Es müssten flächendeckend Beratungsstellen geschaffen werden - und zwar für Opfer wie Täter, so der Leiter der Beratungsstelle "Stop Stalking", Wolf Ortiz-Müller, im Deutschlandfunk. Täter handelten häufig in einer psychischen Ausnahmesituation, deshalb brauche es auch für sie mehr Angebote."Was wir beobachten: Opfer geht es gar nicht primär um Bestrafung, sondern sie wollen Ruhe und Frieden haben." Aber natürlich brauche es auch Gesetze, um die Täter bestrafen zu können.
Der Entwurf von Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) sieht vor, dass die Opfer nicht länger nachweisen müssen, dass durch den Stalker eine Änderung der Lebensumstände aufgezwungen und etwa ein Umzug notwendig wurde. Künftig reicht, dass er die Lebensgestaltung schwerwiegend beeinträchtigt. Der Begriff "schwerwiegende Beeinträchtigung" sei allerdings einer von vielen "unbestimmten Rechtsbegriffen", so Ortiz-Müller.
"Neue Möglichkeiten des Cyberstalkings"
Ob künftig mehr Verurteilungen möglich sind, bleibe abzuwarten. In der Vergangenheit hätten die Gerichte "die Messlatte hochgelegt, dass eine Verurteilung kaum möglich ist". Wichtig sei es, den Tätern schnell zu zeigen, "wir haben Euch auf dem Schirm".
Ein weiteres Problem des aktuellen Entwurfs stellen laut dem Stalking-Experten die "neuen Möglichkeiten des Cyberstalkings" dar. Für Phänomene wie das Verfolgen einer Person über einen GPS-Tracker oder Spysoftware auf dem Smartphone müsse der Gesetzgeber erst noch präzise Instrumente finden.
Das Interview in voller Länge:
Thielko Grieß: Er ist überzeugt und ganz sicher: Diese Frau ist die Frau meines Lebens. Aber sie reagiert auf sein Werben nicht. Er schickt ihr Nachrichten, er schickt ihr Blumen, er ruft sie an, er wartet auf sie vor der Tür, wird immer zudringlicher, und dann veröffentlicht er auch Bilder von ihr im Internet. Das ist, ganz grob skizziert, ein Fall von Stalking, des sich im Wortsinn Heranpirschens, des geplanten wiederholten Auflauerns und Belästigens anderer. Sehr oft, nicht immer, aber sehr oft sind Stalker Männer. Sehr oft sind Gestalkte Frauen. Und Stalking, ob nun leibhaftig oder digital, ist seit neun Jahren strafbar in Deutschland. Vor zwei Jahren gab es nach Polizeistatistiken etwa 20.000 Verdächtige. Die Zahl der Verurteilungen liegt aber bei rund einem Prozent, etwa 200 Verurteilten.
Bislang ist die Rechtslage so: Die Gestalkte muss nachweisen, dass der Stalker die Lebensumstände des Opfers geändert hat, verändert hat, negativ verändert hat. Das Opfer hat zum Beispiel umziehen müssen, weil der Druck zu groß geworden ist. Die Große Koalition hat das als Missstand erkannt, hat vereinbart, dies zu ändern. Nun gibt es seit kurzem einen Gesetzentwurf. Ihm zufolge muss ein Opfer nicht erst umziehen, also handeln und reagieren, sondern es reicht schon, dass ein Stalker das Leben seines Opfers schwerwiegend beeinträchtigt.
Am Telefon begrüße ich jetzt Wolf Ortiz-Müller, Psychologe bei der Berliner Beratungsstelle "Stop Stalking". Im vergangenen Jahr hat diese Beratungsstelle etwa 500 Opfer beraten und rund 120 Täter. Herr Ortiz-Müller, guten Morgen!
Wolf Ortiz-Müller: Guten Morgen, Herr Grieß.
Grieß: Ein Gesetzentwurf, der es leichter machen soll, Straftäter zu bestrafen, Stalker zu bestrafen. Ist das gelungen?
Ortiz-Müller: Wir begrüßen auf alle Fälle alle Maßnahmen, die dazu geeignet sind, den Opferschutz wirklich zu stärken, und wie Sie gesagt haben ist Stalking so ein weit verbreitetes Phänomen und verursacht so viel Leid in der Gesellschaft, dass da auch ein Handlungsbedarf besteht. Aber wie Sie auch in Ihrer Frage schon angelegt haben, gibt es gewisse Zweifel, ob es durch den vorliegenden Gesetzentwurf tatsächlich dazu führen kann.
Grieß: Welche Zweifel haben Sie?
Ortiz-Müller: Sie haben ja gesagt - und da schlich sich schon wieder eine Ungenauigkeit ein -, dass es reicht, dass der Stalker die Lebensgestaltung schwerwiegend beeinträchtigt. Das war ja schon die bisherige Formulierung. Nun soll dazukommen, dass es geeignet ist, dass er die Lebensgestaltung schwerwiegend beeinträchtigt, und da kommen sehr viele unbestimmte Rechtsbegriffe ins Spiel. Wie will man genau beurteilen, wann etwas geeignet ist?
Grieß: Für so was gibt es ja Gerichte.
Ortiz-Müller: Für so etwas gibt es Gerichte. Die Gerichte haben bisher auch diesen schwierigen Begriff der "schwerwiegenden Beeinträchtigung der Lebensgestaltung", die Messlatte dafür so hochgelegt, dass kaum eine Strafverurteilung möglich war. Deswegen würden wir - aber ich bin Psychologe und kein Jurist - sagen, das wäre das Stellrad, an dem man etwas ändern könnte, dass es deutlicher wird, dass Opfer bereits dann, wenn sie morgens nicht mehr wissen, ob sie gut vor die Haustür gehen können, wie sie zum Arbeitsplatz kommen, dass sie bereits dann berücksichtigt werden, dass diese Verhaltensweise die Lebensgestaltung tatsächlich erheblich zumindest beeinträchtigen.
"Den Opfern liegt es nicht primär an Bestrafung"
Grieß: Schauen wir auf die Perspektive der Opfer, Herr Ortiz-Müller, die ja auch den Weg finden unter anderem in Ihre Beratungsstelle. Hülfe ein solch geänderter Gesetzestext Opfern in irgendeiner Weise? Gäbe es zum Beispiel, erwarten Sie mehr Verurteilungen?
Ortiz-Müller: Da muss man wirklich auf die Umsetzung eines solchen Gesetzes in der Praxis warten. Das was wir beobachten: Wenn die Opfer zu uns kommen in die Beratungsstelle, dann liegt ihnen gar nicht primär an einer Bestrafung der Täter, an einer Bestrafung von Menschen, mit denen sie vielleicht auch eine Liebesbeziehung hatten. Die wollen einfach ihre Ruhe haben und die wollen ihren Frieden vor diesen Menschen haben. Das heißt, dazu braucht es einerseits ein Beratungsangebot für die Opfer, aber auch viel mehr Beratungsangebote für die Täter. Das ist das Problem, dass Berlin oder Bremen oder eine Einrichtung in Landau in der Pfalz wirklich Inseln in einem Meer weißer Flecken sind, was die gezielte Unterstützung und Beratung sowohl von Stalking-Opfern als auch von Stalking-Tätern angeht.
Grieß: Sie sagen, die Lösung liegt eigentlich im Gespräch mit Opfern und Tätern, natürlich getrennt voneinander im Regelfall, nehme ich an, und da gibt es nicht genügend Angebote.
Ortiz-Müller: So würde ich das sagen. Natürlich brauchen wir Gesetze. Natürlich müssen wir auch Weichen stellen, dass Tätern Druck gemacht werden kann. Natürlich sollen auch Täter, die schwerwiegende Taten begehen, bestraft werden können. Aber wir wissen das von anderen Tatbeständen, sexueller Missbrauch an Kindern, von häuslicher Gewalt, dass Täter in dem Bereich häufig in einer psychischen Ausnahmesituation handeln, dass sie gar nicht an die Konsequenzen denken. Deswegen müssen Beratungsangebote für Täter und selbstverständlich für Opfer flächendeckend geschaffen werden, was in anderen Bereichen tatsächlich schon der Fall ist.
Grieß: Muss nicht auch beides zusammen möglich sein, Angebote der Therapie für beide Seiten, sofern gewünscht und notwendig, aber eben doch auch eine Verurteilung, denn Fehlverhalten, strafbares Fehlverhalten gehört verurteilt?
Ortiz-Müller: Da bin ich vollkommen an Ihrer Seite. Es muss beides geben und Gesetze müssen einerseits eine Norm verdeutlichen, dass wir den Opfern sagen können, sie sind ein Opfer einer Straftat geworden, dass wir den Tätern sagen können, vielleicht ist das irgendwie nachvollziehbar, dass Sie gekränkt sind, aber Sie dürfen das und das nicht tun, und wenn sie daraufhin nicht aufhören, dann müssen sie verurteilt werden können.
"Aktiv auf Täter zugehen"
Grieß: Diese nun etwas gesenkten - so ist ja zumindest der Plan; es ist ein Gesetzentwurf, das wollen wir noch einmal unterstreichen -, dieses Vorhaben, glauben Sie, dass das eine größere Abschreckung ausüben wird auf Täter, auf Stalker?
Ortiz-Müller: Ich glaube, dass wenige Gesetze abschreckend wirken in diesem Sinn der Generalprävention, dass sich jemand überlegt, oh, was steht denn da für ein Strafmaß drauf oder so. Ich glaube, dass man einfach den Tätern sehr schnell zeigen muss, wir haben euch auf dem Schirm, dass es nicht reicht, ein Opfer macht eine Strafanzeige, ein Täter geht dann zur Vernehmung und hört dann monatelang nichts, und dann bekommt das Opfer oder der Täter ein Schreiben, das Verfahren wurde eingestellt. Das ist eine Verhöhnung der Opfer und im Zweifelsfall auch eine Bestätigung für den Täter. Deswegen finden wir eine Einrichtung wie Bremen, das dortige Stalking-Kriseninterventionsteam so wichtig, das ganz schnell nach Strafanzeige an den Täter proaktiv herangehen kann und sagen kann, hallo, kommen Sie bitte zum Gespräch.
Grieß: Herr Ortiz-Müller, in der vergangenen analogen Welt musste ein Stalker schon leibhaftig auflauern. Inzwischen hat er vielfältige digitale Möglichkeiten. Nimmt Stalking deshalb zu?
Ortiz-Müller: Es ist schwer zu beurteilen, ob es generell zunimmt. Das was wir beobachten ist sicherlich, dass es neue Möglichkeiten des Cyber-Stalkings gibt, die wir vor zehn Jahren noch gar nicht kannten, als das Gesetz gemacht wurde. Die ganze Bedeutung der sozialen Netzwerke, das immer wieder sich einloggen können über Fake-Profile, das Diskreditieren, was Sie in dem eingangs genannten Fall genannt haben, das Stellen von Bildern ins Netz sind ja Dinge, die schon relativ bekannt sind. Was neu dazukommt, das sind wirklich Maßnahmen wie zum Beispiel Verfolgen über GPS-Tracker, dass man jemanden orten kann, indem man Geräte ans Auto klemmt, oder dass man über Spy-Software auf dem Smartphone ganz viel über die Nutzung der gestalkten Person mitkriegen kann. Und dafür müsste der Gesetzgeber vielleicht auch präzise Instrumente finden, und da gibt es ein weiteres Problem in diesem neuen Gesetzentwurf.
Grieß: Das müssen wir an anderer Stelle besprechen. - Wolf Ortiz-Müller, Psychologe bei der Berliner Beratungsstelle "Stop Stalking". Wir haben gesprochen über einen Gesetzentwurf, der Stalkern mit höheren Strafen droht. Danke schön, Herr Ortiz-Müller.
Ortiz-Müller: Vielen Dank. Auf Wiederhören.
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