wir doch aufeinander angewiesen sind und nicht auf den Hass und die Spaltung und die Wut.
May: Und dennoch haben Verschwörungstheoretiker beispielsweise Hochkonjunktur in diesen Zeiten, wie passt das zusammen?
Horx: Ja, wie meinen Sie das? Ich meine, es gibt immer Menschen, die es nicht aushalten, die durchdrehen. Es gibt immer Menschen, die uns ans Leder wollen, es wird auch immer Terrorismus geben, aber ist das die Welt? Es ist doch auch so, dass gerade die Medien uns dazu zwingen, immer auf das Negative zu starren, also nur auf das, was nicht funktioniert, und es dadurch natürlich auch verstärken und vergrößern. Könnten wir nicht auch ein bisschen mehr so Zukunftsselbstbewusstsein haben und sagen, das ist nicht alles, sondern das ist natürlich das, was uns auch herausfordern kann, andere Wege zu gehen?

"Es zeigt sich eben, welche Arten von Umgang funktionieren können"

May: Jetzt gibt es Gesellschaften, die diese Pandemie allerdings durchgehend besser bewältigt haben als die, zum Beispiel in Deutschland, als die des Westens, asiatische Gesellschaften fast durchweg etwa, Korea, Taiwan, Japan, alles auch Demokratien. Teilweise sind die ganz ohne Lockdown ausgekommen und haben trotzdem kaum Fälle. Ich weiß gar nicht, ob es da überhaupt Querdenker gibt. Worin sind diese Gesellschaften uns möglicherweise voraus? Sind sie möglicherweise schon da angekommen, wo wir noch hin wollen?
Horx: Ja, sie haben eine bestimmte Form der Kohärenz entwickelt, die auch ein bisschen eine historische Ausnahmesituation ist – das Beispiel Neuseeland. Im Grunde genommen gibt es so eine Grundregel: Man kann sehen, dass kleine Länder, wenn wir jetzt mal von den eher westlichen oder demokratischen Strukturen ausgehen, kleine Länder, die durch Frauen regiert wurden, sind am besten durch die Krise gekommen, weil dort eine hohe gesellschaftliche Kohärenz entstanden ist, eine Solidarität. Neuseeland hat dann auch noch einen Riesenterroranschlag gehabt und verdauen müssen. Und diese Art, das ist natürlich etwas, was wir als Deutsche gar nicht hinbekommen können, weil unsere Gesellschaft ist sehr, sehr groß und vielfältig und auch divers.
May: Aber wir werden von einer Frau regiert, die allerdings wenig zu sagen hat möglicherweise.
Horx: Sie haben ja auch gesehen, wie wir das zu schätzen gewusst haben. Aber ich glaube, dass diese Erfahrungen eben auch Weichen in die Zukunft stellen. Es zeigt sich eben, welche Arten von Umgang können funktionieren und welche nicht in diesen Bedrohungssituationen. Das heißt natürlich auch, dass diese Gesellschaften dann in Zukunft Vorteile haben, dass vielleicht auch ihr Beispiel sich ein Stückchen weit verbreitet. Es ist eben so, solange wir als Menschheit, als Gesellschaften noch lernen, solange wir noch Fragen stellen nach einer besseren Zukunft, ich glaube, solange kann die Zukunft ja auch überhaupt entstehen als eine Möglichkeit. Sonst schmeißen wir nur die Flinte ins Korn, und dann haben wir diesen apokalyptischen Diskurs, den wir ja in vielen Talkshows immer auch gehabt haben: Ja, die Welt geht unter, ist sowieso zu spät, und es gibt immer mehr Verrückte. Aber vielleicht gibt es gar nicht mehr Verrückte, sondern die sind nur lauter und mehr wahrnehmbar, und ich glaube, dass es auch in Korea Verrückte gibt, die haben nur nicht so viel zu sagen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.