Prekäre Zukunft
Gesellschaftlicher Zusammenhalt in Zeiten der Verluste

Brücken stürzen ein, viele Kommunen werden von ihren Aufgaben erdrückt, eine Wirtschaft im Abschwung, die Folgen des Klimawandels werden spürbar, von der Politik ganz zu schweigen. Man hat den Eindruck: Es geht bergab.

Von Jens Beckert |
Blühende Gänsefingerkrautpflanze in ausgetrocknetem Boden, Deutschland.
Immer dramatischer zeigt sich, dass wirtschaftlicher Erfolg, was ja die vielleicht zentrale Essenz des Fortschrittsparadigmas ist, die natürlichen Lebensgrundlagen zerstört, ohne die aber weder Wachstum noch Fortschritt möglich sind (IMAGO / blickwinkel / IMAGO / R. Rebmann)
Gesellschaften wie unsere müssen sich auf zunehmende Verluste einstellen. Die zentrale Erfahrung dabei ist der Verlust von Vorstellungen einer besseren Zukunft. Diese Vorstellungen prägen das Leben in der Moderne, sie reichen von der Wachstumslogik des Wirtschaftens bis hin zur Steigerung des guten Lebens. 
An den Folgen des Klimawandels zeigt sich derzeit am deutlichsten, dass die Vorstellung einer besseren Zukunft porös geworden ist. 
Jens Beckert lehrt Soziologie an der Universität Köln und ist Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung. Seine Schwerpunkte sind die soziale Einbettung der Wirtschaft, die Soziologie des Marktes sowie die Klimasoziologie. Für seine Forschungen erhielt Jens Beckert 2018 den Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis. Mit „Imaginierte Zukunft: Fiktionale Erwartungen und die Dynamik des Kapitalismus“ hat er im selben Jahr ein wichtiges Grundlagenwerk vorgelegt. Sein jüngstes Buch „Verkaufte Zukunft – Warum der Kampf gegen den Klimawandel zu scheitern droht“ (2024) war nominiert für den Deutschen Sachbuchpreis und den Preis der Leipziger Buchmesse. 

2019 veröffentlichte die Zeitschrift The New Yorker einen bemerkenswerten Aufsatz. Unter dem Titel „Was, wenn wir aufhörten, uns etwas vorzumachen“ schrieb der Schriftsteller Jonathan Franzen über den Klimawandel und den möglichen Umgang damit. Franzen fasste kurz den Stand des Wissens zum Klimawandel und der viel zu kurz greifenden Reaktionen darauf zusammen. Die Welt steuere, so seine nüchterne Betrachtung, auf weitere bedeutende Klimaerwärmung zu. Doch anstelle eines flammenden Plädoyers, mit welchen einschneidenden Maßnahmen sich das Ruder doch noch herumreißen ließe, warb Franzen für etwas ganz anderes: Er warb dafür, die Unaufhaltsamkeit des Klimawandels anzuerkennen und zum Ausgangspunkt allen weiteren Nachdenkens und Handelns in der Klimakrise zu machen.
Franzen bekam für seinen Artikel viele verärgerte Reaktionen. 2019 stand die Klimabewegung auf ihrem Höhepunkt. Und auch wenn Klimaaktivisten immer wieder die Dramatik des Klimawandels beschworen, durfte der Kampf dagegen doch auf keinen Fall als verloren erscheinen. Würde man zu pessimistisch sein, mache sich unter den Menschen Hoffnungslosigkeit breit, und man könne sie nicht mehr zum Engagement gegen den Klimawandel motivieren. Dann aber würden die Warnungen der Wissenschaft erst recht folgenlos verpuffen. Der Kampf gegen den Klimawandel müsse vielmehr mit einer bestimmten Pädagogik geführt werden, der zufolge die Lage zwar sehr ernst sei, aber doch noch zu bewältigen, wenn nur möglichst viele Menschen die Ernsthaftigkeit erkennen und dann auch entsprechend handeln. Bis heute lässt sich diese rhetorische Figur nicht nur in den Erzählungen der Protagonisten der Klimabewegung finden, sondern auch in den meisten Büchern, Sendungen oder Ausstellungen zum Klimawandel. Die Rhetorik hat zugleich etwas Aufrüttelndes, indem der Ernst der Lage klar benannt wird, und etwas Beruhigendes, weil das gute Ende der Geschichte doch als Möglichkeit am Horizont aufscheint.
Was aber, wenn wir aufhörten, uns diese Heldengeschichte zu erzählen, wonach der in schier aussichtloser Lage kämpfende, meist mit dem Personalpronomen „wir“ versehene Held, zum Schluss doch noch gegen alle Widrigkeiten den Kampf gegen die Naturzerstörung gewinnt? Es ist diese Frage, die Jonathan Franzen aufwirft. Die aufgebrachten Reaktionen auf Franzens Artikel lassen sich verstehen. Denn plötzlich fehlt das Beruhigende, das in der üblicherweise erzählten Heldengeschichte immer mitschwingt. Wenn die Erzählung ohne das Elixier eines doch noch zu erreichenden Happy Ends auskommen muss, wird die Aufmerksamkeit in ganz anderer Weise auf die Bedrohlichkeit der Situation gelenkt. Genommen wird die ja auch bequeme Zuversicht des geflügelten Hölderlin-Worts, dass mit der Gefahr auch das Rettende schon irgendwie wachsen wird.
Franzens Absicht ist nicht, seine Leser zu verärgern. Vielmehr geht es ihm darum, neue Perspektiven zu öffnen, indem er auffordert, einen leichtfertigen Optimismus ad acta zu legen.  Erkennt man den Klimawandel erst einmal als unausweichlichen Tatbestand an, lässt sich auch fragen, wie Gesellschaften besser oder schlechter mit der heraufziehenden Wirklichkeit umgehen und wie sie sich darauf vorbereiten können. Die sich eröffnende Perspektive ist möglicherweise fruchtbar, weil sie uns hilft, den Herausforderungen klarer ins Auge zu sehen und besser darauf zu reagieren. Was geschieht mit einer Gesellschaft, die sich mit sehr grundlegenden Verlusten auseinandersetzen muss?
Heute gilt, dass je drängender sich die Fragen nach den Folgen einer stetig voranschreitenden Klimakrise für die Gesellschaft und deren Zusammenhalt stellen, desto mehr werden sie verdrängt. Ins Bewusstsein gelangen sie vornehmlich kurzfristig im Angesicht sich ereignender Naturkatastrophen, die für die direkt Betroffenen existentielle Verluste bedeuten und durch mediale Berichterstattung für ein globales Publikum miterlebbar werden. Die Ereignisse haben eine schockierende Dramatik. Bei den großflächigen Bränden in Los Angeles Anfang 2025 wurden 16.000 Häuser zerstört, ganze Stadtteile wurden vom Feuer binnen Stunden ausradiert und damit das Zuhause zehntausender Menschen. 29 Menschen starben in den Flammen, und über mehrere Wochen war die Stadt durch den Rauch und die Möglichkeit immer neu aufflammender Brände buchstäblich außer Atem. Zugleich bangte eine Weltöffentlichkeit an den Bildschirmen mit den Betroffenen und konnte anhand von Videos der Feuerbrünste, völlig zerstörter Straßenzüge und verzweifelter Bewohner die Verluste miterleben. Nur wenige Monate zuvor waren über 200 Menschen vornehmlich im westlichen North Carolina gestorben als der Hurrikan Helene zu gewaltigen Überschwemmungen führte und zwar in einer Region, in die zuvor viele Menschen gezogen waren, weil sie sich dort vor den zunehmenden Verwüstungen der Wirbelstürme an den Küsten von Florida sicher fühlten. Videos aus dem Katastrophengebiet zeigten, wie ganze Häuser von den Wassermassen in Orten wie Swannanoa mitgerissen wurden.
In Deutschland starben an Ahr und Erft im Sommer 2021 mehr als 130 Menschen nach einem Starkregenereignis. Bis heute sind viele Menschen in der Region von ihren Erlebnissen traumatisiert. Doch es sind nicht nur Brände und Starkregen, die zu Verlusten führen. 2022 hat der extrem heiße Sommer geschätzte 68.000 Menschen in Europa das Leben gekostet. Diese Aufreihung von Verlusten ließe sich beinahe beliebig fortsetzen. Jeden Tag muss man damit rechnen, von dem nächsten zerstörerischen Naturereignis zu erfahren.
Natürlich muss auch gesagt werden, dass sich nicht alle diese Ereignisse auf den Klimawandel zurückführen lassen. Naturkatastrophen waren schon immer Teil der menschlichen Zivilisationsgeschichte. Doch klar ist, dass sich Extremwetterereignisse aufgrund des Klimawandels mehren und dass sie folgenreicher werden. Die Attributionsforschung der Klimawissenschaften zeigt den sich verstärkenden Zusammenhang zwischen Klimaerwärmung und Häufigkeit sowie der Intensität von einzelnen Extremwetterereignissen. Die Statistiken der Schadensbilanzen offenbaren die steigenden materiellen Verluste. In Los Angeles werden für die versicherten Schäden an Gebäuden 35 Milliarden Dollar angesetzt, für die ökonomischen Verluste insgesamt noch weitere 100 Milliarden Dollar. Das Hochwasser an Ahr und Erft hat geschätzt Schäden in Höhe von 30 Milliarden Euro verursacht. Bis zum Ende der Dekade werden globale Klimaschäden von jährlich einer Billion Dollar erwartet, mit auch danach weiter steigender Tendenz. Allein für Deutschland rechnet die Bundesregierung mit Kosten durch Klimaschäden zwischen 280 Milliarden und 900 Milliarden Euro bis Mitte des Jahrhunderts.
Wirtschaftliche Verluste entstehen dabei nicht nur durch erlittene Schäden, sondern auch durch erhöhte Risiken. Mit dem Klimawandel steigt die Schadenswahrscheinlichkeit etwa durch Überschwemmungen oder Feuer, was zur Erhöhung von Versicherungsprämien oder sogar zur Nichtversicherbarkeit von Gebäuden führt. Steigende Versicherungsprämien verringern den Wert von Immobilien und führen so zu Verlusten, ohne dass irgendein direkter materieller Schaden eingetreten wäre. Und Verluste entstehen auch durch die Maßnahmen, die gegen den Klimawandel ergriffen werden: sei es, dass gut funktionierende Geschäftsmodelle, wie etwa die Herstellung von Autos mit Verbrennungsmotoren abgewickelt werden, sei es, dass Konsum eingeschränkt werden müsste. Mit der Abschreibung der fossilen Energiewirtschaft, gehen bis 2050, so die Schätzung, 13 - 17 Billionen Dollar an Investitionen in diesem Sektor als sogenannte versunkene Kosten verloren. Und mit der Notwendigkeit der Reduzierung des CO2-Ausstoßes gehen auch konsumbestimmte Lebensformen verloren. Zumindest werden solche Lebensformen moralisch fragwürdig und gesellschaftlich umkämpft. Darf man noch Skifahren gehen? Soll das Urlaubsziel mit dem Flugzeug erreicht werden? Kann man den Superreichen ihre Superyachten verbieten?
Verloren gehen in all den Ereignissen und Bedrohungen nicht nur Häuser, Autos, Mobiliar, ökonomischer Wert und die Unschuld etablierter Konsumpraktiken, sondern auch ein existentielles Gefühl der Zukunftssicherheit. Tatsächliche und drohende Verluste rücken immer stärker in den Erfahrungs- und Erwartungshorizont von Gesellschaften. Die Verunsicherung wird dadurch noch verstärkt, dass die Bedrohung bei weitem nicht nur von der instabiler werdenden natürlichen Umwelt herrührt. Eine stagnierende Wirtschaft, eine instabiler werdende globale Sicherheitsarchitektur, demographischer Wandel, die Bedrohung politischer Liberalität oder rasanter technologischer und kultureller Wandel tragen alle zur Wahrnehmung einer prekärer werdenden und durch Verluste bedrohten Zukunft bei. Was macht es mit Gesellschaften, wenn sie sich zunehmend mit Verlusten auseinandersetzen müssen? Und wie reagieren sie darauf? Möglicherweise sind dies entscheidende Fragen für die nächsten Jahrzehnte.
Seit der Aufklärung ist „Fortschritt“ das vermutlich zentrale Narrativ der Identität zumindest der westlichen Gesellschaften. Fortschritt ist eine teleologische Erzählung einer besseren Zukunft, wobei dieses „besser“ verschiedene Dimensionen umfasst. Die Erzählung schließt technologischen Fortschritt durch rationale Wissenschaft, den Zugewinn an individueller Freiheit, die Überwindung zumindest der ärgsten Formen sozialer Ungleichheit und eine Reduzierung elementarer Unsicherheiten ein, wie sie aus Krankheiten, Missernten oder auch gewaltsamen Konflikten entstehen.
Ganz sicher gehört zu der Erzählung des Fortschritts auch die Vorstellung einer anhaltenden Steigerung wirtschaftlichen Wohlstands und deren tatsächliche Realisierung. Die Bedeutung dessen kann besonders gut ermessen werden, wenn man auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts blickt. Bis zur Mitte des Jahrhunderts waren europäische und auch die nordamerikanischen Gesellschaften durch erhebliche Klassenkonflikte geprägt, die sich teils gewaltsam entluden und zu epochalen politischen Verwerfungen führten. Erst durch das hohe Wirtschaftswachstum während der Nachkriegsjahrzehnte wurden diese Klassenkonflikte befriedet. Der schnell wachsende wirtschaftliche Wohlstand führte zu erheblichen Verbesserungen des Lebens breiter Bevölkerungsteile. Die Menschen zogen in Wohnungen mit Zentralheizung und Warmwasserversorgung, sie hatten Waschmaschinen, konnten sich ein Auto leisten und fuhren im Urlaub ins Ausland. Sie konnten mit ihrem Leben zufrieden sein und hoffen, dass es immer so weiter gehen würde.
Für die Befriedung gesellschaftlicher Konflikte spielt dabei nicht nur der tatsächliche Zuwachs an Wohlstand eine Rolle, sondern gerade auch die Erwartung, dass es zukünftig weiter aufwärts gehen wird. Wer zuversichtlich ist, dass auch er bald an der Reihe sein wird für ein besseres Leben, kann noch ein wenig warten. Zum Ausdruck kommt diese Bedeutung von Zukunftsversprechen besonders klar in dem Begriff des „American Dream“, der ja nicht auf gegenwärtigen, sondern auf erreichbaren zukünftigen Wohlstand hinweist.
Jedenfalls als Versprechen wurde zunehmender Wohlstand auch für die Entwicklungsländer relevant, denen seit den 1940er Jahren von Entwicklungsökonomen sowohl Demokratisierung als auch wirtschaftlicher Aufschwung vorausgesagt wurde. Zwar stimmt es, dass sich viele Länder nicht aus ihrer Armut befreien konnten, doch einigen gelang dies, am spektakulärsten natürlich China, dessen hohe Wachstumsraten während der letzten Jahrzehnte hunderte Millionen Menschen aus der Armut führten. Und auch in vielen anderen Ländern hegen die Menschen die Hoffnung auf Fortschritt weiter.
Für viele Menschen erscheint dieser im Prinzip optimistische Zukunftsblick heute jedoch zunehmend versperrt. So gingen die Wachstumsraten der Wirtschaft während der letzten Jahrzehnte immer weiter zurück. Damit sinken die Verteilungsspielräume in der Gesellschaft. Zu erkennen ist dies auch an der steigenden sozialen Ungleichheit und dem Rückgang sozialer Mobilität verglichen mit den Nachkriegsjahrzehnten. Als Folge sehen viele Menschen nicht eine bessere Zukunft vor sich, die sie hoffnungsvoll erwarten, sondern fühlen sich von der Zukunft bedroht. Junge Menschen verlieren den Glauben, einmal den Lebensstandard ihrer Eltern erreichen zu können. Die Älteren fürchten um ihre Renten und ihre soziale Teilhabe oder auch um die Zukunft ihres Dorfes. Der rapide technologische Wandel führt außerdem zu erheblicher Unsicherheit hinsichtlich der Stabilität von Arbeitsplätzen und gewohnter Praktiken der Lebensführung. Nicht zufällig hat der Berliner Soziologe Andreas Reckwitz dem Thema des Verlustes ein ganzes zeitdiagnostisches Buch gewidmet.
Eine besondere Bedrohung der Fortschrittserzählung geht aber vom Klimawandel aus. Denn hier offenbart sich ein schier unlösbares Dilemma. Immer dramatischer zeigt sich, dass wirtschaftlicher Erfolg, was ja die vielleicht zentrale Essenz des Fortschrittsparadigmas ist, die natürlichen Lebensgrundlagen zerstört, ohne die aber weder Wachstum noch Fortschritt möglich sind. Immer stärker begegnet uns wirtschaftlicher Forstschritt als Verlust der Stabilität der natürlichen Umwelt und ist entsprechend gar kein Fortschritt.
Dieses Dilemma lässt auch ein weiteres Fortschrittsversprechen brüchig werden: die Vorstellung zunehmender Kontrolle und unbegrenzter Dienstbarmachung natürlicher Prozesse mittels Technik und Wissenschaft. Die uferlose technische Verfügung über Natur schlägt gewissermaßen zurück in Form von nicht intendierten Folgeschäden, die sich zu immer höheren Bergen auftürmen. Überall geht die Ausdehnung wirtschaftlichen Wohlstands mit der rasanten Steigerung des Energieverbrauchs einher und damit auch mit der wachsenden Emission von Treibhausgasen, die den Klimawandel befeuern. Solange Energie zu fast 85 Prozent aus fossilen Energieträgern gewonnen wird, sägt Wirtschaftswachstum buchstäblich den Ast ab, auf dem wir alle sitzen. Dazu tragen auch die anderen Umweltkrisen bei, insbesondere die Bedrohung der Artenvielfalt, die eng mit dem Klimawandel und der Ausweitung der wirtschaftlichen Nutzbarmachung von Natur verbunden ist. Der Verlust an Natur wird auch zum Verlust für uns Menschen, weil wir für unser Leben auf andere Lebewesen angewiesen sind.
Die erzählte Erlösungsgeschichte, die uns aus diesem Dilemma herausführen soll, heißt „grünes Wachstum“, also die Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Treibhausgasemissionen. Durch die Transformation der Energiesysteme soll es zukünftig möglich sein, weiteres Wirtschaftswachstum zu erreichen ohne schädliche Treibhausgase an die Atmosphäre abzugeben. Und tatsächlich werden Wind- und Solarenergie in vielen Teilen der Welt rapide ausgebaut. Einmal mehr, so könnte man meinen, zieht sich die kapitalistische Moderne am eigenen Schopf aus dem Sumpf. Eine Heldengeschichte mit Happy End.
Doch diesen Optimismus muss man nicht teilen. Auch mehr als drei Jahrzehnte nach der ersten Weltklimakonferenz in Rio de Janeiro steigen die weltweiten Treibhausgasemissionen weiterhin an. Sie haben sich seitdem sogar beinahe verdoppelt. Die Internationale Energieagentur geht auf Grundlage der von den Staaten gemachten Klimaschutzzusagen davon aus, dass auch in der Mitte des Jahrhunderts die energiebedingten Treibhausgasemissionen um nur etwa 20 Prozent geringer ausfallen werden als heute. Der Grund ist klar: Solange es weiteres globales Wirtschaftswachstum und neue Quellen erheblichen Energiebedarfs gibt, etwa für die neuen Rechenzentren der künstlichen Intelligenz oder für Klimaanlagen in Südasien, solange decken die erneuerbaren Energien in weiten Teilen nur diesen Mehrbedarf, und ersetzen die fossile Energie allenfalls in Teilen. Von net-zero kann keine Rede sein. Und selbst wenn eines Tages das fossile Zeitalter zu Ende gegangen sein wird, zerstört der immer uferlosere Ressourcenverbrauch einer wachsenden Wirtschaft die natürlichen Lebensgrundlagen doch weiter.
Und eine Abkehr vom Prinzip des Wachstums steht nirgends in Aussicht. Zwar halten vereinzelt Wissenschaftler und auch Umweltaktivisten geringeres Wachstum oder gar die Schrumpfung wirtschaftlicher Aktivitäten aus ökologischen Gründen für unabdingbar, doch politisch bedeutsam oder gar wirklich wirksam ist dies nirgends. Weder Unternehmen, noch Politiker, noch Konsumenten wollen geringeren Wohlstand, der ja weniger Gewinne, weniger Steuereinnahmen und weniger Annehmlichkeiten bedeuten würde und in den Entwicklungsländern auch: mehr Hunger. Wenn es zur Entscheidung steht, dann optieren alle Gesellschaften für mehr Wohlstand und weniger Natur, selbst wenn diese Rechnung allenfalls kurzfristig aufgehen sollte. Der Verzicht auf Wachstum würde unsere Gesellschaft wirtschaftlich, politisch und sozial vor eine Zerreißprobe stellen, der gesellschaftliche Zusammenhalt würde zerrüttet durch unermessliche Verteilungskämpfe. Um dies zu verstehen, muss man nur auf die aufgeregten Diskussionen schauen, die das Nullwachstum der deutschen Wirtschaft in allen politischen Parteien hervorruft.
Und damit sind wir wieder bei Jonathan Franzen. Franzen geht ja davon aus, dass wir uns auch nicht mittels technologischer Entwicklungen vor weiterer Erderwärmung schützen können. Wir müssen vielmehr mit zunehmenden Verlusten rechnen, die die Klimaerwärmung mit sich bringen wird. Diese Einschätzung steht in völliger Übereinstimmung mit den Klimawissenschaften, die von einer Erhöhung der weltweiten Durchschnittstemperaturen von 2,5 bis 3 Grad Celsius bis zum Ende des Jahrhunderts ausgehen. Mit steigenden Schäden aus dem Klimawandel werden auch zunehmend Ressourcen gebunden, die für andere dringliche Aufgaben ebenfalls benötigt würden, weshalb die Erfahrung von Verlust letztendlich immer umfassender werden wird.
Natürlich gehören Verluste schon immer zu den Erfahrungen moderner Gesellschaften. Wirtschaftskrisen, Kriege und die Veränderung von Lebenswelten haben Menschen immer wieder getroffen. Doch dies waren jeweils singuläre Ereignisse, bei denen man trotz ihrer Heftigkeit hoffen konnte, dass sie auch wieder vorbei gehen und der Pfad des Fortschritts dann wieder aufgenommen werden würde. Klimawandel ist hingegen eine Bedrohung, die langsam voranrückt und sich dabei stetig ausweitet, und so Verluste immer weiter in die Zukunft fortschreibt.
Was aber bedeutet die zunehmende Konfrontation von Gesellschaften mit solchen Verlusten für ihren sozialen Zusammenhalt? Angesichts der Bedeutung von Vorstellungen zukünftiger Verbesserungen für die soziale Integration von modernen Gesellschaften, sind die Konsequenzen wohl erheblich. Vor einigen Jahren hat der Autor und Historiker Mike Davis ein Szenario beschrieben, das zeigt, wie klimabedingte Verluste einen Keil in die Gesellschaft treiben können:
„Anstatt kühne Innovationen und internationale Zusammenarbeit zu beflügeln, könnten wachsende ökologische und sozioökonomische Verwerfungen einfach dazu führen, dass die Eliten noch fieberhafter nach Wegen suchen, sich vom Rest der Menschheit abzuschotten. In diesem wenig erkundeten, aber nicht unwahrscheinlichen Szenario würde eine globale Schadensbegrenzung stillschweigend aufgegeben [...] zugunsten von forcierten Investitionen in eine selektive Anpassung der First-Class-Passagiere der Erde. Das Ziel wäre die Schaffung von grünen, eingezäunten Oasen des permanenten Wohlstands auf einem ansonsten leidgeprüften Planeten.”
Solche Entwicklungen der sozialen Spaltung lassen sich durchaus schon jetzt beobachten. Die Betroffenheit von klimabedingten Schäden ist bei ärmeren Menschen höher, was sowohl global als auch innerhalb der reichen Länder des Nordens gilt. Und die Reichen treffen für sich selbst private Vorkehrungen, die nur ihnen möglich sind. Sei es durch die aufwändige Sicherung ihrer Häuser, oder den Erwerb von Landbesitz in vorgeblich vor den Folgen des Klimawandels gefeiten Gebieten, bis hin zu Fantasien einer Besiedelung anderer Planeten, auf die sie ausweichen wollen, nachdem die Erde auch für sie zu unwirtlich geworden sein wird.
Durchaus lässt sich bereits heute beobachten, wie die Betroffenheit von Verlusten Konflikte befördert. Nach den Feuern in Los Angeles und der Hochwasserkatastrophe im Süden Spaniens im Herbst 2024 richtete sich die Wut vieler Betroffener gegen den aus ihrer Sicht unzureichenden staatlichen Schutz und die mangelnde Unterstützung, die sie in der Notsituation erhielten. Abgesehen von solchen konkreten Verlusterfahrungen in Katastrophensituationen, lassen sich die Konfliktpotentiale drohender Verluste aus der Klimapolitik erkennen: In Deutschland etwa bei den politischen Querelen um das Heizungsgesetz, bei denen es um die Kosten der Wärmewende ging; in Frankreich bei den Protesten der Gelbwestenbewegung, die sich an der Erhöhung der Benzinpreise aus Gründen des Klimaschutzes entzündeten; in den Niederlanden an dem Widerstand der Bauern, die sich gegen die Verringerung des Tierbestandes stemmten. In verschiedenen Ausprägungen geht es bei all diesen Auseinandersetzungen um das Abwenden drohender Verluste. Politisch führten diese Konflikte in allen Ländern zu erheblicher Polarisierung und gaben populistischen Bewegungen Auftrieb. Der Erfolg solcher Gruppierungen während des letzten Jahrzehnts ist sicherlich nicht allein auf die Bedrohung durch den Klimawandel und Politiken des Klimaschutzes zurückzuführen, wohl aber darauf, dass drohende Verluste sich in den Vordergrund gesellschaftlicher Erfahrungen drängen: Viele Menschen sehen sich von Verlusten bedroht, weil sie an der Reichtumsentwicklung ihrer Gesellschaften nicht mehr teilhaben konnten oder sie sich mit ihren kulturellen Identitäten zunehmend ins Abseits gestellt sahen. Auch diese Erfahrungen von Verlusten erzeugen gesellschaftliche Spannungen.
Doch wie ließe sich darauf reagieren? Auch Jonathan Franzen teilt die Sichtweise der Gefahr sich ausweitender sozialer und politischer Konflikte angesichts sich vergrößernder Bedrohungen durch Verluste. Vor diesem Hintergrund fragt er, welche besseren Formen des Umgangs mit Verlusten denkbar sind und wie gesellschaftlicher Zusammenhalt unter Bedingungen der Ausbreitung von Verlusten erhalten bleiben könnte? Franzens Antwort besteht darin, das Augenmerk auf den sozialen Nahbereich zu legen, die Gemeinschaft vor Ort. Gestärkt werden müsse der soziale Zusammenhalt zwischen Menschen, die sich persönlich begegnen. Eine Art Notgemeinschaft müsse im lokalen Umfeld entstehen, in der auch Hilfe und Solidarität geübt werden könnten und zwar auch zwischen unterschiedlichen sozialen Gruppen. Weniger klimaschädliche Lebensformen wären ja auch viel lokaler organisiert. Unschwer lässt sich hierin eine Besinnung auf Stärken gerade der amerikanischen Gesellschaft erkennen. Psychologisch gesprochen ermöglichen soziale Räume im Lokalen und der persönlichen Nähe eher Erfahrungen der Selbstwirksamkeit, was Resignation und Fatalismus aufhält. Zugleich bedeutet Franzens Vorschlag auch einen Rückzug aus weiten Teilen des Raums des Politischen.
Nimmt man es ernst, der Heldengeschichte das Happy End zu nehmen, dann hieße dies anzuerkennen, dass Gesellschaften ihr zukünftiges Zusammenleben unter Bedingungen von Verlusten organisieren müssen. Und in Antwort hierauf wird die Stärkung des sozialen Nahbereichs allenfalls ein Aspekt sein, wenngleich ein sehr wichtiger. Die große gesellschaftspolitische Aufgabe wird darin bestehen, die Verluste zwischen den Mitgliedern der Gesellschaft so zu verteilen, dass alle daran mittragen und sie dadurch für jeden einzelnen eher tragbar sind. Denn die Konflikte in einer Gesellschaft, die nicht mehr Zuwächse verteilen kann, sondern Verlust organisieren muss, sind Verteilungskonflikte. Es bedürfte einer Stärkung solidarischer Organisationsformen und einer Orientierung an einem gemeinwohlorientierten Reichtum für alle, anstelle der privaten Bereicherung einiger.
Der Verlust der Vorstellung einer durch das „Mehr“ bestimmten Zukunft ist dabei möglicherweise der fundamentalste Verlust. Es handelt sich um eine radikale Abkehr von dem Ideal immer weiterer Wohlstandsmehrung, mit dem zumindest die westlichen Gesellschaften während der letzten 200 Jahre ihren sozialen Zusammenhalt hergestellt haben. In keiner Weise sind die Strukturen unseres Gesellschaftssystems auf eine solche Umkehr eingestellt: Weder die Wirtschaft, die auf ständiges Wachstum geeicht ist, noch die Politik, die eine prosperierende Wirtschaft für die Finanzierung ihrer Aufgaben und die Sicherung der Sozialsysteme benötigt, noch die Bürgerinnen und Bürger, für die immer neue Formen des Konsums ein zentraler Lebensinhalt sind.
Die Aufgabe wäre, Vorschläge zu sammeln, in welchen Formen der Organisation Gesellschaften mit Verlusten umgehen können, ohne dabei ihre eigene Stabilität zu verlieren. Und zwar als politikfähiges Programm. Eine stärkere Betonung des Lokalen und zwar durch strukturelle Umgestaltungen, die lokale Handlungsfähigkeit festigen, wäre ein wichtiger Baustein dafür. Die Förderung öffentlicher Infrastrukturen, deren Nutzen allen Bürgern zugute kommt, und von diesen als konkreter Beitrag zu ihrer Lebensqualität erfahren werden kann, ein weiterer. Institutionelle Strukturen, die auf Nachhaltigkeit setzen statt auf kurzfristigen Gewinn, gehörten auch dazu. Solche Veränderungen müssten sich gegen erhebliche Widerstände durchsetzen und erfordern einen Wandel von Strukturen. Ganz sicher gibt keine Garantie, dass es Gesellschaften gelingen wird, mit den erkennbaren Verlusten in einer guten Weise umzugehen. Wie dem auch sein mag, immer klarer wird, dass die eigentliche Herausforderung unserer Gesellschaften nicht mehr darin besteht, „das Mehr“ zu organisieren, sondern „das Weniger“, und zwar so, dass es für alle genug ist. Wie dies gelingen kann, ist die eigentliche Zukunftsfrage.