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Gesellschaftsforscher Streeck
Investitionsstau ist Ergebnis neoliberaler Politik

Weil der Staat in den vergangenen 30 Jahren zugunsten des Privatsektors gespart habe, leide heute die Infrastruktur, sagte der Soziologe Wolfgang Streeck im Dlf. Das müsse nun nachgeholt werden. Gleichzeitig hätten die Parteien der Mitte keine glaubwürdige Antwort auf die sich entwickelnden Probleme.

Wolfgang Streeck im Gespräch mit Jürgen Zurheide |
Ein Schild "Arbeiten im Brückenhohlkasten" auf der Leverkusener Autobahnbrücke über den Rhein
Seit Jahren für den Lkw-Verkehr gesperrt: Die Autobahnbrücke bei Leverkusen (dpa / Oliver Berg)
Die Infrastruktur in Deutschland ist in keinem guten Zustand. Angesichts des enormen Investitionsstaus stehen derzeit sogar Schuldenbremse und Schwarze Null zur Disposition. Eine Neuverschuldung des Staates sei jedoch an bestimmte Bedingungen geknüpft, auf die die Regierung keinen Einfluss hat, gibt emeritierte Direktor des Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln, Wolfgang Streeck, zu bedenken. Zudem seien mit neuen Schulden allein längst nicht alle Probleme gelöst.
Jürgen Zurheide: Herr Streeck, wir diskutieren gerade in Deutschland wieder heftig über Schuldenbremse oder möglicherweise die Abschaffung für Investitionen. Wie groß ist der Investitionsbedarf in Deutschland?
Wolfgang Streeck: Also daran kann ja gar kein Zweifel bestehen: Auf kommunaler Ebene gibt es einen gewaltigen Investitionsstau. Wir hier im Rheinland sehen ja auch, wie die Brücken anfangen, für Lastwagen gar nicht mehr passierbar zu sein, weil man die nachrüsten muss. Wir haben in den Jahren der neoliberalen Revolution, wenn man das so nennen will, einfach vergessen, dass Dinge laufend gewartet werden müssen, um auf diese Weise Geld zu sparen. Die Bahn ist ein wunderbares Beispiel dafür, da gibt es einen Investitionsstau von Ausmaßen, die man überhaupt nicht beschreiben kann, weil die Stellwerke nicht mehr funktionieren, die Technologie veraltet ist und so weiter.
Funktionierend Infrastruktur ist essentiell für Privatwirtschaft
Zurheide: Wo sind die Ursachen für diese Entwicklung? Der Staat, Sie haben es gerade angesprochen, hat sich zurückgezogen, hat sich selbst der Steuereinnahmen beraubt. Warum ist das so passiert?
Streeck: Na ja, es gibt generell einen Kampf zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor über die Frage, wie groß der Erstere sein soll auf Kosten des Letzteren. Wenn man besteuert, dann nimmt man natürlich privaten Investoren etwas weg und steckt es in öffentliche Investitionen. Damit schrumpfen Gewinnmöglichkeiten. Andererseits, langfristig, wenn man eine gute Infrastruktur öffentlich zur Verfügung stellt, können natürlich Unternehmen diese nutzen, um dann zu wachsen und auch ihre Gewinnbedürfnisse zu befriedigen. Das ist eine ganz schwierige Entscheidung.
Prof. Dr. Wolfgang Streeck, Soziologe und emeritierter Direktor am Max-Planck-Institut in Köln
Es wurde vergessen, dass öffentliche Investitionen Geld sparen, sagt der Soziologe Wolfgang Streeck (imago / Reiner Zensen)
In Deutschland und in fast allen vergleichbaren Ländern sind in den letzten zehn, 20, 30 Jahren die Entscheidungen immer in die Richtung gefallen, lasst uns den Staat einsparen, einschnüren und so viel wie möglich den privaten Sektor machen. Das hat eben dazu geführt, dass dann diese essentiellen Voraussetzungen für privates Wirtschaften, nämlich eine funktionierende Infrastruktur, dass es an der zunehmend fehlt – und jetzt muss nachgeholt werden.
Zurheide: Das Argument war natürlich, Privat kann es besser als Staat, der ist ineffizient. Ist das wirklich so falsch, wie Sie sagen?
Streeck: Das ist nicht immer falsch, aber es gibt einen weiten Bereich wirtschaftlicher Tätigkeit, in dem Privat es nicht besser kann, weil der Versuch, hohe Rendite aus bestimmten Projekten herauszuholen, die Qualität dieser Projekte schädigt. Zum Beispiel Eisenbahn, Transportwege und so weiter, da ist es erforderlich, dass man langfristig investiert mit langfristigen Renditen, die aber dann nicht so hoch sein können, wie die kurzfristigen Renditen, die man rausholen kann, wenn man richtige Shareholdervalue-Kriterien anlegt.
Zinsen müssen weiterhin gering bleiben
Zurheide: Was braucht Deutschland? Wir gehen jetzt in eine Phase, wo die Parteien sich gerade neu sortieren, auf der SPD-Seite passiert das, die CDU sortiert sich auch neu. Was bräuchte Deutschland aus Ihrer Sicht im Moment wirtschaftspolitisch?
Streeck: Wenn wir das Politikangebot anschauen, dann scheint sich jetzt langsam ein Konsens einzuspielen, dass man von der schwarzen Null auch abweichen kann, um den ungeheuren Investitionsbedarf zu decken. Dazu muss man nun sagen, dass Staaten, die sich verschulden, darauf hoffen müssen, dass die Zinsen der Refinanzierung ihrer Verschuldung weiterhin gering bleiben und dass die Kreditgeber nicht nervös werden, wenn die Verschuldung ein bestimmtes Niveau überschritten hat. Wo das Niveau ist, weiß kein Mensch. Dann kann es nämlich passieren, dass die Gesamtheit der staatlichen Tätigkeit und der Umfang von den Kreditgebern diktiert werden, die darauf bestehen, dass man die Kreditwürdigkeit des Landes durch sparsame Politik verteidigt. So war das ja auch sozusagen vor 2008.
Zurheide: Was muss denn zum Beispiel in den Städten und Gemeinden passieren, wenn man an Quartiere denkt, wie kann da eine Änderung herbeigeführt wird, das kann ja kein Staat zentral verordnen, und wie kann man dafür sorgen, dass das Geld vernünftig ausgegeben wird, unterstellt, da ist jetzt wirklich viel Geld, dass es nicht mit der Gießkanne in falsche Projekte fließt.
Streeck: Ja, das Problem ist ein Dezentralisierungsproblem. In Essen-Nord bestehen andere Probleme als im Kölner Norden. Dann kann man eigentlich nicht auf die eingehen, in dem man im Bund, im Land ein gleichförmiges Programm für alle Gemeinden vorschreibt, sondern im Grunde genommen müsste es darum gehen, die Selbstverwaltungsfähigkeit und die politische Verantwortlichkeit von lokalen Regierungen zu stärken, sodass die zum Beispiel auch dann hinterher zur Verantwortung gezogen werden können, wenn bestimmte Projekte und Programme nicht funktionieren.
Wir haben ja hier in Nordrhein-Westfalen lange die SPD-Regierung unter Kraft gehabt. Kraft hat eigentlich überhaupt nichts bewirkt bei den Problemen dieses Landes, aber man konnte sie eigentlich nicht wirklich zur Rechenschaft ziehen, weil das ganze Land zu unterschiedlich ist. Wenn im Ruhrgebiet etwas nicht geklappt hat, dann heißt das nicht, dass im Sauerland nicht vielleicht doch etwas geklappt hätte.
Verantwortlichkeit auf unterer Ebene stärken
Zurheide: Der Druck, der im Moment kommt, weil Menschen von Politik enttäuscht sind, der kann sich Bahn brechen in Richtung AfD, ich unterstelle mal, dass das nicht Ihre präferierte Haltung ist. Wie können Menschen wieder Vertrauen kriegen in die Regelungsfähigkeit, dass der Staat so etwas schafft?
Streeck: Wenn das Problem so einfach zu beantworten wäre, dann hätte man es wahrscheinlich schon beantwortet, aber wir sehen in allen reichen, kapitalistischen, industriellen Ländern den Trend zu einer Situation, wo die Parteien der Mitte keine glaubwürdige Antwort auf die sich entwickelnden Probleme mehr geben können und wo sie auch davon absehen, die Menschen, die unter diesen Problemen leiden, sozusagen privilegiert zu vertreten. Sodass dann Vertretungslücken innerhalb der politischen Gesellschaft stattfinden, in die Kräfte hineinbrechen, die man da lieber nicht sehen würde. Dann stellt sich die Frage, wie man mit den Gelbwesten, mit Le Pen, mit den Arbeitern in Mittelengland, die Boris Johnson wählen, mit den Leuten, die für die AfD in Deutschland stimmen, was macht man mit denen?
Dieser Anteil des Unmuts in der Wählerschaft, der sich von zehn bis 20 bis auf 25 Prozent erhöhen kann, nehmen Sie Frankreich – wie begegnet man dem? Ich glaube, dass es eine demokratische Antwort darauf nicht geben kann, die darin besteht, dass man diese Leute nun alle als Faschisten einfach abtut und sagt, mit denen wollen wir nichts mehr zu tun haben. Meiner Meinung nach muss die Repräsentationslücke, die da entstanden ist, durch progressive, konstruktive Politik gefüllt werden. Und da setze ich voraus, dass das eigentlich nur geschehen kann, wenn die politische Verantwortlichkeit auf unterer Ebene gestärkt wird, sodass Regierungen, lokale Regierungen, die es nicht bringen, dann auch zur Verantwortung gezogen werden können.
Und ich füge hinzu, dass in einer demokratischen Politik ohne Druck von unten schon deshalb nichts funktionieren kann, weil die Probleme, mit denen sich Parteien und Regierungen beschäftigen, so vielfältig sind, dass deren Priorität sozusagen nur durch politische Mobilisierung neu organisiert werden kann. Sodass als erstes, sagen wir, die Probleme der abgehängten Regionen auf den Tisch geraten und nicht irgendwelche Steuersenkungen für Start-up-Unternehmen in irgendeiner Großstadt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.