"Den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verleiht der Börsenverein im Jahre 1978 Astrid Lindgren."
Eigentlich war man in Frankfurt sehr stolz darauf, zum ersten Mal eine Kinderbuchautorin zu ehren. Aber dann, sehr zum Missfallen des Festkomitees, nimmt Astrid Lindgren in ihrer Dankesrede die brutalen Erziehungsmethoden der Zeit aufs Korn. Sie erzählt von einer Mutter, die ihren kleinen Jungen für etwas bestrafen will und ihn in den Garten schickt, einen Stock zu holen. Zu ihrem Entsetzen bringt er stattdessen einen Stein.
"Sie nahm ihren kleinen Sohn in die Arme und beide weinten eine Weile gemeinsam. Dann legte sie den Stein auf ein Bord in der Küche, und dort blieb er liegen als ständige Mahnung an das Versprechen, das sie sich in dieser Stunde selber gegeben hatte: Niemals Gewalt."
Praxis der elterlichen und schulischen Prügel
In ihrem Heimatland wird Lindgrens Botschaft gehört: 1979 verbietet Schweden als erstes Land der Welt per Gesetz das Schlagen von Kindern. In Deutschland dagegen prügeln Eltern noch Jahrzehnte weiter – gesetzlich erlaubt und aus tiefer Überzeugung:
"Meine Tochter hat öfter mal was auf den Hintern gekriegt, und heute ist sie 34 und sagt mir, Mama, das hat nichts geschadet, ich bin wenigstens was Anständiges geworden."
Schläge als Erziehungsmittel schienen durch die christliche Überzeugung gerechtfertigt, dass besonders der junge Mensch anfällig für Sünden sei. Gezüchtigt wurde mit der Hand, mit Stöcken, mit allem, was der Haushalt so hergab: Teppichklopfer, Gürtel, Pantoffel, Kochlöffel. Und in der Schule war es nicht anders: Die Lehrer verteilten "Backpfeifen", zogen an den Ohren oder Haaren, und der "Rohrstock" gehörte zu ihrem wichtigsten pädagogischen Handwerkszeug, erinnert sich dieser Münchener: "Der Lehrer packte einen am Handgelenk, man musste die Hand ausstrecken, und dann haute er einem auf die Handfläche, und je weiter es zu den Fingerspitzen ging, um so weher tat es."
"Züchtigungs-Paragraph" 1998 abgeändert
Es gab zwar schon seit der Aufklärung Pädagogen, die die Züchtigung ablehnten, aber die drangen nicht durch. Bis in die 1970er-Jahre blieb das Prügeln in der Schule "Gewohnheitsrecht" des Lehrers. Und die elterliche Gewalt war seit 1896 durch den Paragraphen 1631 im Bürgerlichen Gesetzbuch legitimiert: "Der Vater kann kraft des Erziehungsrechts angemessene Zuchtmittel gegen das Kind anwenden."
Der "Züchtigungs-Paragraph" wird mehrfach geändert, bis er schließlich 1998 lautet: "Entwürdigende Erziehungsmaßnahmen, insbesondere körperliche und seelische Misshandlungen, sind unzulässig."
Aber Umfragen im selben Jahr zeigen, in den Köpfen und auch in der Praxis sieht es anders aus: "Eigentlich soll man ja Kinder nicht schlagen. Bloß wenn man jetzt einem Kind was verbietet, und das Kind hört nicht – irgendwann ist dann auch der Zeitpunkt erreicht, wo man mit einem kleinen Klaps vielleicht ein bisschen nachhelfen soll."
Seit November 2000 in Kraft
Deshalb startet die erste rot-grüne Bundesregierung mit der Familienministerin Christine Bergmann (SPD) 1999 eine neue Gesetzesinitiative: "Wir beklagen immerzu mit Recht die zunehmende Gewalt in der Gesellschaft, also müssen wir auch an der untersten Stufe anfangen, nämlich in der Familie, zu sagen, wie schaffen wir es da, ohne Gewalt zu erziehen."
Am 6. Juli 2000 wird das "Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung" vom Bundestag beschlossen, am 8. November tritt es in Kraft. Neben dem bisher schon geltenden Verbot körperlicher und seelischer Misshandlungen, stellt es nun ausdrücklich fest: "Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung."
Um das mit Leben zu füllen und auch, weil Gewalt gegen Kinder oft durch Überforderung zustande kommt, beginnt im September 2000 zusätzlich eine Informationskampagne: "Wir wollen Eltern in ihrer Erziehungskompetenz stärken, ihnen auch Hilfe und Unterstützung in Erziehungsfragen anbieten und ihnen auch Wege zur gewaltfreien Konfliktlösung aufzeigen."
Kinderrechte sind weiter Thema
Und das ist in vielen Fällen sicher gelungen. Dennoch führt die Kriminalstatistik von 2019 über 4.000 Kindesmisshandlungen auf, fast 16.000 Fälle von sexueller Gewalt, mehr als 100 getötete Kinder – und die Dunkelziffer ist hoch. Deshalb will die Bundesfamilienministerin Franziska Giffey den Weg der praktischen Erziehungshilfen weitergehen, aber gleichzeitig Kinderrechte noch verbindlicher festschreiben: "Ich finde eben auch, dass es wichtig ist, ihnen in unserer deutschen Verfassung Rechte zu gewähren und ihre Rechte auch entsprechend zu formulieren."