"Das Land, in dem wir leben wollen" ist, das sei gleich vorweg gesagt, kein einfaches Buch. Keines, das man zur Hand nimmt, wenn man zwischendurch ein paar Minuten Zerstreuung sucht. Denn auch wenn die Autorin, die Soziologin Jutta Allmendinger, im Vorwort schreibt, es sei ein Lesebuch geworden, weil sie weitgehend auf theoretische und methodische Ausführungen verzichtet habe, so muss sich der Leser doch bewusst sein, dass die Grundlage für dieses Buch eine wissenschaftliche Untersuchung war und die Autorin, die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung, letztlich eben doch erst einmal viel zu Ausgangsideen, Grundlagen und Aufbau erklären muss, bevor sie die Ergebnisse präsentiert.
Lohn für Lesearbeit
Der Leser jedoch, der sich davon nicht verschrecken lässt, wird reich belohnt. Das Besondere an der Studie ist, dass die Fragenden nämlich nicht nur die heutigen Einstellungen ihrer Gesprächspartner abfragen wollten, sie wollten auch wissen: Was würden sie zukünftigen Generationen raten? Würden sie ihren Kindern und Enkeln also empfehlen, es genauso zu machen wie sie selbst im Hier und Jetzt? Daraus lasse sich ablesen, sagt Allmendinger, "ob sie im Moment mit ihrem eigenen Handeln zufrieden oder unzufrieden sind."
Anschließend wurde dieser Wunsch abgeglichen mit der Erwartung an die Zukunft:
"Und diese andere Sicht ist die Sicht, was sie im Moment bei anderen wahrnehmen und das dann extrapolieren in die Zukunft."
Gesellschaftliche Einigkeit
Wie wichtig sind Kinder, wie wichtig, die Erwartungen der Familie zu erfüllen? Sollten sich Menschen mit Geld eine bessere Behandlung kaufen können? Welche Rolle spielt Technik, welche Religion? Wie interessiert sind die Menschen an Politik und Kultur?
Mehr als 3.100 Menschen im Alter zwischen 14 und 80 Jahren wurden im Herbst 2015 in ganz Deutschland für die Studie befragt, deren Ergebnisse zuerst als Serie in der Wochenzeitung "Die Zeit" erschienen sind.
Dabei stellte sich heraus: Es gibt Themen, bei denen sich kaum Unterschiede zeigen, über alle Bildungs-, Einkommens-, Geschlechter- und Herkunftsgrenzen hinweg. Bei der Frage, "Was ist Ihnen heute wichtig" zeigte sich, dass drei Themen für die Befragten einen besonders hohen Stellenwert haben: Zusammengehörigkeit, Gesundheit und Erwerbstätigkeit.
Ungefähr 90 Prozent stimmten zu, niemand hielt dagegen. Wenig überraschend beim Thema Zusammenhalt - beim Thema Erwerbsarbeit schon, gibt Jutta Allmendinger zu:
"Nicht nur eine Wichtigkeit im jetzigen Leben, also, wie wichtig ist ihnen heute die Erwerbstätigkeit, wo sich die 14-Jährigen in gar keiner Weise unterscheiden von den 65-Jährigen. Und auch die 80-Jährigen sagen, das ist auf alle Fälle wichtig. Dann meinen Sie es natürlich retrospektiv. Sondern auch in dem, was sie der nächsten Generation weitergeben würden. Da passt überhaupt kein Blatt dazwischen."
Die Bedeutung der Arbeit
Dabei gehe es längst nicht nur darum, ein gutes Einkommen zu haben:
"Wir hatten auch eine Frage drin: 'Wenn Sie das Einkommen gar nicht bräuchten, wären Sie dann auch erwerbstätig?' Und dann sagen die 'auf alle Fälle', das sind über 60 Prozent, 'natürlich'. Das sind dann andere Stundenzahlen, aber Erwerbstätigkeit als Ort der Nähe, des Nähefindens, des Austauschfindens und natürlich auch der Selbstentfaltung."
Soweit der Wunsch, das Vermächtnis. Was die Befragten für die Zukunft der Arbeit tatsächlich erwarten, sieht - wie bei vielen anderen Themen - weniger positiv aus:
"Die Zukunft der Arbeit wird anders sein, als man sich das wünscht. Weniger sicher, weniger kalkulierbar, weniger gut."
Das Ergebnis ist nicht nur in einem Wahljahr eine Aufforderung an die Politik, die Arbeitsbedingungen genau ins Auge zu nehmen und die Menschen beim Wandel der Arbeitswelt nicht alleine zu lassen, fordert Jutta Allmendinger. Es sollte auch Einfluss darauf haben, wie über das Thema bedingungsloses Grundeinkommen diskutiert werde. Denn das dürfe nicht als reine Alimentierung gedacht werden, wenn durch technische Veränderungen Jobs entfallen.
Erwartungen an die Zukunft
Auch wenn viele Ergebnisse nicht überraschend sind, andere, frühere Befragungen Ähnliches zutage gefördert haben, und man auch bei manchen Schlussfolgerungen und daraus abgeleiteten politischen Empfehlungen anderer Ansicht sein kann: "Das Land, in dem wir leben wollen" ist eine höchst empfehlenswerte Lektüre für jene, die die politischen Rahmenbedingungen für die Zukunft abstecken. Aber auch für diejenigen, die meinen, sie allein wüssten, was das Volk will und was für eine Zukunft sich die Menschen wünschen.
Denn auch das zeigt das Buch. Bei manchen Themen weichen die Vorstellungen, Wünsche und Erwartungen stark voneinander ab, je nachdem, ob der Befragte arm, wohlhabend, gebildet, ungebildet, alt ist oder jung, selbst nach Deutschland eingewandert ist, oder eine familiäre Migrationsgeschichte hat.
Wie äußere Faktoren Erwartungen an die Zukunft beeinflussen können, lässt sich eindrucksvoll beim Thema Zusammenhalt beobachten, beim Wir-Gefühl - einem der drei Themen, die über 90 Prozent der Befragten als sehr wichtig angegeben haben. Die Erstbefragung 2015 zeigte:
"Dass gerade Personengruppen, denen es am schlechtesten im Arbeitsmarkt geht, Personen der ersten Migrantengeneration, jene, die nicht in Deutschland geboren sind, auf diese Frage ‘Wie wird es denn tatsächlich sein in Zukunft‘ am optimistischsten geantwortet haben. Sie ertragen im Prinzip eine prekäre Situation, in der sie im Moment sind, dadurch, dass sie positive Zukunftsentwürfe haben, wo sie denken: Da komme ich auch mal hin."
Nachbefragung nach der Flüchtlingskrise
Daraus entfalte sich eine integrative Kraft, schlossen die Autoren. Kaum aber waren die Befragungen für die Studie beendet, stiegen die Flüchtlingszahlen in Deutschland rasant an, spaltete das "Wir schaffen das" der Kanzlerin das Land.
Das Team habe sich in der Folge gefragt, schreibt Jutta Allmendinger, ob die Ergebnisse unter diesen Bedingungen noch etwas wert seien, oder schon veraltet. Deshalb entschied man sich bereits ein Jahr später für eine Nachbefragung:
"Als wir die Ergebnisse der Befragung 2016 auswerteten, mussten wir feststellen, dass den Menschen ein Wir-Gefühl nun weniger wichtig ist. Allerdings gilt dies fast ausschließlich im Hier und Jetzt."
Der Rückgang liegt, schreibt Allmendinger, ausschließlich an einer Gruppe: den Menschen mit eigener Migrationserfahrung.
"Sie sehen, wie zweischneidig das Wir-Gefühl sein kann, erfahren die hässliche Variante, die sie ausschließt, und reagieren auf ihre Weise: Sie ziehen sich zurück, erklären die Zugehörigkeit für nicht mehr so wichtig und schützen sich dadurch, so gut sie können."
Immerhin, auch das hat die Nachbefragung gezeigt: Gaben 2015 vor allem jüngere Menschen an, Interesse an Politik und Kultur sei zwar wichtig, auch in Zukunft, sie selber interessierten sich dafür aber eher weniger, so hatte sich diese Einstellung und Erwartung an die Zukunft bei ihnen 2016 etwas verändert. Zum Positiven.
Jutta Allmendinger: "Das Land, in dem wir leben wollen. Wie die Deutschen sich ihre Zukunft vorstellen"
Pantheon Verlag, 272 Seiten, 16,99 Euro.
Pantheon Verlag, 272 Seiten, 16,99 Euro.