Jasper Barenberg: Nicht mehr um Heilung geht es in der Palliativmedizin, sondern darum, Schmerzen zu lindern, Lebensqualität zu erhalten, wenn Menschen schwer oder unheilbar krank sind. Dann sind Medikamente wichtig, aber auch psychologische und spirituelle Begleitung. All das bietet die Hospizbewegung an, in stationären Einrichtungen und mit ambulanten Diensten. Das Angebot ist in den vergangenen Jahren enorm gewachsen. Weitere Verbesserungen will die Bundesregierung jetzt mit einem Gesetz erreichen.
Am Telefon ist Michael de Ridder, Internist, Notfallmediziner, bis Ende 2013 außerdem Leiter des Vivantes-Hospiz in Berlin. Schönen guten Abend, Herr de Ridder.
Michael de Ridder: Schönen guten Abend!
Barenberg: Wie weit sind wir in Deutschland von einer flächendeckenden guten Versorgung mit Angeboten der Palliativmedizin noch entfernt?
de Ridder: Grundsätzlich ist noch ein gewaltiges Stück des Weges zu gehen. Wir haben eine sehr unterschiedliche Versorgungslandschaft. In den Metropolen, zum Beispiel in Berlin, haben wir vergleichsweise gute und dichte Angebote. Wir haben in Berlin mittlerweile 14 Hospize beispielsweise, wir haben diverse Palliativstationen. Davon kann aber nicht überall die Rede sein. Beispielsweise sind mir Situationen bekannt in der Elbmündung, etwa in Dithmarschen oder auch in Thüringen, wo hoch engagierte Menschen als Ehrenamtler sich darum bemühen, eine bessere Palliativversorgung in dem Sinne herzustellen, als sie zum Beispiel ein Hospiz gründen wollen und mit Ärzten im Gespräch sind, aber auch mit anderen, wie man hier die Versorgung verbessern kann.
Das andere ist natürlich: Flächendeckend spielt eine andere Sache eine Rolle, nämlich wer hat eigentlich Anspruch auf eine Palliativversorgung. Fakt ist ja, dass derzeit nahezu in allen Hospizen allein Tumorpatienten als Palliativpatienten aufgenommen werden, und es gibt natürlich eine Reihe anderer Erkrankungen. Davon ist leider im Gesetz überhaupt nicht die Rede und das möchte ich kritisieren, dass auch Patienten mit aussichtslosen terminalen Herzerkrankungen beispielsweise, Lungenerkrankungen, Erkrankungen des Bewegungsapparates durchaus Patienten sein können, die eine spezialisierte Palliativversorgung brauchen. Aber davon ist derzeit überhaupt nicht die Rede, dass die auch in den Genuss einer solchen Versorgung kommen können.
Barenberg: Bleiben wir gleich bei dem Punkt. Liegt das, was Sie gerade geschildert haben, dass es vorwiegend um Krebspatienten, um Tumorpatienten, liegt das daran, dass die Betroffenen nicht wissen, dass es auch Angebote gibt für andere Erkrankungen, oder liegt das tatsächlich an dem mangelnden Angebot selbst?
de Ridder: Nein. Das liegt an dem mangelnden Angebot selbst. Es gibt für Patienten, die etwa ein schweres Lungenemphysem haben und kaum fünf Schritte hintereinander gehen können, nicht die Möglichkeit, sich ohne weiteres in ein Hospiz aufnehmen zu lassen, und die Vereinbarungen sind faktisch so, da ist auch ganz wenig bisher darüber überhaupt nachgedacht worden, und ich glaube auch, da bestehen erhebliche Berührungsängste, vor allen Dingen von Seiten der Krankenkassen, weil sich der Kreis der Anspruchsberechtigten - die Aufnahme in einem Hospiz findet ja nun mal auf einem anderen Wege statt als im Pflegeheim. Das heißt, hier muss ein kleines Gutachten erstellt werden und hier muss der Arzt deutlich machen, dass hier eine ambulante Versorgung nicht möglich ist, dass eine stationäre Versorgung etwa indiziert ist im Hospiz, weil soziale Isolation hier überwunden werden muss oder weil der Pflegeaufwand besonders hoch ist -, das sind die Voraussetzungen, die jemand heute erfüllen muss, um einen Hospizplatz zu bekommen, und gleichzeitig gilt dann ein solches Gutachten für die Krankenkassen als Kostenübernahme. Und wenn das jetzt ausgeweitet wird auf andere terminale Erkrankungen, dann kann man sich natürlich vorstellen, dass die Krankenkassen hier, weil auf sie ein enormer Kostenschub zukommt und auch überhaupt unsere Hospizlandschaft sich deutlich verändern würde, wir noch wesentlich mehr Hospize brauchen, dass das zu einer erheblichen Debatte führen würde und auch zu erheblichem Mehraufwand.
Barenberg: Liegt das nicht genau im Interesse dieses Gesetzentwurfes? Schließlich ist dort ja vorgesehen, dass palliativmedizinische Angebote ein Regelangebot der Krankenkassen werden. Insofern liegt da ja schon so etwas wie eine Ausweitung der Möglichkeiten inbegriffen.
de Ridder: Ja, ich bin da ein bisschen misstrauisch. Wenn das so sein sollte, dann würde ich das sehr begrüßen, wie ja überhaupt der Begriff Palliativmedizin etwas beinhaltet, was weit über das hinausgeht, was wir als Palliativmedizin im engeren Sinne bezeichnen, die sich ja nur auf das Lebensende bezieht. Der Palliativgedanke ist ja ein Gedanke, der in unserer Medizin vollkommen untergegangen ist, weil die kurativen Angebote ja alles dominieren. Bei der kurativen Medizin ist das Therapieziel Heilung beziehungsweise Überwindung der Krankheit, während bei der Palliativmedizin ist das Therapieziel Wohlergehen des Patienten, Symptomfreiheit, unabhängig davon, wie lange der Patient noch lebt.
"Vernetzung von Pflegediensten und Palliativmedizin ist enorm wichtig"
Barenberg: Wir haben über einige Aspekte des Gesetzes jetzt schon gesprochen. Für wie wichtig halten Sie, was dort auch vorgesehen ist, dass nämlich Pflegedienste insbesondere verpflichtet werden sollen, animiert werden sollen, intensiver mit Einrichtungen der Hospizbewegung, mit Palliativmedizinern zusammenzuarbeiten?
de Ridder: Das ist ganz bedeutsam. Eine bessere Vernetzung ist wichtig sowohl der palliativen Angebote, der hospizlichen Angebote, eine bessere Vernetzung sowohl mit den Krankenhäusern wie auch vor allen Dingen mit den Einrichtungen der stationären Pflege. Sogenannte Palliative-Care-Angebote in Pflegeeinrichtungen wirksam werden zu lassen, ist sehr, sehr wichtig, weil hier viele Patienten leben, die mit erheblichen Krankheiten und Symptomen belastet sind und für die die Regelversorgung im Pflegeheim nicht ausreichend ist, die aber keine andere Möglichkeit haben, dann adäquat versorgt zu werden. Die aufsuchende Arbeit, sage ich mal, von Palliativ-Care-Teams in den Pflegeeinrichtungen wäre von großer Bedeutung, ist auch im Gesetz niedergelegt, und das ist ein sehr guter Schritt.
Barenberg: Sie haben von den kurativen Angeboten gesprochen und von dem, was demgegenüber die Palliativmedizin leisten kann. Wodurch zeichnet sich denn im Kern diese gute palliative Begleitung und Versorgung aus?
de Ridder: Gute Palliativmedizin - ich beziehe es jetzt mal auf hospizliche Arbeit - heißt, dass auf der Grundlage bester ärztlicher und pflegerischer Versorgung die Kommunikation und Zuwendung zum sterbenden Menschen im Mittelpunkt des gesamten Konzeptes steht.
Barenberg: Lassen Sie uns zum Schluss, Michael de Ridder, noch einen weiteren Aspekt hinzunehmen. Es gibt in der laufenden Debatte rund um die Sterbehilfe ja auch immer wieder das Argument, durchaus von vielen Politikern vorgetragen, dass eine flächendeckende, wirklich gute flächendeckende Palliativversorgung die ganze Debatte um Sterbehilfe und den ärztlich assistierten Suizid überflüssig, hinfällig machen würde.
de Ridder: Eindeutig nein. Es ist von allen, nahezu allen Palliativmedizinern eindeutig gesagt worden und auch von den Meinungsbildnern vor allen Dingen, auch von Engländern und anderen, die in dieser Debatte eine wichtige Rolle spielen, dass Palliativmedizin niemals alle Symptome, niemals alle Beeinträchtigungen am Lebensende wird lindern können oder sogar aufheben können. Deswegen wird es immer Patienten geben, die von den Möglichkeiten der Palliativmedizin nicht erreicht werden. Das ist der eine Aspekt.
Der andere Aspekt ist natürlich der: Es ist ganz bedeutsam, darauf hinzuweisen, dass viele Patienten, ich würde sagen die Mehrheit unserer Bevölkerung, über den Wert und die Reichweite der Palliativmedizin nicht oder nicht ausreichend informiert ist. Das darf natürlich nicht sein, dass jemand Suizidhilfe in Anspruch nehmen will aufgrund der Tatsache, dass er nicht richtig darüber informiert ist, was ihm eigentlich die Palliativmedizin anbieten könnte. Dafür gibt es Beispiele. Konkret gesagt: Ich würde persönlich glauben, es könnten mindestens die Hälfte der Patienten, die in die Schweiz fahren und dort Suizidhilfe in Anspruch nehmen, hier bei uns unter legalen Bedingungen im Übrigen sterben und ihr Leben zu Ende bringen durch die Mittel und Methoden inklusive auch der palliativen Sedierung, welches eine spezielle Form der Symptombekämpfung ist bei ganz besonders ausgeprägtem Leiden. Wenn dies zur Anwendung käme, wenn Patienten darüber informiert wären, würden wir hier einen erheblichen Rückgang der Suizidwilligen finden aus meiner Sicht. Aber niemals würden wir alle erreichen.
Barenberg: Und dann sollte es die Möglichkeit geben, so habe ich Sie bisher verstanden in dem, was Sie beispielsweise veröffentlicht haben, dass Ärzte, die diese Patienten gut kennen, die Möglichkeit haben, legal zu helfen, wenn diese Menschen sterben wollen.
de Ridder: Eindeutig ja, und deswegen ist für mich die Palliativmedizin ein primäres Anliegen unserer Gesellschaft. Aber gleichzeitig steht am Ende des Spektrums auf der anderen Seite in aussichtslosen Fällen, in ganz besonderen Fällen - Sie können ja auch niemanden dazu nötigen, palliativmedizinische Angebote anzunehmen. Es ist ja denkbar, dass jemand sagt, ich finde das alles sehr gut erklärt und dargestellt, aber ich möchte mein Leiden nicht bis zum Ende erleben. Das kann ja ein plausibles Anliegen sein und dem sollte der Arzt auch nachkommen dürfen. Allerdings muss sichergestellt sein, dass sowohl der Wunsch nachhaltig, wirklich frei verantwortlich gefasst worden ist, oder dieser Wille, und dass der Patient ansonsten über alle Möglichkeiten, die ihm alternativ zur Verfügung stehen, gut informiert ist.
Barenberg: Der Arzt Michael de Ridder. Das Gespräch haben wir vor dieser Sendung aufgezeichnet.
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